Gemeinsam Eltern bleiben. Margret Bürgisser
die gemeinsame elterliche Sorge aufgrund einer gemeinsamen Erklärung zustande. Diese kann gegenüber dem Zivilstandsamt abgegeben werden, wenn sie gleichzeitig mit der Anerkennung des Kindes erfolgt. Das kann schon vor der Geburt des Kindes geschehen. Erfolgt die Erklärung später, also unabhängig von der Anerkennung des Kindes, so ist sie an die Kindesschutzbehörde am Wohnsitz des Kindes zu richten.22 In ihrer Vereinbarung bestätigen die Eltern, dass sie bereit sind, gemeinsam die Verantwortung für das Kind zu übernehmen und dass sie sich über die Betreuung, den persönlichen Verkehr und den Unterhalt des Kindes verständigt haben.23 Die Paare müssen sich über diese Fragen einigen, ihre Vereinbarung aber nicht mehr einer Behörde vorlegen. Es wird nicht verlangt, dass die Eltern genaue Angaben zur gefundenen Lösung machen. Die Kindesschutzbehörde hat hingegen eine Beratungspflicht und muss unverheiratete Paare in Trennung auf Wunsch bei der Suche nach einer tragfähigen Lösung unterstützen.24 Bis diese Erklärung vorliegt, steht die elterliche Sorge allein der Mutter zu. Sie ist von Gesetzes wegen ab der Geburt die Inhaberin der elterlichen Sorge.25 Falls sich die Mutter weigert, die gewünschte Erklärung abzugeben, kann der Vater an die Kindesschutzbehörde gelangen. Und im umgekehrten Fall, in dem sich der Vater nicht um das Sorgerecht kümmert, müsste die Mutter die Kindesschutzbehörde anrufen.26 Diese wird – wenn keine triftigen Gründe zum Schutz des Kindeswohls dagegen sprechen – die gemeinsame elterliche Sorge verfügen.
1.4Was bedeutet die Revision?
Künftig ist es also nicht mehr so, dass geschiedene Eltern beim Gericht die gemeinsame elterliche Sorge beantragen müssen. Es ist vielmehr so, dass die Gerichte darüber entscheiden müssen, in welchen Ausnahmefällen die gemeinsame elterliche Sorge entzogen werden soll. Solche sog. Ausschlusskriterien sind insbesondere Unerfahrenheit, Krankheit, Gebrechen, Ortsabwesenheit und Gewalttätigkeit.
Das Prinzip der gemeinsamen elterlichen Sorge sagt wenig über die effektive Betreuung der Kinder aus. Die Obhut wird vom Gericht in den meisten Fällen jenem Elternteil zugewiesen, der die Kinder im Alltag betreut. Dieser entscheidet auch über die für die Alltagsgestaltung wichtigen Fragen (Kleider, Essen, Freizeitgestaltung etc.). Über sogenannte wichtige Fragen entscheiden die Eltern aber gemeinsam. Dazu gehören insbesondere Fragen bezüglich Religion, medizinische Behandlungen, Schul- und Wohnsitzwahl. Falls ein Elternteil nicht mit vernünftigem Aufwand zu erreichen ist, darf der andere auch über diese Fragen alleine entscheiden.27
Im Weiteren darf ein Elternteil mit gemeinsamer elterlicher Sorge künftig den Wohnort des Kindes nur noch mit der Einwilligung des anderen Elternteils wechseln, sofern der Umzug die Ausübung der elterlichen Sorge und den persönlichen Verkehr erheblich einschränken würde. Dies gilt insbesondere bei einem Wegzug ins Ausland.28 Übt ein Elternteil die elterliche Sorge allein aus und will er den Aufenthaltsort des Kindes wechseln, so muss er den andern Elternteil rechtzeitig darüber informieren.29 Dieselbe Informationspflicht hat der Elternteil ohne elterliche Sorge, der seinen eigenen Wohnsitz wechseln will.30
Für Zündstoff dürfte in der Praxis die Rückwirkungsklausel31 sorgen. Ihr zufolge kann ein Elternteil, dem bei der Scheidung die elterliche Sorge entzogen wurde, innert eines Jahres nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung bei der Kindesschutzbehörde die gemeinsame elterliche Sorge beantragen, sofern die Scheidung im Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes nicht mehr als fünf Jahre zurückliegt. Bei unverheirateten Paaren gibt es keine solche Frist.32 Sie können die gemeinsame elterliche Sorge unbefristet rückwirkend beantragen.
