Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe). Marcel Felder
machen, was Theaterspiel und Schauspielkunst meinen. Das Kapitel will mithin Hilfestellung zum Verständnis von Spiel sein und auch als Weg dienen, mit einer Gruppe in theatrale Prozesse einzusteigen – Basisarbeit für eine nachfolgende Produktion und Grundlage für das Verständnis dessen, was das Endprodukt auf der Bühne letztlich ausmacht.
Die Kapitel fünf bis sieben richten sich explizit an Spielleitende. Während sich Kapitel fünf mit zielgruppenbezogenen thematischen und dramaturgischen Fragen und den Wegen ihrer Bearbeitung beschäftigt, untersucht Kapitel sechs Grundverständnisse des Anleitens im Spannungsfeld von Leiten und Lassen. Kapitel sieben schliesslich zeigt Modelle, die bei der Planung und Realisierung eines Spielvorhabens mit einer Klasse dienlich sein können.
Das ‹Studienbuch Theaterpädagogik› ist – obwohl einzelne konkrete Spielimpulse eingestreut sind – keine Spiel- und auch keine Rezeptsammlung. Es ist umgekehrt aber auch kein reines Theoriebuch. Vielmehr sollen Grundlagen der Spielleitung aufbereitet und die Lesenden herausgefordert werden, ihre eigene Position zu finden, eigene Versuche zu machen und eigene Formen zu erproben.
Theater kann nie endgültig definiert und umschrieben sein, fast alles ist möglich auf der Bühne, jede Aufführung erfindet Theater neu. Die Publikation will Herausforderung sein, sich als Spielleiterin oder Spielleiter immer wieder Fragen zu stellen, Unsicherheit und Unplanbarkeit zuzulassen sowie zur Suche des eigenen Weges und der eigenen Form ermuntern. Das Buch versucht dies so konkret wie möglich, mitunter auch mit Beispielen aus der Praxis, zu tun. Wenn dabei einzelne Themen, Ansätze und Darlegungen in unterschiedlichen Kontexten und Ebenen der Vertiefung in mehreren Kapiteln wieder aufscheinen, so zeigt dies die Vernetzung und Ganzheitlichkeit des Theaters einerseits und die Wichtigkeit einzelner Ansätze und Gedankengänge bei den einzelnen Autorinnen und Autoren andererseits.
Was für jedes Theaterbuch, für jede Spielsammlung gilt: Es kann die persönliche Spiel- und Leitungserfahrung nicht ersetzen, es kann höchstens helfen, die Prozesse und Erfahrungen begreifbar und durchschaubar zu machen. In diesem Sinne will das Studienbuch auch Anregung zu eigenen Spielversuchen, zur persönlichen Spielerfahrung und zur Innovation sein.
Was die vorliegende Publikation hoffentlich zu zeigen vermag: dass Theaterspielen –auch oder gerade mit Kindern und Jugendlichen – ein komplexes Gebilde aus mannigfaltigen Komponenten ist, dass es kein beiläufiges oder zufälliges Produkt, sondern ein gearbeitetes, sprich: bewusst gemachtes, gestaltetes, hinterfragtes Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung ist.
Wir hoffen, Anregungen und Hilfestellungen für den eigenen Weg zu geben. Auf dass Theater ein spannendes und innovatives Medium der Auseinandersetzung mit sich und einer heutigen Welt ist und bleibt!
Das Autorenteam
Das Autorenteam dankt Andi Thürig, Dozent für Theaterpädagogik an der PH Zürich, für seinen Textbeitrag im Kapitel 4 und Stéphanie Chassaing, Administrative Assistentin der Professur Kulturvermittlung und Theaterpädagogik an der PH FHNW, für das Zusammenführen und erste Redigieren der Manuskripte.
1.Einführung in die Theaterpädagogik
von Roger Lille
Die Geschichte der Theaterpädagogik lässt sich auf unterschiedliche Art erzählen. Je nach Sichtweise ist Theaterpädagogik schon einige hundert Jahre alt oder aber erst vor noch nicht allzu langer Zeit mündig geworden. Versteht man darunter schwergewichtig das Theaterspiel in der Schule, so kann man auf eine rund 500-jährige Geschichte des Schulspiels oder Schultheaters zurückblicken mit grossartigen Inszenierungen, mit Weihnachts- und Osterspielen und Klassikerinszenierungen, und – etwas kritisch angemerkt der Nachahmung des grossen, vorbildhaften professionellen Theaters mit seinen Stars und Musterschülern. Theatrale Glanzlichter der Kulturgeschichte also, auch auf der Bühne der Schulaula. Öffentliche Visitenkarten für deutliche Sprache und laute Stimme, früher da und dort auch für Zucht und Ordnung, immer aber auch für Zusammenspiel und Gemeinschaftswerk.
