Gemeinsam Eltern bleiben. Margret Bürgisser
wurde er weiterentwickelt, getrennt von der ebenfalls anstehenden Revision des Unterhaltsrechts. Nach dem Amtsantritt von Bundesrätin Simonetta Sommaruga ging das Dossier in deren Hände über. Sommaruga zog kurzfristig in Erwägung, die Sorgerechtsvorlage mit jener über den Unterhalt zusammenzulegen. Dies führte bei den Männer- und Väterorganisationen, die eine weitere Verzögerung der Gesetzesrevision befürchteten, zu einem Sturm der Entrüstung. Im Rahmen der Aktion «Schick en Stei» deponierten sie Pflastersteine auf dem Bundeshausplatz und brachten damit ihren Unmut zum Ausdruck. Das Medienecho war enorm und verfehlte seine Wirkung nicht. Die Sorgerechtsrevision wurde wieder alleine vorangetrieben. Im November 2011 legte der Bundesrat den neuen Gesetzestext vor, der im Sommer 2012 vom Nationalrat behandelt und verabschiedet wurde. Nach der Behandlung im Ständerat und nach Differenzbereinigungen in der Sommersession 2013 fand das neue Recht seine endgültige Form. Die Revision des Unterhaltsrechts soll nun ebenfalls zügig vorangetrieben werden, womit eine wichtige Forderung von Frauenseite erfüllt wird.
1.6Zielsetzung des neuen Gesetzes
Das neue Sorgerechtsgesetz bringt zum Ausdruck, dass Paare sich zwar trennen können, als Eltern aber weiterhin gemeinsam in der Verantwortung bleiben. Es fordert sie auf, den Paarkonflikt vom Kindeswohl zu trennen und im Interesse der Kinder über Trennung und Scheidung hinaus alltagstaugliche Lösungen zu entwickeln. Das ist auch ein Vertrauensbeweis in die Kompetenz und Entwicklungsfähigkeit der betroffenen Erwachsenen. Wer es nicht aus eigener Kraft schafft, diesem Ziel zu entsprechen, wird auf professionelle Hilfsangebote (Mediation etc.) verwiesen.
Das Gesetz verdeutlicht die Haltung, dass das Kind ein Recht auf beide Eltern hat und dass man sich als Eltern nicht trennen kann. Es ist ein Signal, dass die Verantwortung für das Kind etwas Dauerhaftes ist, eine Verpflichtung, die bis zur Volljährigkeit oder zum Abschluss der Ausbildung dauert. Die Psychologin Liselotte Staub begrüsst die Änderung: «Natürlich wird es Eltern geben, die mit der gemeinsamen elterlichen Sorge nicht zurechtkommen werden, z.B. bei Persönlichkeitsstörungen, Kriminalität etc. Doch wir vollziehen einen Paradigmenwechsel. Die gemeinsame elterliche Sorge wird künftig der Normalfall sein und die alleinige elterliche Sorge der Ausnahmefall.»
Das Gesetz wird eine gewisse Symbolwirkung entfalten, weil es der Bürgerin und dem Bürger mitteilt, welches die gesellschaftlichen Erwartungen sind und was im heutigen Kontext ein «normales» elterliches Verhalten ist. Es wird sich eine neue gesellschaftliche Haltung entwickeln, wobei ja immer die Frage da ist: Beeinflusst das Recht die gesellschaftliche Haltung oder führt eine veränderte gesellschaftliche Haltung zu Anpassungen im Gesetz? Vermutlich beeinflusst sich beides gegenseitig.
1.7Erwartungen und Hoffnungen
Allgemeine Einschätzung
Die Väter- und Männerorganisationen sowie viele Fachleute und Politiker/-innen befürworten die gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall. Sie betonen, das Gesetz sei gemacht für die «normale» Mehrheit, nicht für jene Paare, die sich in unerbittliche Streitigkeiten verstricken. 90 bis 95% der Scheidungswilligen werden ja relativ problemlos geschieden. Das Gesetz fordert sie auf, das Kindeswohl noch bewusster ins Zentrum zu stellen. Da die gemeinsame elterliche Sorge künftig für alle gilt, werden viele Diskussionen und auch viel Streitpotenzial entfallen. Personen, die die Fähigkeit zur Kommunikation nicht haben, wird man künftig eine Mediation vorschlagen oder behördlich anordnen. Und das Gericht wird generell eine Unterhalts- und Betreuungsvereinbarung verlangen und diese bezüglich des Kindeswohls überprüfen. Wenn Paare die Voraussetzungen zur Ausübung jedoch nicht haben (vgl. Abschnitt 1.4), müssen ergänzende Massnahmen (Alleinige Sorge, Kindesschutz etc.) zur Anwendung kommen.
