Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe). Marcel Felder
zweiten Ansatz ergänzt und auf die erwähnte theaterimmanente Durchlässigkeit der Grenze zwischen den beiden konzentrischen Feldern von Produktion und Rezeption hinweist: Geht es im inneren Feld des ‹Selber-Spielens› um die Entwicklung von Spiel- und Ausdrucksfähigkeit – ganz im Sinne des Aufbaus von darstellerischen Kompetenzen, von Wissen und Können im Bereich der Schauspielerei –, so gehört dazu auch das Vorzeigen, das Vorspielen der erworbenen Kompetenzen, eine Theateraufführung in welcher Form auch immer. Auf diese Weise kommt der Aspekt des Zuschauens, der Rezeption also, dazu und wird die Grenze des inneren Felds, des ‹Selber-Spielens›, durchlässig. Nur dadurch, dass die Spielenden erleben, dass ihr Theaterspiel Wirkung erzeugt, können sie letztlich ihre Kompetenzen überprüfen. Und auch das Publikum macht beim Zuschauen wichtige Erfahrungen, die zum Aufbau von umfassenden theatralen Kompetenzen, von Wissen über Theater, notwendig sind.
Theaterpädagogik mit dem Ziel, an fachlichen, sozialen oder personalen Kompetenzen zu arbeiten
Das zweite Feld grenzt sich dadurch vom ersten ab, dass es nicht die Ausbildung von theatralen, sondern von fachlichen, sozialen oder personalen Kompetenzen intendiert. Im Gegensatz zum ersten Feld spricht man hier von ‹drama in education›, also von Theater in der Vermittlung und nicht von ‹drama education›, von ‹Theater-Vermittlung›. Es geht hier um ‹arts in learning›, um Künste im Dienste des Lernens und nicht um ‹learning in arts›, also nicht um Lernen in den Künsten. Theater wird hier im Dienst des Erwerbs von Kompetenzen gesehen, die nicht eigentlich theatrale Kompetenzen sind. Mit theatralen, szenischen Methoden und Übungen werden Ziele verfolgt und Inhalte bearbeitet, die keine schauspielerischen oder theatralen sind, sondern beispielsweise (fremd-)sprachliche oder sprecherische, also fachliche, soziale oder personale.
2.5 ‹ERZIEHUNG ZUM THEATER›, ‹ERZIEHUNG DURCH THEATER› UND ‹ERZIEHUNG MIT THEATERAFFINEN MITTELN›
Eine vierte Möglichkeit, Felder der Theaterpädagogik zu definieren, erweitert und differenziert den eben beschriebenen dritten Ansatz der Felderdefinition über die Ziele von Theaterpädagogik, indem sie drei Felder unterscheidet:
–‹Erziehung zum Theater› (vgl. Hentschel (2010), S. 238) entspricht dem Feld theaterpädagogischer Arbeit mit dem Ziel, Wissen und Können über Theater aufzubauen, bei dem es um Kunstvermittlung geht. Ulrike Hentschel prägt dafür mit dem Begriff ‹Erziehung zum Theater› die wohl präziseste Übersetzung der beiden eingangs genannten englischen Begriffe ‹drama education› respektive ‹learning in arts›.
–‹Erziehung durch Theater› (vgl. Hentschel (2010), S. 238) nennt Hentschel dasjenige Feld, bei dem an sozialen und personalen Kompetenzen gearbeitet wird. Ausgangspunkt von ‚Erziehung durch Theater› ist die Annahme, dass Theaterspielen sowie die rezeptive Beschäftigung mit Theater bildenden Wert haben.10 In diesem Sinn werden kulturpädagogische und menschenbildende Ziele verfolgt.
–Das Feld der ‹Erziehung mit theateraffinen Mitteln› (vgl. Hentschel (2010), S. 238) beinhaltet die Arbeit mit Übungen, Methoden und Settings, die aus der Schauspielausbildung und der Theaterarbeit stammen und zur Ausbildung fachlicher, sozialer oder personaler Kompetenzen wie beispielsweise von Sprach-, Kommunikations- oder Auftrittskompetenz genutzt werden.
Mit den beiden letztgenannten Feldern wird das Feld des dritten Ansatzes, in dem die Arbeit an fachlichen, sozialen oder personalen Kompetenzen als Ziel theaterpädagogischer Arbeit beschrieben wird, weiter differenziert und in zwei neue Felder unterteilt.
