Vorsprung für alle!. Catherine Walter-Laager
der Kinder. Von diesen wird angenommen, dass sie genetisch-biologisch vorgegeben und relativ unveränderbar sind und deshalb schon vor Schuleintritt bestehen (Stojanov 2013). Die Möglichkeiten, Ungleichheiten auszugleichen, sind für das Bildungswesen sehr beschränkt, und dies zu versuchen wird auch nicht als sinnvoll erachtet, da man sonst den verschiedenen Begabungen der Kinder nicht gerecht würde. Ein begabteres Kind kann in dieser Logik mehr mit Bildung anfangen als ein weniger begabtes, deshalb erscheint es als gerecht und sinnvoll, dafür zu sorgen, dass es mehr davon bekommt. Gleichheit wird hier nur in dem Sinne angestrebt, dass bei gleichen Voraussetzungen (Begabungen) auch die gleichen Chancen auf Verwirklichung (Zugang zu Bildung) bestehen sollen (Stojanov 2013; Rolff 1989).
Das Bildungswesen ist leistungsgerecht, wenn es denjenigen mehr und höhere Bildung zugesteht, die sich durch höhere Leistung auszeichnen. Wie bei der Begabungsgerechtigkeit soll also die Zuteilung von Bildungsangeboten explizit nicht nach persönlichen Merkmalen wie dem Geschlecht oder Herkunftskriterien wie dem sozialen Status der Eltern erfolgen, da dies in dieser Optik zu Bildungsungerechtigkeit führt. Das Kriterium der Leistungsgerechtigkeit setzt voraus, dass Leistungen exakt gemessen und verglichen werden können. Außerdem muss man sich auf Leistungen in bestimmten Bereichen beschränken, die quantifizierbar und standardisierbar sind (Stojanov 2013). Üblicherweise wird der Schwerpunkt auf individuelle kognitive Leistungen gelegt (Intelligenz, Sprachfähigkeiten). Zwar orientiert sich die Leistungsgerechtigkeit wie die Begabungsgerechtigkeit am Gleichheitsprinzip. Aber auch hier geht es nicht um «gleiche Chancen für alle», sondern darum, dass bei gleichen Leistungen alle die gleichen Chancen (auf Zugang zu Bildung) haben sollen.
Von Begabungs- und Leistungsgerechtigkeit grundsätzlich abzugrenzen ist die Anerkennungsgerechtigkeit (vgl. Honneth 1992). Hier liegt der Fokus darauf, die Autonomiefähigkeit des Individuums zu stärken. Dieses soll mit seinen spezifischen Fähigkeiten anerkannt werden, es soll ihm Empathie, moralischer Respekt und soziale Wertschätzung entgegengebracht werden, damit es seine Potenziale entwickeln und verwirklichen kann. Das Bildungswesen gilt dann als gerecht, wenn es diese Anerkennungsformen ins Zentrum des pädagogischen Handelns stellt. In Übereinstimmung mit der Position des Philosophen John Rawls wird eher eine Gleichheit von allen und Gleichheit beim Ziel angestrebt: Kinder, die als weniger begabt gelten, sollen vergleichsweise mehr Mittel für Bildung erhalten, um die Gerechtigkeitsanforderungen erfüllen zu können (Stojanov 2013).
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Pädagogik der frühen Kindheit
in der Schweiz
Die kurze Übersicht hat gezeigt, dass mit Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit sehr Unterschiedliches, teils Widersprüchliches und Gegensätzliches gemeint sein kann. Nun geht es um die Frage, was die Pädagogik der frühen Kindheit in der Schweiz darunter versteht und welche Konsequenzen das für die Ausgestaltung pädagogischen Handelns hat. Dies soll anhand von einigen ausgewählten Publikationen beantwortet werden.
Die Autoren des Berichts «Familien – Erziehung – Bildung» bevorzugen den Begriff Chancengerechtigkeit (beziehungsweise Equity), weil Chancengleichheit «missverständlich» sei (Moser & Lanfranchi 2008, S. 13). Die Autoren argumentieren, dass ein gewisses Maß an sozialer Ungleichheit in jeder Gesellschaft unvermeidlich sei – und das Bildungswesen deshalb nur beschränkt etwas daran ändern könne (ebd.). Auch der «Bildungsbericht Schweiz» der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung von 2010 macht sich für den Begriff Equity zur Umschreibung von Chancengerechtigkeit stark, da Chancengleichheit «nach einer langen ideologisch geprägten Debatte in den letzten Jahrzehnten nicht nur positiv besetzt» sei (Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung 2010, S. 32). Im Gegensatz zu diesen beiden Beispielen wird aber in vielen anderen Publikationen nicht systematisch unterschieden zwischen Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit, oder aber der Begriff Chancengleichheit wird bevorzugt verwendet.
