Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe). Marcel Felder
eigenen Spielprozess werden gesellschaftliche Dynamiken erst richtig erkennbar und dadurch auch veränderbar. Es geht also um den Erwerb von Handlungskompetenz. Das Ziel ist immer ein pädagogisch-politisches, verbunden mit der Entwicklung eines Lernzusammenhangs von Erlebnis, Reflexion, Theorie und Praxis. Mittel zu dieser Erfahrung war und ist oft der Rollentausch: In der Übernahme anderer, unterschiedlicher Positionen und Perspektiven können eigene Standpunkte hinterfragt und weiter entwickelt werden.
–Reflexive Distanz zum eigenen Verhalten zu schaffen war für Brecht ein wichtiges Anliegen. In diesem Sinne ist auch der Verfremdungseffekt zu sehen: Distanz schaffen zur theatralen Situation mittels Heraustreten aus der Rolle, sich direkt an das Publikum wenden, Elemente der Erklärung (Aufklärung), sprechchorische Einlagen, Songs, die die Handlung kommentieren können, Abstraktion des Geschehens durch Überzeichnung.
Sowohl mit seinen theaterpädagogischen Überlegungen als auch mit Lehrstücken und dem ‹epischen Theater› hat Brecht mit seinem analytischen Ansatz zu einer differenzierteren Wahrnehmung von Spielprozessen und zum Weg aus einer diffusen Gefühligkeit zu durchschaubaren und nachvollziehbaren Handlungsabläufen beigetragen: Das Verhalten – nicht nur auf der Bühne – verändert den Prozess und dadurch die Handlung und deren Ausgang.
In gewissem Sinne dem brechtschen Ansatz gänzlich entgegensetzt ist jener von Grotowski. Grotowski, 1933 in Polen geboren, übernahm nach Abschluss seiner Schauspielausbildung in Krakau 1959 das Theater ‹13 Reihen› und baute es in den folgenden Jahren zu seinem Theaterlaboratorium für experimentelles Theater aus. 1965 wird die Bühne unter dem Namen ‹Laboratorium der 13 Reihen› nach Wroclaw/Breslau verlegt.
Bis zu seinem Tod 1999 war Grotowski auf der ganzen Welt unterwegs und arbeitete in Workshops und Inszenierungen mit Schauspielern in seiner eigenen Weise. Grotowskis ‹armes Theater› wurde dabei insbesondere auch für in den 70ern und 80ern entstehende Freie Gruppen zum grossen Vorbild.
Grotowskis Definition des Theaters reduzierte das Bühnengeschehen auf das, was sich zwischen Schauspieler und Zuschauer abspielte. Alles andere seien Zusätze, die nicht unbedingt erforderlich seien. Unter Zusätzen verstand er Bühnenbild, Kostüme, Maske, Text, Licht, Musik (Ehlert (1986), S. 30). Er plädierte für ein Theater, in dem nur Schauspieler – in ihrer Strassenkleidung – und die Zuschauer da waren, für ein ‹asketisches Theater› also.
Auch in der Arbeitsweise mit seinen Schauspielern und Schauspielschülern war Grotowskis Ansatz radikal: Im Zentrum der Arbeit standen Stimm- und Sprecharbeit, Körpertraining und die Improvisation als Training der Fantasie und des Denkens. Grotowski suchte eine innere Leere, in der etwas Neues, Eigenes, Eigenständiges entstehen konnte. Am wichtigsten war ihm aber die Beziehung zu den einzelnen Spielenden und zur Gruppe. Es sollte die Individualität jedes Einzelnen hervorgehoben und diese zu seinem urtümlichen Werkzeug werden. Der Spieler sollte sich nicht hinter Tricks und Maskerade verstecken, vielmehr sollte es um ein sich Öffnen gehen, um das Zulassen von Emotion. «Der Spieler soll in einem [gleichzeitig] Schöpfer, Modell und Schöpfung sein» (Grotowski (1970), S. 239) und einen seelischen Vorgang nicht illustrieren, sondern ihn mit seinem Körper und seinem Wesen vollziehen: «Er muss sich hingeben, nicht zurückhalten, sich öffnen, sich nicht vor den andern verschliessen.» (Grotowski (1970), S. 123)
Wichtig war also, dass sich der Schauspieler nicht einen Zaubersack voller Tricks aneignete, sondern offen war für ein «inneres Reifen» (vgl. Grotowski (1970), S. 14). Grotowskis Arbeitsweise, die in den 1980er-Jahren Kult war, näherte sich im Laufe der Zeit auch therapeutischen Formen von Selbst- und Körpererfahrung an.
Auch die Beziehung zwischen Regisseur und Spieler sollte gezeichnet sein von gegenseitiger Offenheit, und zwar als Wechselbeziehung, von der beide Seiten profitieren, voneinander lernen und sich inspirieren lassen sollten, mit der Achtung vor der Autonomie des andern.
