Gemeinsam Eltern bleiben. Margret Bürgisser
die Auflösung der Mann-Frau-Beziehung und die Kinderfrage vermischt, was unerwünscht sei. Wehrli meint, eine Infragestellung der gemeinsamen elterlichen Sorge solle nur in klaren Ausnahmefällen möglich sein, etwa bei schwerer Vernachlässigung oder Misshandlung. Zudem beanstandet er die mangelnde Konsequenz. Nach wie vor werde von einer obhutsberechtigten und einer besuchsberechtigten Person und nicht von gleichgestellten bzw. gleichverantwortlichen Partnern ausgegangen, eine Unterscheidung, die man seines Erachtens hätte aufgeben sollen.
Fachleute aus Frauenorganisationen und dem Gleichstellungsbereich kritisieren, mit der Gesetzesrevision werde zu viel und auch Falsches versprochen. Es werde zu viel Symbolik in das rechtliche Institut der gemeinsamen elterlichen Sorge hineingepackt und zudem von Alltagsproblemen abgelenkt. Wenn man vom Kindeswohl ausgehen wolle, meint Bettina Bannwart, so müsse man im gleichen Atemzug immer zwei Bereiche nennen: «Zum einen das Betreuen und Kümmern, zum anderen die Frage der finanziellen Ressourcen, die es braucht, damit ein Kind gut aufwachsen kann. Solange sich der Anteil der Väter, die im Alltag mitbetreuen, nicht wesentlich erhöht, besteht da ein Ungleichgewicht. Das revidierte Gesetz wird die Erweiterung der Elternrollen kaum fördern, da die Regelung betreffend Kindesunterhalt nicht gleichzeitig angegangen wurde.»
Scheidungsanwälte, die Einblick in eine Vielzahl von Paarkonstellationen haben, weisen auch auf die Gefahr hin, dass Frauen in hochstrittigen Fällen, um die gemeinsame Sorge zu verhindern, den (Ex-)Partner des Kindsmissbrauchs beschuldigen könnten. Solche Anschuldigungen erreichen ihr Ziel sehr oft, weil niemand verlässlich das Gegenteil beweisen kann. Zum Schutz des Kindes entscheiden Gerichte und Behörden in solchen Fällen oft zuungunsten des Vaters, was für diesen – wenn der Vorwurf erfunden ist – eine persönliche Katastrophe ist. Und auch für die Kinder ist der Schaden immens.
Es wird auch bezweifelt, dass Väter als Folge der gemeinsamen elterlichen Sorge ihr Besuchsrecht engagierter wahrnehmen. Wenn ein Vater mit dem Kind keinen Kontakt haben will, kann man ihn auch künftig nicht gesetzlich dazu zwingen. «Es wäre dem Kind wohl kaum zuträglich, wenn der Vater nur des Gesetzes wegen und ohne eigene Motivation mit ihm die Ferien verbringen würde», vermutet Nationalrätin Jacqueline Fehr. Reto Wehrli hingegen befürwortet in solchen Fällen Sanktionen und bedauert, dass solche vom neuen Gesetz nicht vorgesehen sind. «Das ist ein Fehler. Es sollte Sanktionen geben gegenüber Eltern, die ihre Verantwortung nicht wahrnehmen. Sich nicht zu engagieren und gleichzeitig dem andern Elternteil dreinzureden, das geht nicht. Das ist das eine. Und das andere: Es sollte auch finanzielle Konsequenzen haben, wenn jemand seine Verantwortung nicht wahrnimmt. Man kann keinen direkt zwingen, sich um seine Kinder zu kümmern. Aber wenn er weniger betreut als vereinbart, dann soll er dafür bezahlen.»
Befürchtete negative Auswirkungen
Ein neues Gesetz kann nicht alle Probleme lösen. Selbst die Befürworterinnen und Befürworter der gemeinsamen elterlichen Sorge sind sich bewusst, dass das revidierte Gesetz nicht nur positive Auswirkungen haben wird. Kritikerinnen und Kritiker bemängeln, dass die Person, die das Kind hauptsächlich betreut – in der Regel die Mutter – mit dieser Gesetzesrevision kein Instrument in die Hand bekommt, das es ihr ermöglicht, die durch den vermehrten Einbezug des Expartners neu entstehenden Probleme zu lösen. Viele Mütter klagen bei der Trennung, sie hätten die Verantwortung für den Familienalltag alleine getragen, darum würden sie sich nun trennen und möchten auch allein entscheiden. Einen «clean break», wie man ihn im Scheidungsrecht bezüglich der Finanzen kennt, gibt es im neuen Sorgerecht aber nicht mehr.
Das ist folgenreich, wie Bettina Bannwart betont. Wenn Mütter und Väter durch die gemeinsame elterliche Sorge gegen den Willen eines Elternteils und trotz ungenügender Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit verbunden bleiben, besteht das Risiko, dass sie sich das Leben schwermachen. «Die grosse Alltagsarbeit bleibt bei der hauptbetreuenden Person, aber Entscheidungen werden unter Umständen blockiert, weil sich die Eltern nicht einig werden. Es ist deshalb wichtig, dass man eine Praxis erarbeitet – z.B. in der Konvention – die klarstellt, welche Alltagsentscheidungen bei jener Person liegen, bei der das Kind lebt.»
