Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe). Marcel Felder
behaupte, dass, wenn ein Mensch einen anderen darzustellen sich bemüht und nicht nur den Schauspieler nachmacht, der diesen spielt, er einen ungeheuren Schritt zur Erweiterung und Vermenschlichung seiner selbst tut. Ja, ich behaupte darum, dass das Theaterspiel eines der machtvollsten Bildungsmittel ist, die wir haben: ein Mittel der Erkundung von Menschen und Schicksalen und ein Mittel der Gestaltung der so gewonnenen Einsicht.
Es ist gut, dass in unseren Bildungsanstalten immer häufiger Theater gespielt wird, wenn auch oft nur, um ein Schulfest mit einem präsentablen Ereignis zu versehen oder um dem von der modernen Didaktik gebotenen sogenannten «Projektansatz» zu genügen. Es müsste umgekehrt sein: Weil Theater wichtig ist, richten wir Projektwochen und zu seiner Aufführung ein Schulfest ein. Dass die Aufführung eines Stückes die Forderung der Ganzheitlichkeit und der Vielseitigkeit der Betätigungen erfüllt, sichert ihr einen wichtigen Platz in der modernen Schule; dass sie die eigentliche Probe auf die Interpretation eines Stückes ist, hätte ihr einen ebensolchen Platz in der alten Schule sichern können; dass sie «bildet» und grosses Vergnügen bereitet, sichert ihr einen festen Platz in unserem Leben und diesen hier auf meiner Liste. Ich traue mir die Einrichtung einer alle Bildungsansprüche befriedigenden Schule zu, in der es nur zwei Sparten von Tätigkeiten gibt: Theater und science. Es sind die beiden Grundformen, in denen der Mensch sich die Welt aneignet: subjektive Anverwandlung und objektivierende Feststellung. So, wie sich das eine auf alle Verhältnisse erstreckt, die sich versachlichen lassen, so das andere auf alles, was sich vermenschlichen lässt. Beide zusammen können alles umfassen, was Menschen erfahren und wollen, können und wissen. Beide haben eine (je andere) versichernde Wirkung und können dadurch zu einer Falle werden – hier die der Verdinglichung aller Verhältnisse, dort die Illusion –, wenn es das jeweils andere nicht gibt. Und beides wird es wohl immer geben. An der einen Gewissheit: dass sich die Menschen weiterhin die Dinge verfügbar zu machen suchen, indem sie Gesetze herausfinden, ist nicht zu zweifeln. Der anderen muss man hingegen nachhelfen: dass es den Menschen gut tut, wo immer sie gesellig vereint sind auch Theater zu spielen, weil es Lust bereitet, frei zu sein, wandelbar, unbelangbar, unberechenbar, Schöpfer seiner selbst und einer eigenen Welt – in eben dem Mass, in dem die gesellschaftliche Entwicklung sie auf Berechenbarkeit festzulegen sucht und in dem das professionelle Theater das Spiel durch Konstruktionen ersetzt. (von Hentig (2004), S. 116 ff.)
Nicht erst die Reformpädagogen des 20. Jahrhunderts, schon Pestalozzi hatte eine Bildung nicht nur für den Kopf, sondern genauso für Hand und Herz gefordert: Spiel braucht sowohl den Körper als ‹sprachlichen› Ausdruck und alle Sinne der Wahrnehmung, Spiel spielt immer auch aus dem ‹Herz›, ist also Emotion, Empfindung, Empathie und Interaktion. Der Begründer der ‹schweizerischen› Theaterpädagogik, Felix Rellstab sowohl auf das ‹Schweizerische› als auch auf die Gründerperson wird zurückzukommen sein – verstand die Theaterpädagogik und das Spiel als Lebens- und Theaterprinzip: Das Leben ein Spiel. Im Zentrum der Theaterpädagogik stehe der einzelne Mensch – im Zusammenleben mit andern. Dieser einzelne Mensch sei ein spielender Mensch. Und jede und jeder könne spielen. (Rellstab (2000), S. 193)
1.3 THEATERPÄDAGOGIK IM SCHULISCHEN UMFELD
Im Folgenden soll die Gesamtbreite theaterpädagogischen Tuns etwas in den Hintergrund gerückt werden zugunsten der schulischen Ausrichtung der Theaterpädagogik; es soll also schwergewichtig um jene Bereiche gehen, die als Möglichkeit im schulischen Alltag Platz finden. Dieser theaterpädagogische Ansatz will Lehrpersonen helfen, theaterpädagogische Formen in den Unterricht einzubringen und die Theaterpädagogik auch als eine Herangehensweise, als ein spielerisch-forschendes Tun und als kreative Möglichkeit zu integrieren: Theaterpädagogik als grundsätzliche Schule der Wahrnehmung.
Es wird mithin schwergewichtig um jene Ansätze gehen, die in den vergangenen Jahren unter Begriffen wie ‹Darstellendes Spiel›, ‹Schulspiel›, ‹Schultheater›, ‹Spiel- und Interaktionspädagogik›, ‹Darstellen und Gestalten› bekannt wurden, ebenso aber auch um neuere schulische Angebote wie ‹Förderung der persönlichen Auftrittskompetenz› und damit um Kompetenzen der Spielleitung bzw. des Spielleiters/der Spielleiterin.