Der Evaluationsbericht der Pädagogischen Hochschule Luzern «Integrationsförderung im Frühbereich» (Buholzer 2012) verwendet Chancengleichheit und -gerechtigkeit weitgehend gleichbedeutend. Die beiden Begriffe gelten als zentrale Ziele von früher Förderung und Bildung. Mit Chancengleichheit sind vor allem Startchancen beim Eintritt in Kindergarten und Schule gemeint. Allerdings ist unklar, ob diese Startchancen für alle wirklich gleich sein sollen oder ob es nur darum geht, Startchancen für benachteiligte Kinder zu verbessern, sie also den privilegierteren Kindern anzugleichen. Da die Verbesserung von Startchancen nicht nur auf Schule, sondern auch auf den Einstieg in die Arbeitswelt bezogen wird, stellt sich die Frage, ob dies auf eine Angleichung der Schulleistungen bei Ende der Schulzeit hinauslaufen würde, also eine angestrebte Gleichheit am Ziel. Die frühe Förderung richtet sich zwar formell an alle Kinder, jedoch liegt der Fokus auf Kindern «aus sozial benachteiligten Familien, vornehmlich solchen mit Migrationshintergrund». Diese sollen nicht separiert, sondern «innerhalb Regelstrukturen» (also in heterogenen Gruppen) gefördert werden (ebd.).
Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich veröffentlichte 2009 den Hintergrundbericht «Frühe Förderung» (Bildungsdirektion Kanton Zürich 2009). Auch hier wird nicht systematisch zwischen Chancengleichheit und -gerechtigkeit unterschieden, beide Begriffe werden häufig schlagwortartig verwendet. Chancengleichheit meint die Abschwächung von Benachteiligungen gewisser Kinder durch frühe Förderung. Fremdsprachige Vorschulkinder sollen beispielsweise im Hinblick auf den Schulstart in der Zweitsprache Deutsch gefördert werden. Das Ziel ist also nicht, dass die Startchancen für alle gleich sind, sondern nur, dass sie für benachteiligte Kinder besser werden. Um das zu erreichen, sollen sowohl eine «allgemeine frühe Förderung» (für alle Kinder) als auch eine «besondere frühe Förderung» (für Kinder, die diese speziell benötigen) angeboten werden (ebd.).
Im Schlussbericht «Better together» der Hochschule Luzern (Hafen 2012) wird nur von Chancengleichheit gesprochen. Diese wird als zentraler Wert für moderne Gesellschaften bezeichnet und «bedeutet …, dass niemand aufgrund seiner sozialen Herkunft, seiner Geschlechtszugehörigkeit, seiner ethnischen Herkunft und anderer sozialer Merkmale im Bildungssystem benachteiligt werden darf» (ebd., S. 70). Daneben werden gleiche Zugangsmöglichkeiten zu Kindergarten und Schule genannt. Unterschiede aufgrund verschiedener Leistungen gelten als gerecht, aufgrund persönlicher oder familiärer Merkmale aber als ungerecht. Anders als in anderen Publikationen bedeutet Chancengleichheit hier auch, dass alle Kinder «gleich behandelt» werden sollen, wobei unklar ist, ob das bereits vor der Schule oder erst während der obligatorischen Schulzeit gelten soll (ebd.).
Der Bericht «Integrationsförderung im Frühbereich» des Universitären Zentrums für frühkindliche Bildung Fribourg (ZeFF) der Universität Fribourg (Stamm et al. 2011) legt gegenüber den anderen Publikationen Wert auf eine Trennung von Chancengleichheit und -gerechtigkeit. Chancengleichheit meint «die gleiche Chance zu Leistungsentfaltung und -bestätigung» für alle, möglichst unabhängig von ihrer sozialen Herkunft (ebd., S. 67). Die Autorinnen und Autoren sprechen hier also explizit nicht von gleichen Chancen auf Förderung oder Bildung, sondern betonen den Leistungsaspekt. Mit Chancengerechtigkeit ist die «Verteilung von Chancen in Abhängigkeit der individuellen Bedarfslage» gemeint (ebd.). Die Überlegung ist hier, dass nicht alle Kinder dieselbe Förderung brauchen. Deshalb müssen sie unterschiedlich behandelt werden, damit alle das ihnen «Entwicklungsangemessene» erhalten (ebd.). Chancengleichheit soll bei Schuleintritt gewährleistet werden, wobei die Startchancen nicht zwingend gleich, sondern ebenfalls «entwicklungsangemessen» sein sollen. Es bleibt unklar, was das genau bedeutet, wie beispielsweise Bedarf und Angemessenheit bestimmt werden können. Klar ist aber zumindest, dass benachteiligte Kinder mit Migrationshintergrund eine «andere Begleitung und Betreuung … als nicht benachteiligte Kinder» brauchen und auf «zusätzliche Unterstützung» angewiesen sind (ebd., S. 21). Vorschulangebote sollen demzufolge besonders für benachteiligte Kinder ausgebaut werden (ebd.).
Im «Aktionsplan ‹PISA 2000›-Folgemassnahmen» (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren [EDK] 2003) sind der Frühbereich und die Vorschulstufe (Kindergarten) und dabei besonders die Forderung nach Chancengleichheit bzw. -gerechtigkeit wichtige Ansatzpunkte für Maßnahmen, welche im Anschluss an die PISA-2000-Untersuchung beschlossen wurden. Chancengleichheit soll als «Orientierung für die Systementwicklung» dienen, sie wird im Sinn einer Startchancengleichheit