smartphone geht vor. Thomas Schutz

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größer und vielfältiger. Die Ablenkung scheint den Kampf um die Aufmerksamkeit für sich entschieden zu haben. Das mag man bedauern und beklagen. Aber es ist recht wahrscheinlich, dass das Internet nicht wieder verschwinden und die gefühlte Zeit sich weiterhin exponentiell beschleunigen wird.

      Mit der Biene Maja fing in unserer Kindheit um 16:04 Uhr nach der ersten Nachrichtensendung des Tages das Fernsehprogramm auf dem zweiten Kanal an. Vorher lief auf allen (drei!) Kanälen das Testbild. Unspektakulär, sodass sich der Fernsehkonsum in überschaubaren Grenzen hielt. Doch war in dieser Zeit ein Fernsehgerät pro Haushalt mit drei Fernsehkanälen der Quell des medialen Inputs.

      So standen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahre 2013 zwar durchschnittlich nur 1,9 Fernsehgeräte pro Haushalt zur Verfügung. Doch stieg nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF) sowohl die Anzahl der pro Haushalt empfangbaren Fernsehsender deutlich auf bis zu 80 Sender an (Stand: Januar 2012) als auch der durchschnittliche Fernsehkonsum von 190 Minuten im Jahre 2000 auf 222 Minuten im Jahre 2012 (AGF: Entwicklung der durchschnittlichen Sehdauer, Web.). Dank mobiler Endgeräte wie Smartphones ist der Informations- und Kommunikationskonsum zudem ortsunabhängig, zeitlich wahlweise synchron oder asynchron als auch multichannel geworden, sodass auch unterwegs und nicht nur vor dem Fernseher nach Herzenslust gezappt werden kann. Laut einer Umfrage der Akademie der Media (Stuttgart) und der Agentur Mind­share Marketing nutzen junge Leute ihre Smartphones täglich dreieinhalb Stunden, am wenigsten zum Telefonieren: 13 Minuten. Aus dem Homo sapiens wurde ein »Homo zappiens« (Veen/Vrakking, 2006).

      |Abb. 2| WhatsApp ist wichtiger als Facebook und Twitter.

      Wenn wir uns jetzt in ein Kind hineinversetzen, das heute die Biene Maja schauen möchte, so hat es sowohl eine Vielzahl unterschiedlicher Geräte und Medien als auch Orte und Uhrzeiten zur Auswahl. Ferner wird dem Kind auch gleich eine Anschlussbeschäftigung zum Weitersehen oder Weiterklicken im Internet angeboten. Da die Umwelt des Kindes – die Erwachsenen und Gleichaltrigen – dem Kind auch bei anderen Themen des alltäglichen Lebens ein ähnliches Verhalten vorlebt, wird es diesen allgegenwärtigen Informationskonsum und Technikgebrauch als normal ansehen.

      Aber nicht nur die Verfügbarkeit von Informationen scheint technisch immer grenzenloser zu werden. In der Schule und im Studium sagte man uns, dass sich das Wissen in der Welt alle zwei Jahre verdoppeln würde. Was denken Sie: Wann verdoppelte sich 2006 die neue, weltweit zur Verfügung stehende technische Information, wann 2010 und wie sieht es heute aus? Oder anders gefragt: Schätzen Sie bitte, wie viele Stunden ein heute 11-jähriges Kind im Jahre 2020 damit verbracht hat:

      •Videogames zu spielen?

      •vor dem Fernseher zu sitzen?

      •sich mit mobilen Endgeräten zu beschäftigen?

      •E-Mails zu versenden?

      •ein Buch zu lesen?

      Wenn also Kinder und Jugendliche spätestens ab 1995 mit diesen digitalen Technologien und der schier unbegrenzten Informationsflut aufgewachsen sind und das als die normale Umwelt betrachten, was hat diese dann mit ihren Gehirnen gemacht?

      Bevor wir auf die Reise in ein Gen Y/Gen Z-Gehirn von heute gehen, ein paar Vorbemerkungen zum wissenschaftlichen Diskurs in diesem für alle Bereiche des Lernens und Arbeitens virulenten Forschungsfeld.

      Neue Medien = neue Gehirne = neue Jugend = neues Lernen?

      Seit Marc Prensky (2001a, 2007) den Begriff der Digital Natives für eine Generation einführte, die zum einen mit den digitalen Technologien­ ­aufgewachsen und vertraut ist, zum anderen durch ganz andere ­Erfahrungen geprägt wurde und ganz anders ist als ihre Elterngeneration (Digital Immigrants), hat eine Kontroverse eingesetzt, ob die Gehirne dieser Generation anders ausgebildet sind, und wenn ja, was dies für das Lehren und Lernen bedeutet.

