Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe). Marcel Felder
nicht mehrheitlich oder gar allein pädagogisch motiviert und orientiert war, sondern sich insbesondere am Können des Schauspielers und Regisseurs orientierte. Rellstab proklamierte (und realisierte) eine spezifisch theaternahe theaterpädagogische Ausbildung: Theaterpädagogen und -pädagoginnen sollten spielen und Regie führen können, sie sollten selber spielende und zum Spiel animierende Menschen sein.
‹Gründerväter›
Wolfgang Nickel in Berlin und Felix Rellstab in Zürch waren die beiden wegweisenden Initiatoren, die mit der Lancierung einer professionellen Theaterpädagogik-Ausbildung viel zur Entwicklung beitrugen. Entsprechend ihrer Herkunft – Nickel aus der Pädagogik und der Kunstgeschichte, Rellstab aus dem Schauspiel – erhielten auch die Ausbildungsgänge unterschiedliche Gewichtungen und Prägungen. Während für Nickel das Forschende und Analytische im Vordergrund stand, war für Rellstab der Theaterpädagoge als spielender Mensch mit den entsprechenden schauspielerischen Fähig- und Fertigkeiten zentral.
Dr. phil. Wolfgang Nickel (1933) studierte Theaterwissenschaften, Pädagogik, Kulturgeschichte und Germanistik. Er war einige Jahre selber als Lehrer tätig, gründete 1959 die Berliner Lehrerbühne und war ab 1964 Dozent an der PH Berlin, wo er das Fach Schulspiel lancierte. Er baute das Institut für Spiel- und Theaterpädagogik an der Hochschule der Künste auf und leitete das Institut bis 1993. Heute ist der Lehrgang Theaterpädagogik der Universität der Künste angegliedert. Nickel war Wegbereiter des Faches ‹Darstellendes Spiel› und unermüdlicher wissenschaftlicher Erforscher des kindlichen (und theatralen) Spiels.
Felix Rellstab (1924 – 1999) war ausgebildeter Schauspieler und Regisseur. 1948 – 50 arbeitete er als Dramaturg am Schauspielhaus Zürich, 1965 war er Mitbegründer des Theaters am Neumarkt, das er bis 1971 leitete. Bereits 1960 übernahm er die Leitung des Bühnenstudios und baute den Ausbildungsgang sukzessive zur Schauspiel-Akademie Zürich mit 3-jährigen Ausbildungsgängen in ‹Schauspiel› und ‹Regie› aus. 1973 startete auf seine Initiative der erste Ausbildungsgang in Theaterpädagogik. Seither haben jährlich rund vier Theaterpädagogen und -pädagoginnen die Ausbildung, heute an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), absolviert.
Rellstab blieb bis 1991 Direktor der Schauspiel-Akademie und war noch mit der Planung des neuen Standortes in den Stallungen der Gessnerallee betraut. Zu seinen Initiativen gehörte auch die Gründung des Kinder- und Jugendtheaters Zürich (kitz). Erfolgreich war er auch als Publizist mit seinen Schriften zu Schauspiel und Theater (Reihe schau-spiel).
Für Rellstab standen also ‹Theater› und ‹eigenes Spiel› im Vordergrund, während sich Nickel schwergewichtig für die spielpädagogischen Ansätze und die Interaktionsprozesse interessierte – Ersterer kam ja auch vom Schauspiel, der Letztere von der Pädagogik. So war bei Rellstab wenig erstaunlich, dass zur theaterpädagogischen Ausbildung weniger Pädagogik, dafür die Auseinandersetzung mit jenen ‹Lehrmeistern› gehörte, die sich mit schauspielerischen Prozessen befasst und die Funktion des Theaterspiels zum Thema ihrer Untersuchungen und Forschungen gemacht hatten.
Als weitere Basis theaterpädagogischen Handelns sind also all jene Lehrmeister und Theaterreformer zu sehen, die sich mit der Schauspielkunst an sich auseinandersetzten, d.h. mit der Frage, wie Spiel funktioniert, was der Schauspieler können muss, wie ein Spielprozess zu entschlüsseln wäre, bis hin zur Frage, was zwischen Bühne und Zuschauer passiert, wie sich der Theaterbesucher mit Figuren und Handlungen identifiziert und wie diese Interaktion zu gestalten, zu bedienen oder zu brechen wäre.
Zu dieser Reihe von Schauspiel-Analytikern und meist auch Leitern von Schauspielschulen gehören insbesondere der Russe Konstantin S. Stanislavski (1863 – 1938), der Deutsche Bertolt Brecht (1898 –1956), der Pole Jerzy Grotowski 1933 – 1999) und der Brasilianer Augusto Boal (1931 – 2009) (vgl. Ehlert (1986), S. 9 ff.).
