Vorsprung für alle!. Catherine Walter-Laager
Ansatzpunkt für Kritik. Gemäß dem Erziehungswissenschaftler Helmut Heid setzt es voraus, dass etwas aufgrund von Kriterien als Leistung bewertet wird. Diese Kriterien werden von denjenigen festgelegt, die vom Leistungsprinzip profitieren und dadurch ihre sozial höhere Position in der Gesellschaft rechtfertigen können. Diese Kritik zielt in eine ähnliche Richtung wie zuvor bei den Begabungen: Es hängt von der sozialen Herkunft des Kindes ab, ob etwas, das es tut, als Leistung erkannt und anerkannt wird (Heid 2012). Ein privilegiertes Kind lernt beispielsweise früh, seine aktuellen Bedürfnisse zugunsten eines entfernten Ziels, etwa einer guten Note, zurückzustellen (Ryffel 2010); seine Schulleistung wird deshalb langfristig vergleichsweise besser bewertet werden. Was benachteiligte Kinder tun, wird demgegenüber weniger mit Leistung in Verbindung gebracht. Diese Zusammenhänge werden aber häufig übersehen, weil das Leistungsprinzip irrtümlicherweise als universal und herkunftsunabhängig gilt (Heid 2012). «Leistung» entscheidet in einer meritokratischen Gesellschaft mehrheitlich darüber, wer Zugang zu weiterführender Ausbildung erhält. Das wiederum hat Konsequenzen für Berufswahlmöglichkeiten, den erreichbaren sozialen Status und generell die späteren Lebensbedingungen. Nur wegen des Leistungsprinzips erscheint es als legitim und gerecht, dass das Bildungswesen Selektion betreibt und damit einen so bedeutenden Einfluss darauf hat, was aus einem Menschen einmal werden kann (Bellenberg 2010). Geht man aber davon aus, dass Leistung herkunftsabhängig verschieden bewertet wird, erscheint diese Legitimität infrage gestellt.
Die Frage, wie man mit sozialer Ungleichheit umgehen soll, ist in pädagogischen Kontexten hoch relevant. Es wird gemeinhin angenommen, dass bei größerer Chancengleichheit im Bildungswesen die soziale Ungleichheit weniger ausgeprägt ist. Heid (1988) hält diese Annahme für falsch. Er argumentiert sogar, dass das Gegenteil der Fall sei: Wer Chancengleichheit fordert, nimmt Ungleichheit in Kauf, ja rechtfertigt sie sogar. Das Bildungswesen hat unter anderem die Funktion, seinen Absolventinnen und Absolventen gesellschaftliche Positionen zuzuteilen. Wenn Chancengleichheit herrscht, bedeutet das nur, dass mehr Personen um die gleiche Anzahl «guter Plätze» (also beispielsweise gute Ausbildungen oder gut bezahlte Arbeitsplätze) buhlen. Die Konkurrenz nach Ende der obligatorischen Schulzeit wird also verstärkt, ohne dass etwas an der Logik der Positionszuteilung verändert worden wäre.4 Dass alle gleiche Chancen haben (sollen), bedeutet auch, dass nur ein Teil von ihnen ihre Chance auch nutzen können. In der Forderung nach Chancengleichheit, sei es beim Schulstart oder am Ende der Schulzeit, steckt also immer auch die Annahme, dass es nicht alle schaffen können und dass viele scheitern (müssen). Der Entscheid über Erfolg und Misserfolg in der Bildung wird individualisiert: Jede und jeder scheint es aus eigenem Antrieb zum Beispiel an die Universität schaffen zu können, da ihr und ihm ja die Chance dazu geboten wurde.5 Weil auch die Gescheiterten eine (gleiche oder gerechte) Chance hatten, wird ihr Scheitern als gerechtfertigt wahrgenommen, und sie müssen sich mit einem wenig einträglichen Beruf und geringeren Lebenschancen begnügen. Chancengleichheit im Bildungswesen bewirkt und rechtfertigt auf diese Weise soziale Ungleichheit, obwohl sie ursprünglich zum Ziel hatte, diese zu verringern (Heid 1988; Ryffel 2010; Böhm 2005; Rolff 1989).
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Fazit
Die Forderung nach Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit ist nicht so unumstritten, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Während einschlägige frühpädagogische Publikationen weitgehend wohlwollend darauf Bezug nehmen, zeigen sich bedeutende Skepsis und Kritik von erziehungswissenschaftlicher wie soziologischer Seite.
Ein Blick auf wissenschaftliche Studien zeigt, dass Chancengleichheit häufig nicht oder nur unvollständig gewährleistet werden kann, auch beim Schuleintritt (Startchancengleichheit). Zwar attestieren einige Untersuchungen gewissen Vorschulangeboten eine chancenausgleichende Wirkung, aber es gibt auch Hinweise darauf, dass sie herkunftsbedingte Differenzen zwischen Kindern im Vorschulalter verstärken können. Weiter ist zu bedenken, dass gebildete und gut situierte Eltern häufiger familienergänzende Betreuung und frühe Förderung für ihre Kinder wählen (z.B. Schmid et al. 2011; Stamm 2013). Dies hat zur Folge, dass benachteiligte Kinder häufig gar nicht in den Genuss eines Chancenausgleichs kommen können. Diese Erkenntnisse zusammengenommen deuten nicht darauf hin, dass Chancengleichheit in Zukunft vermehrt erreicht werden könnte. Tendenziell könnten sich die heutigen Differenzen unter den gegebenen Umständen eher noch verschärfen.