Auch manche Anwältinnen und Anwälte befürchten, dass sich der Kampf aufs Alltagsbestimmungsrecht verlagern wird. Die Väter sind ja künftig berechtigt, in wichtigen Fragen mitzureden. Doch welches die wichtigen Fragen sind, hat das Gesetz nur summarisch definiert. Es besteht somit die Gefahr, dass der abwesende Elternteil dem obhutsberechtigten in unzulässiger Weise in Alltagsdinge (Klassenlager, Hobbys, Ernährung etc.) dreinredet. Das dürfe nicht geschehen, betont Liselotte Staub: «Es muss ganz klar kommuniziert werden: Es gibt eine Alltagssorge und es gibt eine rechtliche Sorge. Und die Alltagssorge ist immer bei dem Elternteil, der die Obhut hat, es sei denn, die Eltern teilen sich die Obhut. Die Väter müssen sich klar werden, dass sie mit diesem Gesetz kein Instrument erhalten, um in alles und jedes einzugreifen.»
1.9Was beinhaltet gemeinsame elterliche Sorge konkret?
Viele Experten und Expertinnen gehen davon aus, dass das neue Sorgerecht im Nachscheidungsalltag nicht viel verändern werde. Es sei ein guter gesetzlicher Rahmen, der allerdings nicht die Bedeutung haben werde, wie man es jetzt darstelle. Zwischen rechtlicher Sorge und faktischer Sorge bestehe ein wichtiger Unterschied.
Bettina Bannwart erzählt: «Väterorganisationen sagen: Wir wollen nicht nur Zahlväter sein, sondern auch etwas vom Kind haben. Aber die rechtliche Sorge hat ja nichts damit zu tun, wie der getrennt lebende Elternteil das Kind tatsächlich betreut. Tatsächliche Betreuung heisst zeitliches Engagement. Es heisst verstehen, was das Kind berührt, welche Sorgen es hat, was es erzählt, wenn es aus dem Kindergarten kommt – und nicht nur die ‹Quality-Time› am Abend oder am Wochenende mit dem Kind verbringen. Dass die Ungleichverteilung der effektiven Betreuungsarbeit zwischen den Eltern während des Zusammenlebens kaum thematisiert wird, finde ich bedauerlich.»
Wenn man den Alltag von Kindern und Erwachsenen im Fokus hat, geht es also nicht (nur) um die elterliche Sorge an sich, sondern um konkrete Fragen. Es geht um die Aufgaben- und Rollenteilung: Wer macht was? Welche Arbeitsteilungsmuster gibt es? Was bewährt sich daran und was nicht?36 In vielen Köpfen spukt die unzutreffende Vorstellung, gemeinsame elterliche Sorge bedeute gemeinsame Betreuung. Faktisch ändert sich an den Rollenteilungsmustern nach Trennung oder Scheidung aber meist nicht viel, ausser dass viele Frauen wieder eine Erwerbstätigkeit aufnehmen oder diese ausbauen. Der Besuch des Vaters, der früher vielleicht zu Hause mitgeholfen hat, reduziert sich allerdings auf die Besuchszeiten. Diesbezüglich macht das Gesetz ja keine Vorgaben.
Wie stellt sich Heidi Simoni vom Marie Meierhofer Institut für das Kind die optimale Zuordnung der Entscheidungsbefugnisse bei gemeinsamer elterlicher Sorge vor? Ihre Devise lautet: «Einvernehmlich ausgehandelt, als Grundlage für die Zusammenarbeit schriftlich fixiert, in der Anwendung flexibel und mit dem Kind wachsend. Entscheidungsbefugnisse müssen sich nach dem Alltag richten. Jetzt ist es so, dass vor allem jener entscheidet, bei dem das Kind lebt. Wenn eine partnerschaftliche Betreuung besteht, müssen sich die Entscheidungsbefugnisse danach richten.»
Die nacheheliche Familiensituation muss sich also permanent weiterentwickeln, damit sie den Bedürfnissen sowohl der Erwachsenen als auch der Kinder weiterhin entspricht.
Auch das Besuchsrecht muss der Entwicklung des Kindes gegebenenfalls angepasst werden. Dazu Nationalrätin Jacqueline Fehr: «Aus Sicht der Kinder ist die nacheheliche Familie ein wachsender Organismus. Wenn Kinder grösser werden, stimmt die Wochenendregelung vielleicht nicht mehr, weil sie ihre Zeit mit den Kollegen und Koleginnen verbringen wollen. Man muss eventuell Weihnachten anders gestalten. Man muss den Kopf und den Fächer öffnen, um flexibel zu sein, das beinhaltet auch Chancen für die Kinder.»
6Art. 297 Abs. 1 ZGB.
7Art. 297 Abs. 2 ZGB.
8Art. 311 und 312