Grotowskis ‹Vermächtnis› für die Theaterpädagogik liegt vor allem im Verständnis, dass sich der Spieler/die Spielerin ganzheitlich, also mit Körper, Seele und Geist in das Spiel einbringt, um dadurch den Prozess des Theatermachens in Gang zu setzen. Weiter gab er auch der Spielleitung bzw. der Beziehung und der Interaktion zwischen Regie und Spieler ein neues Gewicht und eine entscheidendere, prägendere Bedeutung.
Die Impulse, die von Grotowski ausgingen, prägten auch Theaterschaffende wie Augusto Boal oder Peter Brook und viele andere Regisseure des zeitgenössischen Theaters, wenngleich seine Methoden heute nicht mehr in der ursprünglichen Radikalität eingefordert werden. «Die Substanz des Mediums Theater ist der Schauspieler, seine Aktionen und was er durch sie bewirken kann.» (Grotowski (1966), o.S., zit. nach Ehlert (1986), S. 31)
Augusto Boal wurde 1931 in Rio de Janeiro geboren. Nach Studien der Chemie und Theaterwissenschaft gründete der erst 25-Jährige ein eigenes Theater in Brasilien. Es war die Zeit der politischen Liberalisierung und vieler staatlicher und kirchlicher Alphabetisierungsprogramme.
Die zugleich als Politisierung verstandene Alphabetisierung stützte sich vor allem auf Ansätze des Pädagogen Paulo Freire: «Lernen ist nicht das Fressen fremden Wissens, sondern die Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation als Problem und die Lösung dieses Problems in Reflexion und Aktion.» (Zit. nach Ehlert (1986), S. 34). Lernen wird also nicht als Eintrichtern, sondern als Problematisieren verstanden.
Boals ‹Teatro de Arena› arbeitete eng mit Alphabetisierungsgruppen zusammen, versuchte mit Stücken, die die Lage der Landbevölkerung thematisierten, Aufklärung zu betreiben und durch die Konfrontation der Bevölkerung mit ihrer politischen und gesellschaftlichen Lage Fortschritt zu bewirken.
Bis zur politischen Trendwende 1964 multiplizierte sich Boals Idee: viele Gruppen waren in ganz Brasilien unterwegs. Theater sollten nicht Vergnügungstempel sein, sondern Orte der Reflexion und des Lernens, ganz im Sinne Brechts.
Die Zensur verbot in der Folge der politischen Umwälzungen nach den Jahren der ‹Kubaisierung› Boals bisherige Theaterarbeit; erlaubt waren nurmehr Klassikerinszenierungen ohne jeglichen politischen Gehalt. Boal suchte als Reaktion nach Formen der Vereinfachung von Bühnenbild und Kostümen, nach Möglichkeiten, ohne grossen Aufwand Spiele irgendwo zu etablieren und Fragen aufzugreifen. Er suchte nach Formen hoher aktiver Beteiligung des Publikums, das den Fortgang der Handlung mitbestimmen und in das Geschehen aktiv eingreifen konnte.
1971 wurde Boal von der brasilianischen Geheimpolizei verhaftet und verschleppt und erst auf internationalen Druck hin wieder frei gelassen. Boal verliess darauf das Land und lebte bis 1986 im Exil, zuerst in Argentinien, später in Portugal und schliesslich in Paris, wo er an der Sorbonne einen eigenen Lehrstuhl erhielt. 2009 starb er in Rio de Janeiro.
Boals ‹Theater der Unterdrückten› wie auch die später entwickelten Formen – vom ‹unsichtbaren Theater› oder ‹Statuentheater› bis hin zum ‹Forumtheater› – sind Antworten auf die repressive Politik in Lateinamerika. Boal wollte Bauern und Arbeiter aufklären, verändern und in ihren Autonomiebestrebungen unterstützen.
Die von Boal entwickelten Arbeitstechniken sind theaterpädagogisch relevant: Oft wird über das Bauen von Statuen gearbeitet; das ‹Freeze› – das Einfrieren und das Stellen von Gruppenbildern – zählt zu den häufigen Arbeitsformen und Techniken, um Wahrnehmung zu schulen, und zwar sowohl die Selbstwahrnehmung über Körperhaltungen als auch die Ausseninterpretation von Wirkungen und Situationen.
Insbesondere im Jugendtheaterbereich ist Forumtheater auch heute noch eine gängige Form: Eine Szene wird dem Publikum in einer ersten Variante vorgespielt; in der Regel endet sie in der grösstmöglichen Katastrophe. Nun lässt der Spielleiter die Szene wiederholen und fordert das Publikum auf, die Szene dort zu unterbrechen, wo eine Veränderung des Verhaltens des (bzw. eines)