Eine Erhöhung der Chancengleichheit führt nicht, wie üblicherweise angenommen, zu einer Verringerung von sozialer Ungleichheit. Denn auch wenn alle am Ende der obligatorischen Schule die gleichen Chancen auf einen guten Ausbildungs- und später Arbeitsplatz hätten, stünde nur eine begrenzte Anzahl solcher «guter Plätze» zur Verfügung. Soziale Ungleichheiten, zum Beispiel in Form von ungleich verteilten Einkommen, bestünden also auch bei vollständiger Chancengleichheit nach Schulabschluss.
Der Begriff Chancengerechtigkeit bezieht sich wesentlich auf Begabungs- und Leistungsgerechtigkeit: Wer begabter ist oder mehr leistet, soll auch mehr erhalten, beispielsweise Zugang zu höherer Ausbildung. Doch wer entscheidet mit welchen Kriterien darüber, welche Fähigkeiten und Talente und welches Potenzial ein Kind hat? Bourdieu (1971) und Heid (2012) argumentieren, dass privilegiert aufwachsenden Kindern eher eine Begabung oder eine Leistung zugeschrieben wird als benachteiligten. Folgt man dieser Argumentation, erscheinen Begabungs- und Leistungsprinzip wenig geeignet, um Gerechtigkeit herzustellen. Denn dann ist es – zwar versteckter, aber immer noch – die familiäre Herkunft, die über die Bildungschancen entscheidet, was man eigentlich vermeiden wollte.
Es scheint sinnvoll, frühe Förderung und Bildung auf die Bedürfnisse der Kinder zuzuschneiden, um ihnen «gerecht» zu werden. Doch das kann sehr Unterschiedliches bedeuten. Bedeutet es, dass Erziehende mit Kindern, die zu Hause sprachlich wenig gefördert werden, intensiver an deren Sprachentwicklung arbeiten (sollen) als mit solchen, die sprachlich weiter entwickelt sind? Oder umgekehrt: Sollen sie die Sprachkünstlerinnen und -künstler mehr fördern, weil sie in ihnen mehr Potenzial sehen, ihre Sprachfähigkeiten noch weiter zu entwickeln? Und welche Variante ist gerecht(er)?
Diese Einwände stellen infrage, ob Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit sinnvolle bildungspolitische Ziele sind. Doch welche Alternativen gibt es für das Bildungswesen und speziell für die Frühpädagogik?
Eine Möglichkeit besteht darin, im Vorschulalter Fähigkeiten und Interessen von benachteiligten Kindern zu stärken, um ihren Rückstand auf die privilegiert Aufwachsenden möglichst gering zu halten. Wie das allenfalls vor sich gehen kann, zeigen in diesem Band vorgestellte Projekte. Schulische Differenzen sind aber nicht nur auf solche Grundfähigkeiten, sondern auch auf den schulischen Habitus zurückzuführen. Deshalb müssen die Kinder auch explizit auf die Lernkultur in den Bildungsinstitutionen vorbereitet werden (z.B. Lernmotivation; Fähigkeit, Bedürfnisse zurückstellen können). Allerdings zielen beide Ansätze vor allem darauf, die Kinder möglichst den Anforderungen der Schule anzupassen. Aber wäre es letztlich nicht sinnvoller, den Spieß umzudrehen und die Schule den Anforderungen der Kinder anzupassen? Dann nämlich wäre es möglich, die verschiedenen Kinder als Individuen mit allen ihren Eigen- und Besonderheiten anzuerkennen und sie dabei zu unterstützen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Dazu brauchte es aber eine grundlegende Auseinandersetzung mit den Aufgaben und Funktionen von Schule und was von dieser honoriert und gefördert werden soll.
Ein weiterer Ansatz wäre, darauf hinzuweisen, dass Ungleichheiten zwischen Kindern in Bildungsinstitutionen nicht nur abgeschwächt, sondern unter Umständen auch verstärkt werden können. Es sollte vermehrt eine Sensibilität für den Umgang mit herkunftsbedingten Differenzen geschaffen werden, zum Beispiel in der Ausbildung oder in spezifischen Weiterbildungen von Erziehenden und Lehrpersonen.
Trotz dieser Alternativansätze stellt sich die Frage, ob das Bildungswesen überhaupt so etwas wie Gleichheit oder Gerechtigkeit herstellen kann. Denn soziale Ungleichheiten sind ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, sie zeigen sich nicht nur im Bildungswesen. Folgt man der Argumentation von Heid (1988), stellen soziale Ungleichheiten ein strukturelles Problem dar, das sich nicht bildungspolitisch lösen lässt. Aber den Vorschulinstitutionen und der Schule kommt trotzdem eine besondere Verantwortung