Anders als im Vorentwurf vorgesehen, verzichtet das neue Recht darauf, jenem Elternteil eine Strafe anzudrohen, der das Besuchsrecht vereitelt.33 Dies wird damit begründet, «dass Besuchsrechtsstreitigkeiten regelmässig mit hohem emotionalem Aufwand ausgetragen werden. Zusätzliche Strafandrohungen tragen in diesem Fall kaum zur Vermeidung oder Vorbeugung von Konflikten bei. Zudem ist zu befürchten, dass unter einer Bestrafung eines Elternteils zumindest indirekt auch das Kind leidet» (Botschaft zu einer Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Elterliche Sorge] vom 6. November 2011, S. 9096).
In Ausnahmefällen kann das Gericht oder die Kindesschutzbehörde gleichwohl konkrete Anordnungen treffen und z.B. der Mutter ein Busse androhen, falls sie das Besuchsrecht des Vaters wiederholt vereitelt.
1.5Politische Vorgeschichte
Die Diskussion über das gemeinsame Sorgerecht geht bereits auf die 70er-Jahre zurück, doch erst nach der Jahrtausendwende erfuhr das Thema politisch gesehen einen Durchbruch. Mit der Einführung des Scheidungsrechts von 2000 war die Position der Frauen gestärkt worden. Bei einer Scheidung erhielt die Mutter in der Regel die alleinige elterliche Sorge, da es vor allem sie war, die die Kinder im Alltag betreute. Dem Vater hingegen wurde ein Besuchsrecht zugeteilt und eine Unterhaltspflicht auferlegt. Im Zeitverlauf wurden die Mängel dieser Gesetzgebung immer deutlicher sichtbar. So gab es Männer, die sich nach der Trennung als unzuverlässige Väter erwiesen und sich zunehmend aus ihren Betreuungspflichten verabschiedeten. Und es gab Frauen, welche die Kinder manipulierten, das Besuchsrecht des Vaters hintertrieben oder ihrem Expartner mit Anschuldigungen das Leben schwermachten. Leidtragende waren letztlich die Kinder, die oft in Loyalitätskonflikte verstrickt wurden.
Die seit 2000 geltende Sorgerechtsregelung wurde von Männer- und Frauenorganisationen heftig kritisiert, wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Viele Väter litten unter der eingeschränkten Möglichkeit, den Kontakt zu ihren Kindern nach der Trennung oder Scheidung aufrechtzuerhalten. Vor allem Männer, die sich früher in der Kinderbetreuung und der Hausarbeit engagiert hatten, fühlten sich von kostbaren Erfahrungen abgeschnitten und in die Rolle des «Zahlvaters» abgeschoben. Manche Väter betonten, wenn ihnen das Sorgerecht verwehrt bleibe, fehle ihnen die Motivation, sich über das Minimum hinaus für ihre Familie zu engagieren. Sie erlebten das geteilte Sorgerecht als Zurücksetzung und hierarchische Unterordnung. Geschiedene Väter klagten zudem, ihre Exfrau gebrauche die gemeinsame elterliche Sorge als Druckmittel, um höhere Unterhaltszahlungen zu erwirken. Auch sei es fast unmöglich, ihr Recht durchzusetzen, wenn die Exfrau das Besuchsrecht vereitle oder erschwere. Die Kritik der Frauen hingegen lautete, sie hätten keine Handhabe, wenn sich der Expartner kaum für die Kinder engagiere und seinen Unterhaltsverpflichtungen nur unzuverlässig oder gar nicht nachkomme. Viele Mütter sahen sich nach der Scheidung völlig auf sich gestellt, finanziell und kräftemässig am Limit, und von ihren früheren sozialen Bezügen abgeschnitten.
Oft machte sich im Nachscheidungsalltag auch Unzufriedenheit breit, wenn das gewählte Sorgerecht nicht mit der gewählten Rollenteilung übereinstimmte. Frauen beklagten die Einschränkung ihrer Entscheidungsbefugnisse, wenn der Partner zwar die gemeinsame elterliche Sorge wollte, aber nicht bereit war, sich über das allgemein Übliche hinaus, z.B. in der Betreuung, zu engagieren. Auch das Problem der Mankoverteilung im Unterhaltsrecht (vgl. Abschnitt 3.5) wurde von Frauenseite vehement kritisiert.
Am 7. Mai 2004 reichte der Schwyzer Nationalrat und Anwalt Reto Wehrli im Nationalrat ein Postulat ein, mit dem er die gemeinsame Sorge für alle Eltern zum Regelfall machen wollte. Der Vorstoss wurde am 7. Oktober 2005 vom Nationalrat angenommen und 2009 ein erster Gesetzesentwurf in die Vernehmlassung