Abb. 6: Abgrenzung von Erziehung zum Theater, Erziehung durch Theater und Erziehung mit theateraffinen Mitteln
‹Erziehung zum Theater› basiert auf der von Hentschel ausgeführten «kulturpädagogischen Begründung» theaterpädagogischer Arbeit (Hentschel (2010), S. 123). Hentschel schreibt dazu, dass «der Begriff ‹kulturpädagogisch› hier im Sinne der geisteswissenschaftlichen Pädagogik als Weitergabe der in den Bildungsgütern bewahrten kulturellen Werte an die nächste Generation verstanden wird. Nach diesem Verständnis geht es um eine Erziehung zur Kunst, konkret zum Verständnis der dramatischen und theatralen Kunst.» (Hentschel (2010), S. 123) Ziel ist also die aktive Teilhabe an der Kunstform Theater.
Erziehung zum Theater basiert auf einer Didaktik der Theatervermittlung, einer Fachdidaktik Theater, die über eine blosse Sammlung von schauspielerischen Übungen und theatralen Spielen hinausgeht. Sie befasst sich mit der Frage: «Wer was von wem wann mit wem wo, wie, womit und wozu lernen soll» (Meyer (1994), S. 16). Und wenn auch viele Aspekte dieser didaktischen Frage im Kern nicht zu beantworten sind, ohne dass eine konkrete Lernsituation mit konkreten Lernenden vorhanden ist, so lassen sich doch einige grundsätzlich gültige didaktisch-methodische Äusserungen machen: Eine Didaktik, die den Fokus auf die inhaltlichen und methodischen Besonderheiten von Theater legt, rückt zieloffene, entwickelnde, gestaltende Aspekte von Lernen in den Vordergrund. Des Weiteren kann aus der Tatsache, dass Theater in aller Regel in Ensemble-Prozessen entsteht, der Schluss gezogen werden, dass eine Theaterdidaktik kooperatives Lernen in Projektstrukturen stark gewichtet. Ebenso werden Spielen und Lernen in gegenseitige Nähe gerückt.
Wichtig ist dabei festzuhalten, dass sich die didaktischen Entscheidungen und methodischen Formen in diesem Feld der Theaterpädagogik immer aus der Orientierung am Ziel ergeben, den Lernenden Erfahrungen mit Theater zu ermöglichen sowie Möglichkeiten zu schaffen, in denen sie Wissen und Können aufbauen können, das ihnen ermöglicht, ihr «Verständnis der dramatischen und theatralen Kunst» (Hentschel (2010), S. 123) zu erweitern und zu vertiefen, was ihnen die aktive Teilhabe an der Kunstform Theater ermöglicht.
Im Gegensatz zum Feld der ‹Erziehung zum Theater› stehen hinter der ‹Erziehung durch Theater› nicht kunstpädagogische, sondern kulturpädagogische und menschenbildende Ziele. Grundlegend für dieses Feld ist die Annahme, Theaterspielen an und für sich habe bildenden Wert. Diese Annahme steht der pädagogischen Haltung Pate, die – im Anschluss an reformpädagogische Werte und Ziele – abgesehen von Privatschulen mit diesbezüglichem pädagogischen Hintergrund,11 insbesondere in der Bildung von Kindern im Kindergartenalter starke Verbreitung hat. Eine enge Verbindung ist auch zur Spielpädagogik vorhanden.
Ziel ist es, den Spieltrieb, der als zentraler Trieb in jedem Menschen schlummert, zu wecken. Dahinter stehen zentrale Anliegen der Reformpädagogik und deren emanzipatorisches Bildungsziel: die Erlangung der Ganzheit des Menschen. Die menschenbildende Bedeutung des Theaterspielens wird in diesem Feld sehr stark gewichtet und tritt an die Stelle der kunstbildnerischen Intention.
Neben vielen methodisch-didaktischen Grundprämissen der Kindergarten- und Grundstufendidaktik basiert auf dieser anthropologischen Sichtweise letztlich auch der Komplex der musischen Bildung. Sie ist aus der in Kapitel 1 erwähnten Schulspiel- und Laienspielbewegung der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgegangen und hat in der Volksschule unter dem Begriff ‹Darstellendes Spiel› in Deutschland sogar Einzug in die Lehrpläne gehalten (vgl. Kap. 1). Auch in der Schweiz hat die SADS (vgl. Kap. 1.1) Theater in Schulen auf diese Weise begründet.
Methodisch und didaktisch unterscheidet sich die Arbeit im Feld der ‹Erziehung durch Theater› wenig von derjenigen im Feld der ‹Erziehung zum Theater›. Hier wie da werden die didaktischen Entscheidungen aufgrund der inhaltlichen und methodischen Besonderheiten von Theater getroffen. Sie