Vorteile der gemeinsamen elterlichen Sorge
Artikel 18 der Kinderrechtskonvention hält fest, dass «die Verantwortung der Erziehung des Kindes in erster Linie beiden Eltern gemeinsam obliegt und es die Pflicht des Staates ist, die Eltern bei dieser Aufgabe zu unterstützen. (…) Der Staat hat alles daran zu setzen, dass jedes Kind eine emotionale Verbundenheit mit seinen Eltern pflegen kann, ohne dass die gelebte Betreuungs- und Beziehungsrealität ausgeblendet wird» (Müller 2011, S. 8). Die gemeinsame elterliche Sorge ermöglicht es den Eltern, die in der Ehe geltenden Betreuungsverhältnisse auch über die Scheidung hinaus weiterzuführen. Dabei überlässt sie es ihnen, optimale Betreuungsverhältnisse auszuhandeln. Es kommen also nicht einfach gerichtlich akzeptierte Standardlösungen zur Anwendung (z.B. Besuchsrecht jedes zweite Wochenende und drei Wochen Ferien). Die Gerichte werden den Paaren keine vorgegebenen Lösungen mehr überstülpen, sondern an deren Eigenverantwortung und Verantwortungsbewusstsein appellieren und sie ermutigen, Lösungen zu entwickeln, die mit dem Kindeswohl verträglich sind.
Gutachterinnen und Gutachter werden zudem froh sein, dass sie die Sorge nicht mehr einem einzigen Elternteil zuweisen müssen. Künftig können sie wirklich im Interesse des Kindeswohls entscheiden und müssen nicht mehr den einen Elternteil gegenüber dem anderen bevorzugen. Liselotte Staub ist auch als Gutachterin tätig und kennt die Problematik aus jahrelanger Erfahrung: «Vor fünf bis zehn Jahren musste ich jeweils entscheiden: Welches ist der bessere Elternteil? Ich hatte keine Chance, einem Vater, der mehr sein wollte als nur ein Wochenendvater, entgegenzukommen, sofern er die gemeinsame Sorge nicht hatte. Ich musste entscheiden, wer bekommt das Kind, das heisst, gibt es einen Besuchsvater oder eine Besuchsmutter? Mit dem neuen Gesetz kann ich nun mit den Eltern reden und schauen, wie man die Betreuung regeln und an das Kind anpassen kann. Ich kann das Kindeswohl ins Zentrum stellen und fragen: Was ist am besten für das Kind?»
Erwartete positive Wirkungen
Das revidierte Gesetz stellt eine Anpassung an internationales Recht dar. Die Schweiz hat im Vergleich zu anderen europäischen Ländern einen gewissen Rückstand aufzuholen. Die allgemeine Entwicklung in Europa geht in Richtung einer Verbesserung der rechtlichen Situation des Vaters, und zwar auch dann, wenn dieser mit der Mutter des Kindes nicht verheiratet ist.34 Im Allgemeinen bevorzugen die europäischen Gesetzgeber35 die gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge sowohl für die geschiedenen als auch für die unverheirateten Eltern. Die Modalitäten der Ausübung des gemeinsamen Sorgerechts sind jedoch je nach Land sehr unterschiedlich ausgestaltet.
Das neue Gesetz dürfte bei den Männern eine Symbolwirkung haben. Der mit diesem Gesetz vollzogene Paradigmenwechsel bedeutet einen Wendepunkt für motivierte Väter. Sie werden sich künftig mehr wertgeschätzt und stärker in die Verantwortung eingebunden fühlen. Ihre Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, wird nicht mehr vom Gesetz beschnitten. Jedes Paar wird entsprechend den persönlichen Umständen entscheiden können, wie viel Betreuung jeder Elternteil übernimmt. Es ist jetzt nicht mehr einfach das Gesetz, das vorgibt, was gilt. Noch einen Vorteil hat die gemeinsame elterliche Sorge. Es gibt leider auch Väter, die sich nicht genügend um ihre Kinder kümmern. Und da haben Gerichte künftig eine Handhabe: Wenn Väter nicht einsichtig sind und ihre Verantwortung nicht wahrnehmen, kann man sie in eine Mediation schicken, desgleichen Mütter, die das Besuchsrecht vereiteln wollen.
Letztlich werden auch die Kinder – was ja die zentrale Zielsetzung ist – von der Gesetzesrevision profitieren. Mediator Max Peter äussert die Hoffnung, «dass die Kinder in Zukunft weniger im Fokus der Streitigkeiten der Eltern sind, wenn diese auseinandergehen. Dass sie weniger zum Pfand oder zu Kronzeugen werden im Scheidungsverfahren, z.B. wenn sie aussagen müssen. Wenn Väter und Mütter gleichberechtigt sind, wird daraus schon im Vorfeld von Trennung und Scheidung eine andere Haltung entstehen, sodass die Kinder weniger instrumentalisiert werden.»
1.8Kritik und Vorbehalte
Kritikerinnen und Kritiker bezweifeln, dass die gemeinsame elterliche Sorge konsequent, also als Regelfall, angewendet wird. Anwalt Reto Wehrli bemängelt, das Gesetz umfasse immer noch zu viele Vorbehalte. Anwälten