Allerdings gibt es den Begriff ‹Theaterpädagogik› noch keine 50 Jahre, und noch Ende der 1990er-Jahre musste manch ein Theaterpädagoge seine Arbeit – und deren Sinn – ausführlich erklären.
Heute hat sich der Begriff durchgesetzt und ist mehrheitlich etabliert, auch wenn die konkreten Vorstellungen, was mit ihm gemeint ist, noch immer diffus sind und auseinandergehen – und dies selbst bei Theaterpädagoginnen und -pädagogen.
Einigkeit herrscht immerhin darin, dass unter Theaterpädagogik die Theaterarbeit mit nicht ausgebildeten Schauspielenden verstanden wird, allerdings im ganzen Spektrum von Regie bis zu Spielleitung, von der Stückerarbeitung bis zur gruppendynamischen Spielstunde oder dem Rollenspiel im Dienste der Krisenintervention.
Die Schwierigkeit einer Definition liegt nicht nur darin, dass es unterschiedliche Ursprünge gibt, sondern vielmehr darin, dass es nicht nur um eine reine terminologische Klärung geht, sondern gleichzeitig auch um eine Sache und deren Auslegung und Interpretation.
Die heutige Theaterpädagogik zeichnet sich denn auch durch eine Vielfalt von Ansätzen und Zugängen, von Methoden und Einsatzgebieten aus.
Theaterpädagogik findet sich sowohl im Umfeld von Theaterhäusern und freien Gruppen als auch im pädagogisch-schulischen Kontext, in der Theaterarbeit mit Amateuren, in der Erwachsenenbildung als Verhaltenstraining, als Managementschulung und Unternehmenstheater und im sozialen Umfeld in der Arbeit mit Randgruppen, Aussenseitern, sozialen Minderheiten etc.
Es gibt Theater mit Kindern und es gibt Jugendclubs, Theater mit Senioren und Arbeitslosen, mit Gefängnisinsassen, Lehrlingen und Lehrern; theaterpädagogische Ansätze gibt es in therapeutischen Settings (z. B. Psychodrama) und in Berufstrainings, es gibt Bibliodrama und Wissenschaftstheater bis hin zu Formen der Animation in der Tourismusbranche oder dem Theatersport.
Im engeren, auf Theater fokussierten Bereich, lassen sich zwei Grundrichtungen theaterpädagogischer Arbeitsfelder definieren:
–Etliche Theaterpädagogen und -pädagoginnen arbeiten an Theaterhäusern oder sind im Bereich der freien professionellen Kinder- und Jugendtheaterszene engagiert. Hier geht es schwergewichtig um die Begleitung von Aufführungen. Theaterpädagogen entwickeln dabei zuhanden der Lehrpersonen Materialien oder Formate (z. B. Spielstunden) für die Vor- und Nachbereitung von Aufführungsbesuchen von Kindern und Jugendlichen. Oder sie arbeiten mit theaterpädagogischen Methoden selber mit Klassen hinführend und einleitend auf den Aufführungsbesuch hin bzw. nachbereitend, nach demselben. Nicht selten steht dabei die Arbeit auch unter dem Druck von Zuschauerakquirierung. Theaterpädagogischer Erfolg wird dann an den Besucherzahlen oder verkauften Vorstellungen gemessen.
Im Zentrum dieses Arbeitsfeldes steht also eine Inszenierung mit professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern, und die Arbeit liesse sich auch mit dem Begriff der ‹Theatervermittlung› umschreiben. Diese Vermittlung kann – muss aber nicht – mit theatralen Mitteln, also theaterpädagogisch, erfolgen.
–Im Zentrum der zweiten Grundrichtung steht die direkte Theaterarbeit mit einer Zielgruppe ohne vorgegebenen Bezug zu einer Inszenierung, einem Thema oder Ähnlichem. Die Arbeit kann, muss aber nicht, auf ein soziales, kommunikatives Ziel ausgerichtet sein.
Diese Form ist meist mit der pädagogisch-schulischen Arbeit verbunden und im schulischen Umfeld angesiedelt. Das theatrale Spiel ist hier einerseits Methode der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Inhalten (oder Sozialisationsformen) und andererseits auch Ausdrucksform und künstlerischer Gestaltungswille: Klassen erarbeiten Stücke, präsentieren diese einer Öffentlichkeit, nehmen an Schultheatertreffen teil etc. Je nach Gewichtung werden dabei mehr der Prozess und die mit ihm verbundenen Chancen des Spiels in den Vordergrund gerückt – also soziale Kompetenzen wie Integration, Kommunikation, persönlicher