Vorsprung für alle!. Catherine Walter-Laager

Vorsprung für alle! - Catherine Walter-Laager


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als Problem dargestellt. Gefordert wird auch «Chancenfairness»: Für die Selektion im Bildungswesen sollen «adäquate Leistungskriterien und nicht sozio-kulturelle Kriterien ausschlaggebend» sein (ebd., S. 19). Um die Leistung derjenigen Jugendlichen zu verbessern, die bei PISA schlecht abgeschnitten haben, braucht es gemäß der EDK eine gezielte Förderung bereits in der Vorschulzeit, vor allem für «Fremdsprachige und bildungsferne Schichten» (ebd.).

      Zusammenfassend kann man sagen, dass beide Begriffe, Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit, in der Pädagogik der frühen Kindheit in der Schweiz gebräuchlich sind. Sie werden aber häufig nur als Schlagworte verwendet und nicht systematisch voneinander unterschieden. Meist ist damit die Vorstellung verbunden, dass die Startchancen von benachteiligten Kindern beim Eintritt in Kindergarten oder Schule verbessert oder den Startchancen von privilegierten Kindern angeglichen werden sollen. Die Forderung nach Gleichheit dieser Startchancen wird aber in der Regel aufgegeben mit dem Hinweis, dass dies sowieso nicht erreichbar sei. Mit einer Ausnahme1 beschränkt sich Chancengleichheit auf den Schulbeginn und nicht auf die obligatorische Schulzeit oder den Übergang in den Beruf. Man möchte allen Kindern einen guten Einstieg ins Bildungswesen bieten. Was aber danach bezüglich der Verteilung der Chancen passiert, welche Kinder mit welchem Hintergrund Aussichten auf welche weiterführende Bildung oder später Beschäftigungsmöglichkeiten haben, steht weniger im Zentrum des Interesses. Angestrebt wird also höchstens annäherungsweise die Gleichheit der Zugangschancen (beim Start), nicht aber Gleichheit im Ergebnis (beim Ziel).

      Dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit wird ein wichtiger Stellenwert eingeräumt. Ungleiche Bildungschancen gelten als gerecht oder fair, wenn sie durch unterschiedliche Leistungen entstehen, aber als ungerecht, wenn sie durch die soziale Herkunft (z.B. den sozialen Status der Familie) oder persönliche Merkmale (z.B. das Geschlecht) zustande kommen. Allerdings bleibt unklar, ob das Leistungsprinzip auch schon für die Vorschulzeit gelten soll. Der Begriff «Entwicklungsangemessenheit» deutet eher darauf hin, dass bestehende Fähigkeiten und Begabungen (die sich zwischen den Kindern unterscheiden) gefördert werden sollen. Aber bedeutet das, dass benachteiligte Kinder intensiver zu fördern sind, damit sie ihren Rückstand bis zur Einschulung aufholen können (gleiche Chancen für alle beziehungsweise uneingeschränktes Gleichheitsprinzip)? Oder sollen umgekehrt die begabteren Kinder bessere Förderung erhalten, weil ihnen mehr Potenzial zugesprochen wird (gleiche Chancen bei gleichen Voraussetzungen beziehungsweise Begabungsgerechtigkeit)? Die untersuchten Publikationen deuten darauf hin, dass in der Vorschulphase eher das Gleichheitsprinzip, im Verlauf der obligatorischen Schulzeit aber eher die Begabungs- oder Leistungsgerechtigkeit gelten sollen.2

       Skepsis und Kritik

      Kann nun durch frühpädagogische Angebote Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit überhaupt erreicht werden? Obwohl international vielfach untersucht, gibt es auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Frühe Förderung zeigt sowohl bei privilegierten wie nichtprivilegierten Kindern eine gewisse Wirkung, beispielsweise kognitiv oder sprachlich. Ob aber benachteiligte Kinder vergleichsweise größere Fortschritte machen (was in Richtung des Ziels der Chancengleichheit gehen würde), hängt von vielen Bedingungen ab und kann nicht eindeutig beantwortet werden (Betz 2010; Burger 2010; Rabe-Kleberg 2010).

      Es gibt verschiedene kritische Einwände. Erstens wies der Soziologe Pierre Bourdieu bereits in den 1960er-Jahren nach, dass der Zugang zu höherer Bildung eng mit der sozialen Herkunft zusammenhängt. Über Erfolg und Misserfolg im Bildungswesen bestimmt demnach maßgeblich das familiäre Milieu, in dem man von klein an aufwächst (Bourdieu & Passeron 1971). Die Schule setzt zweitens gewisse Grundkenntnisse, Techniken und Ausdrucksmöglichkeiten bereits voraus (z.B. in Bezug auf Sprachkenntnisse). Kinder, die diese Grundlagen schon zu Hause erworben haben, sind deshalb in der Schule im Vorteil, oder anders ausgedrückt: Die Schule belohnt die privilegierten Schülerinnen und Schüler aufgrund ihres Vorwissens. Entscheidend sind hier aber nicht nur konkrete kognitive oder sprachliche Fähigkeiten, sondern vor allem auch der «schulische Habitus», so beispielsweise die Fähigkeit, sich in die Klasse einzufügen, Rollen einzunehmen oder über längere Zeit fokussiert bleiben zu können. Dies haben benachteiligte Kinder weniger verinnerlicht (ebd.). Drittens wird argumentiert, dass Lehrpersonen auf ungleiche Lernvoraussetzungen von Kindern häufig mit Ungleichbehandlung reagieren. Jenen mit besseren Ausgangsbedingungen verschaffen sie zusätzliche Vorteile durch bessere Lernmöglichkeiten.3 Aus dieser Perspektive werden bestehende herkunftsspezifische Ungleichheiten durch die Schule nicht abgeschwächt, sondern sogar noch verstärkt (Heid 1988; vgl. Sturm 2013). Angesichts solcher Erkenntnisse bezeichnet Bourdieu Chancengleichheit insgesamt als «Illusion» (Bourdieu & Passeron 1971).