Konstantin Sergejewitsch Stanislawski
Stanislawski wurde 1863 geboren. Nach Theater- und Gesangsunterricht arbeitete er als Schauspieler und Regisseur und gründete 1898 das Moskauer Künstlertheater. Dort erreichte Stanislawski mit seinen naturalistischen Inszenierungen einen Grad an illusionistischer Perfektion, wie er bis dahin an keinem andern Theater je erreicht worden war. Zu diesem Eindruck trug vor allem die Geschlossenheit der Ensembleleistung (inklusive Bühnenbild, Lichttechnik, Musik etc.) bei. (Ehlert (1986), S. 13)
Für Stanislawski stand der Schauspieler im Zentrum. Stanislawski untersuchte die Spielprozesse und lotete den Zwischenraum zwischen ‹erleben› und ‹darstellen› aus. Von ihm stammen Begriffe wie ‹als ob› oder ‹Subtext›; er schrieb Abhandlungen darüber, wie der Schauspieler zur ‹Verkörperung› einer Rolle kam und entwickelte etliche Übungen, die es dem Schauspieler ermöglichen sollten, sich mit einer Figur zu identifizieren und emotionale Prozesse spielerisch umzusetzen und für die Intensität einer Rolle nutzbar zu machen. Stanislawski ist noch heute Basislektüre für Schauspielerinnen und -spieler und vermag Spielprozesse zu erhellen. Damit Handlungen und darunterliegende Gefühle nicht bloss dargestellt werden, braucht es seiner Ansicht nach emotionale, geistige und körperliche Trainings, um den gewünschten Effekt der Betroffenheit, der Glaubwürdigkeit zu erreichen. Stanislawski entwickelte so die Einstimmungsübungen und Schauspieltrainings für Geist, Psyche, Stimme und Körper, die immer noch Basis der Schauspielausbildung sind und zur Vorbereitung auf Vorstellungen genutzt werden. Stanislawski verstarb 1938.
Brecht wurde 1898 in Augsburg als Sohn eines Papierfabrikdirektors geboren. Schon als Student an der Philosophischen Fakultät in München verfasste er seine ersten Stücke, die ihn später weltberühmt machten. Vor Beginn des 2. Weltkrieges verliess er Deutschland und ging in die USA. 1948 kehrte er über die Schweiz zurück nach Ostberlin. Brecht war überzeugter Kommunist, seine Stücke befassen sich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sie handeln von Macht und Ohnmacht, von Volk und Herrschern, von Arbeitgebern und Arbeitern. 1949 gründete er das ‹Berliner Ensemble› und reiste mit seinen Stücken rund um wie Welt. Brecht starb 1956 in Ostberlin.
Brecht verfasste aber nicht nur Stücke, er untersuchte auch das Schauspiel an sich: Theater sollte auf die Zuschauer wirken, sollte Denkprozesse auslösen, sollte Haltungen und Handlungen durchschaubar, nachvollziehbar machen. Seine Vorstellungen eines ‹epischen› Theaters lassen sich nach Ehlert so zusammenfassen (Ehlert (1986), S. 22 f.):
–Distanz zwischen Schauspieler und Rolle, Sichtbarmachen der zweifachen Existenz als Spieler und als Figur.
–Erzählen der Handlung (Episieren), Demonstrieren von Verhalten und von Beziehungen zwischen Personen von einem gesellschaftskritischen Standpunkt aus, Kommentieren und Beurteilen von Handlungen und Handlungsweisen.
–Deutliche Trennung der ästhetischen Ebenen (Darstellung, Kommentar, Lesung) Brechts Intention war also, dass der Zuschauer als denkender Mensch betrachtet wird, der die Dinge analysieren, durchschauen, begreifen kann. Der Zuschauer sollte nicht in Gefühlswelten einsinken, sondern sachlich den Gang der Welt verstehen und zum handelnden Subjekt werden. Es sollte eine suchend-kritische Distanz sowohl der Spielenden als auch der Zuschauenden vorherrschen. Hierzu diente Brecht der V-Effekt, der Verfremdungseffekt, der eine untersuchende Distanz zu den Figuren und ihren Handlungen herstellt.
Seine theoretischen Ansätze über das Theater hielt Brecht 1948 im «Kleinen Organon für das Theater» fest. Relevant für das theaterpädagogische Schaffen sind vor allem seine Lehrstücke und der Verfremdungseffekt:
–Brechts Lehrstücke zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine veränderbare Welt zeigen: «Theater konstituiert sich als experimenteller Ort, der zu eigenverantwortlichem Denken und Handeln aufruft und auf die Veränderung der sozialen Verhältnisse zielt» (Naumann (2003), S. 53). Das Lehrstück ist ein theaterpädagogischer Spieltyp mit Musik. Dabei wird die Trennung in Spieler und Zuschauer aufgehoben. Der Zuschauer ist Teil des Geschehens, bestimmt mit. «Das Lehrstück lehrt