      Das von Prensky beschriebene Phänomen kann jeder Lehrende, ob Elternteil, Lehrer oder Hochschuldozent, anhand seiner alltäglichen Lehrerfahrungen bestätigen, sodass dieses Phänomen recht plausibel erscheint. Doch weisen viele Fachleute auch darauf hin, dass Belege dafür fehlen, dass die Gehirne der jüngeren Generationen qualitativ anders funktionieren, denken, fühlen, kommunizieren und lernen (vgl. Schulmeister, 2008; vgl. Helsper/Eynon, 2009; vgl. Kerres, 2013). Betrachtet man bei dieser Kontroverse, aus welchen Generationen und Disziplinen Pro- und Kontraargumentationen mit und ohne wissenschaftliche Belege geführt werden, hat man oft den Eindruck, dass hier mehrere Fragestellungen, Argumentationsstränge und Grundsatzposi­tionen nicht zielführend und sachgerecht miteinander verwoben werden. Dies mag interessant erscheinen, hat aber mitunter nur einen bedingten Mehrwert, da die eigentliche Fragestellung in den Hintergrund zu rücken scheint. Der Begriff Neuroplastizität ist dabei zu einer mächtigen Metapher geworden, und zwar als Argument sowohl für als auch gegen den digitalen Medienkonsum, sodass er dabei selbst plastisch wurde (vgl. Choudhury/McKinney, 2013). Dieser fehlende Mehrwert gipfelt dann in der Forderung, dass die eine richtige lerntheoretische Position und die eine richtige Lehr-/Lernmethode für das Problem doch endlich zu benennen sei. In diesem Diskursstadium finden sich Formulierungen wie: »Der Behaviorismus wird durch den Konstruktivismus überwunden, alle Seminare jetzt auch im Blended-learning-Ansatz« oder »mit NLP sind alle Lernprobleme und alle Lebenskrisen lösbar – bei ­jedem«.

      Die Komplexität des Lernens und die Komplexität der heutigen Lern- und Bildungswelten legen nahe, dass eine einfache Reduktion auf eine Methode für alle Lehrenden und Lernenden und schlichte Entweder-oder-Reflexe zu vermeiden sind. Es wird dafür plädiert, das Phänomen Lernen in der digitalen Ära bzw. Lernen an sich aus unterschiedlichen, sich nicht wechselseitig ausschließenden Positionen und Perspektiven zu betrachten: Diese sind weder gut noch schlecht, alle in jedem Kontext richtig oder falsch, noch gibt es den einen Musterschüler oder den typischen Studierenden der Net-Generation. Die zunehmende Heterogenität der Lerngruppen als auch die Individualität des Lerner- und Lehrendengehirns in seinen unterschiedlichen Lernprägungen lassen in ihrer alltäglichen und komplexen Wechselwirkung nur eine offene, pragmatische Sichtweise im Bildungsprozess zu. Zunächst wird betrachtet, wie diese unterschiedlichen Prägungen neurobiologisch gekennzeichnet und wie dadurch wiederum die Generationen geprägt sind (Kap. 2).

      1.1Unser Gehirn passt sich plastisch den exponentiellen Zeiten an

      |Abb. 3| Gall’scher Schädel, Wien 1812

      »Die erste Welle der Hirnforschung lieferte vor einigen Jahren mehr Fiktion als Fakten. Nun liegen neue […] hilfreiche Erkenntnisse vor.« (Waytz/Mason, 2013, S. 36)

      Wie das menschliche Gehirn funktioniert, hat die Menschheit seit jeher interessiert: Es wurden ganze Sammlungen von (Elite-)Gehirnen angelegt, um ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken. Am Ende des 18. Jahrhunderts geschah das zunächst auf kuriose und vorwissen­schaftliche Art und Weise. Zum Beispiel verortete der deutsche Mediziner Franz-Joseph Gall (1758–1828) bestimmte Charakter- und Persönlichkeitseigenschaften anhand der Schädelform in bestimmten Gehirnarealen: Ein langer Hinterkopf zeuge beispielsweise von Anhänglichkeit, eine Wölbung über dem rechten Auge von Ortssinn (|Abb. 3| vgl. Critchley, 1965; vgl. Greenblatt, 1995). Seine von ihm entwickelte Kombination von Physiognomie und Gehirnlokalisation nannte er zunächst Kraniologie – die Wissenschaft vom Schädel. Anschließend Organologie – die Wissenschaft von den Organen im Gehirn – und kurze Zeit später wurde die Wissenschaft als Phrenologie bezeichnet – »the science of the mind« (Greenblatt, 1995, S. 790–05).

      In der Tagespublizistik des 19. Jahrhunderts waren seine Theorien »ein Ereignis« (vgl. Deneke, 1985), seine öffentlichen Vorträge auf seiner zweieinhalbjährigen Vortragstour (1805–1807) überwältigend. Wobei der Wissenschaftshistoriker John van


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