Dabei soll, wenn sinnvoll, auch immer wieder der Bezug zum Theaterschauen, zur Reflexion über Gesehenes, hergestellt werden, denn ‹Wer spielt, schaut anders Theater, wer Theater schaut, spielt anders.› (Lille (2009), S. 14)
Während noch zu Beginn des neuen Jahrtausends die einen (meist engagierte Lehrpersonen oder sozial- und schulinteressierte Theaterpädagogen) in den Schulen Schul-theater machten und die andern (meist Schauspieler oder Theaterpädagogen mit Regieinteresse oder Schauspielambitionen) Theater von und mit Kindern und Jugendlichen machten, die einen also mehr Pädagogik, die andern mehr Kunst im Kopf hatten, so haben sich die Gräben etwas eingeebnet, die Berührungsängste sind abgebaut, der gegenseitige Respekt und auch die Durchlässigkeit sind gewachsen.
Während sich lange Zeit das Kinder- und Jugendtheater von jedweder theaterpädagogischen schulischen Arbeit abgrenzte und den Beruf der Theaterpädagogen und -pädagoginnen kaum – oder nur im Sinne einer Vermittlung von Kunst – wahrnehmen wollte, so haben hier in den letzten zehn Jahren starke Veränderungen stattgefunden.
Das Produzieren bzw. Rezipieren geschieht nicht mehr in zwei Welten, sondern wird nun oftmals verknüpft und befruchtet sich gegenseitig. Auch dies darf wohl als Entwicklungsschritt der letzten 40 Jahre angesehen werden: Dass sich Pädagogik und Theater angenähert und ihre Berührungsängste abgebaut haben. Dass also eine einstmals auf erzieherische Absichten, auf Gruppenprozesse und Persönlichkeitsentwicklung angelegte Theaterpädagogik sich der Ästhetik der Kunst angenähert hat. Umgekehrt sind Schulen und Kinder und Jugendliche ein ernstzunehmendes und spannendes Publikum geworden, das durchaus etwas zu sagen hat und fähig ist, auch mit komplexeren Inhalten umzugehen und selbst imstande ist, theatrale Produkte zu kreieren, die inspiriert und ästhetisch ansprechend sind.
Dabei hat sich der Begriff der Theaterpädagogik nicht nur gefestigt, er hat sich auch verändert: Während zu Beginn als Folge der 68er-Jahre der emanzipatorische Gedanke im Zentrum stand, so geht es heute, nach einer Phase der Fokussierung auf die Persönlichkeitsentwicklung, auf das biografisch Einmalige und Unverwechselbare, mehr um die ästhetische Bildung und die Auftrittskompetenz.
In diesem Sinne liesse sich also sagen: Die heutige Theaterpädagogik sucht in der Formensprache und der Formenvielfalt des zeitgenössischen Theaters. Sie will Theater als offene Form der Darstellung schaffen, ist sich aber der Prozesshaftigkeit bewusst. Sie sucht deshalb auch auf dem Weg der Produktentwicklung die Auseinandersetzung der Beteiligten mit sich selbst, mit den andern und mit der Welt, in der sie alle leben. Persönliche und soziale Prozesse sind zwar nicht mehr zentrales Anliegen, aber als ‹positive Nebenwirkung› und Erfahrung durchaus willkommen. Die heutige Theaterpädagogik geht damit um und darauf ein. Theater ist Mittel und Thematik, ist Form und Sache.
In der Verknüpfung von Rezeption und eigenem Spiel, von Spielprozessen und Theaterprodukten, im Umfassenden von Theater überhaupt geht es letztlich um die Förderung der Wahrnehmung: Theater ist wohl eines der besten Mittel, sich mit Gehörtem, Gefühltem, Empfundenem und Gesehenem auseinanderzusetzen, sei es als Zuschauer/Zuschauerin oder als Spieler/Spielerin. Immer ist es die Auseinandersetzung mit dem konkreten Beispiel, das auffordert, mit allen Sinnen wahrzunehmen und Stellung zu beziehen gegenüber jener Welt, in der man lebt.
1.4 ZUR ENTWICKLUNG DER THEATERPÄDAGOGIK SEIT DEN 1970ER-JAHREN
Wie oben ausgeführt ist die Geschichte der Theaterpädagogik keine linear verlaufende. Es gibt etliche Fäden, aus denen sich jenes Gebilde entwickelt hat, das heute unter dem Begriff Theaterpädagogik existiert.
Der Begriff selbst kam Ende der 1960er/Anfang der 1970er-Jahre im deutschsprachigen Raum auf und ist auch heute noch ein sprachliches Unikat geblieben: Während im französischen Sprachraum von ‹Jeux dramatique› und in Italien von ‹Teatro Educazione› gesprochen wird, heisst es in England ‹Theatre for Developement›, ‹Theatre in Education›