      Was bedeutet das nun für die Zeit vor dem Schuleintritt? Die Kinder werden schon früh durch die Verhältnisse und Gepflogenheiten in ihrer Familie sozialisiert. Gemäß den obigen Annahmen wird der vererbte familiäre Habitus dann in der Schule bedeutsam: Die Unterschiede zwischen den Kindern werden größer. Aber bereits in Spielgruppen, Kindertagesstätten und Kindergärten ist es wahrscheinlich, dass die unterschiedlichen Voraussetzungen, die die Kinder mitbringen, unterschiedlich bewertet und anerkannt werden. Es gibt Hinweise darauf, dass Erziehende anders mit privilegierten Kindern umgehen als mit benachteiligten (Betz 2010; Rabe-Kleberg 2010). Dies kann beispielsweise aus der Logik hervorgehen, dass es Erzieherinnen und Erziehern als lohnenswerter erscheint, Kinder zu fördern, welche in ihrer Entwicklung bereits weiter fortgeschritten sind. Als Erklärung dafür können zwei Gründe angeführt werden: Erstens ist denkbar, dass diesen fortgeschrittenen Kindern von den Erzieherinnen und Erziehern mehr Potenzial zugeschrieben wird, welches durch zusätzliche Förderung ausgeschöpft werden soll. Und zweitens: Geht man davon aus, dass weiter entwickelte Kinder bereits zu Hause eine gewisse Förderung erfahren haben, kann von den Eltern dieser Kinder angenommen werden, dass sie die Weiterführung dieser Förderung erwarten. Da es Erzieherinnen und Erzieher – so die Annahme – möglichst vermeiden wollen, diese Erwartungen der Eltern zu enttäuschen, werden sie deren Kinder eher fördern als solche, deren Eltern mit weniger Erwartungen auftreten. Ein solches pädagogisches Handeln kann aber auch auf der Haltung «entwicklungsangepasster Förderung» fußen. Diese postuliert, dass alle Kinder eine anregungsreiche Umgebung brauchen. So erhalten Kinder, die einen hohen Lern- und Entwicklungsstand aufweisen, noch zusätzliche Unterstützung oder Angebote und bauen damit ihren Entwicklungsstand weiter aus. Obwohl nicht beabsichtigt, können sich auch durch diese Haltung die Entwicklungsunterschiede zwischen den Kindern noch verstärken.

      Um eine hohe Wahrscheinlichkeit auf einen guten Start in die Schule zu haben, ist neben guten kognitiven und sozialen Voraussetzungen zudem der erwähnte schulische Habitus von großem Vorteil (Isler & Künzli 2010). Auch der Kindergarten stellt gewisse Anforderungen an die Kinder, etwa bezüglich der Spielkultur. Bildungsnahe Familien, so die Annahme, vermitteln ihren Kindern bereits früh die nötigen Fähigkeiten, um sich in Kindergarten und Schule zurechtzufinden. Dies kann mit ein Grund dafür sein, dass benachteiligte Kinder schon im Kindergarten mehr Mühe haben, den Einstieg zu finden, was bis weit in die Schulzeit hinein negative Auswirkungen haben kann.

      Neben der Skepsis, ob Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit erfüllt werden kann, gibt es auch grundsätzlichere Kritik daran, diese überhaupt anzustreben. Diese Kritik setzt unter anderem an bei den Vorstellungen davon, was Begabungen und Fähigkeiten sind. Eine Begabung kann nicht einfach als gegeben betrachtet werden, sie wird einem Kind zugeschrieben, etwa von Erziehenden oder Lehrpersonen. Dabei ist die Herkunft des Kindes nicht unwichtig. Kommt es aus einem bildungsnahen Elternhaus, wird es eher als begabt angesehen, seine Fähigkeiten gelten eher als Begabungen. Es hat beispielsweise früh gelernt, sich differenziert auszudrücken, weshalb ihm viel sprachliches Potenzial attestiert wird. Fähigkeiten und Ausdrucksformen von benachteiligten Kindern und die Bildungs- und Förderleistungen ihrer Herkunftsfamilien werden demgegenüber weniger als Begabungen erkannt – und implizit abgewertet. Dies führt dazu, argumentiert Bourdieu, dass geerbte soziale Privilegien im Bildungswesen in «Begabungen» oder individuelle Verdienste umgedeutet und dadurch soziale Ungleichheiten im Bildungswesen


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