Handbuch Gender und Religion. Группа авторов
Aus dieser Metaphorik könnte man entnehmen, dass wir unbewusst davon ausgehen, etwas sehbehindert zu sein, also nicht in der Lage sind, mit bloßem Auge Historisches und Gegenwärtiges erfassen zu können: Dies wäre ein weiteres, sprachgebundenes Argument gegen das Postulat des »objektiven« Standpunktes im Prozess der Betrachtung. Das Nachdenken über optische Hilfsmittel wurde erst recht in der Debatte um den Stellenwert der Dialektik zwischen den Geschlechtern in der Wissenschaft zum Thema, wie viele Titel von Referenzwerken bezeugen, wie beispielsweise das klassische Werk Lenses of Gender von Sandra Lipsitz Bem.7 Dies führte zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Spiegeln und Brillen der verschiedenen Zugänge zu den Religionen, vor allem aber mit den dominanten Sichtweisen, welche die Religionswissenschaft seit ihrem Bestehen als universitäre Disziplin prägen. Das oben bereits erwähnte Postulat einer objektiven Sicht auf die Religion wurde als typisch androzentrisch entlarvt.8
Die Begründungen dieser radikalen Kritik sind so vielfältig wie die Beiträge dazu; um zwei Argumente hat sich allerdings ein weitgehender Konsens etabliert. Das erste Argument fokussiert auf die Religionsgeschichte und die Geschichte der Religionswissenschaft; das zweite hat seine Wurzeln in der empirischen Erforschung von Religionen. Diese zwei Argumente sollen im Folgenden vertieft werden.
4 Zur Fachgeschichte
In der Auseinandersetzung mit der Fachgeschichte stellt man eine eigentümliche Korrelation fest: In der Religionswissenschaft, die das Postulat der wertfreien, objektiven Betrachtung stark betont hat, wurde lange Zeit die Präsenz der Frauen als Akteurinnen innerhalb der verschiedenen religiösen Symbolsysteme und innerhalb des Faches weitgehend ausgeblendet oder als irrelevant betrachtet. In den vielfältigsten Zugängen zur Religion wurde bis ins 21. Jahrhundert der homo religiosus meistens (implizit) mit einem Mann, dem vir religiosus, identifiziert.9
Ein Blick in die Handbücher, mit denen neue Generationen von Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftlern in die Forschungsgeschichte eingeführt werden, bestätigt die von vielen Seiten erhobene Kritik einer androzentrischen Sichtweise im Umgang mit den sogenannten Klassikern. Beispielsweise wissen sowohl Jacques Waardenburgs Classical Approaches to the Study of Religion (1973) als auch Axel Michaels’ Klassiker der Religionswissenschaft (1997) von keiner einzigen Frau zu berichten, die in den letzten 200 Jahren einen nennenswerten Beitrag zur Erforschung der Religionen geleistet hätte. Ursula King fasste 1995 den Stand der Dinge wie folgt zusammen:
As far as I know, no historical investigation has been undertaken up to now to establish how far women writers, missionaries and scholars made a significant contribution to the rise and development of the modern study of religion.10
Dass diese Unsichtbarkeit weiblicher wissenschaftlicher Beiträge kaum auf historischen Sachverhalten beruhen kann, bedarf keiner weiteren Hinweise, wie zahlreiche Arbeiten nun belegen.11 Darüber hinaus erweisen sich in diesem Zusammenhang die Listen der Teilnehmenden an den Kongressen der International Association for the History of Religions zwischen 1908 bis 1985 als aufschlussreich, die eine bemerkenswerte, in bestimmten Jahren sogar hohe Anzahl Teilnehmerinnen belegen. Viel niedriger im Vergleich erscheint hingegen die Anzahl Frauen, die Vorträge hielten oder Sessionen leiteten.12
Die Unsichtbarkeit der wissenschaftlichen Beiträge der Frauen zur Erforschung von Religionen in der Fachgeschichtsschreibung wird von vielen Autoren und Autorinnen mit der extrem dünnen weiblichen Präsenz in den akademischen Institutionen in Verbindung gebracht. Männliche Forscher seien demnach kaum an den Leistungen von Forscherinnen und auch nicht an Fragen nach Bezeichnung, Trennung und Rollen der Geschlechter innerhalb von religiösen Symbolsystemen interessiert. Die wenigen Ausnahmen, wie zum Beispiel Heilers Die Frau in den Religionen der Menschheit (1977) scheinen diese Feststellung zu bestätigen.13
Die Aufmerksamkeit für Frauen und allgemeiner für gendergebundene Aspekte in der Religionswissenschaft wurde vor allem unter dem Einfluss feministischer Bewegungen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft in den späten siebziger Jahren geweckt und hat sich erst in den letzten Jahren als wesentliche Komponente religionswissenschaftlicher Arbeit etabliert.14
5 Orientierung im Gemenge der Zugänge
Die geringe Aufmerksamkeit, die Frauen und Rollen der Geschlechter in der Forschungs- und in der Religionsgeschichte entgegengebracht wurde, stellte in der Kritik an den bis in die späten Neunzigerjahre dominierenden »androzentrischen« Positionen ein wichtiges Argument dar. Die zweite zentrale Argumentationslinie wurde in der empirischen Erforschung gegenwärtiger religiöser Systeme entwickelt:15 In der Situation der Feldforschung wurde bereits früh klar, dass die Denkschemen vom Forscher als Subjekt und Erforschtem als Objekt der Forschung nicht in der Lage waren, die Situation der Begegnung zwischen Fachleuten und Angehörigen der erforschten religiösen Symbolsysteme zu erfassen.16 So mutierte beispielsweise die starre Subjekt-Objekt-Beziehung in Interviews oder in Situationen von teilnehmender Beobachtung zu einer höchst komplexen Dialogsituation zwischen Beteiligten mit unterschiedlichen Interessen. Darüber hinaus erscheint es als evident, dass die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht für die Bestimmung der Beobachtungs- und Begegnungsmöglichkeiten maßgebend ist. Die Geschlechtsunterschiede ermöglichen oder versperren bestimmte Einblicke in religiöse Gemeinschaften, in denen klare Rollenzuweisungen für die verschiedenen Geschlechter bestehen. Eine respektvolle Wahrnehmung dieser Unterschiede einerseits und die weltanschauliche, ethische, politische, soziale und emotionale Einbindung andererseits machen die Beobachtungssituation im Feld zu einem besonderen Fall von zwischenmenschlicher Beziehung. Dazu notiert Kim Knott 1995 folgende Gedanken in einem Forschungstagebuch:
If you see someone drowning while you’re doing your fieldwork and they’re part of the community you’re studying, and if you’re a strong swimmer, do you stand on the bank and watch them drown or do you dive in and save them? You know, fieldwork is active work, where we are in relationship with people. Questions of responsibility, ethics, politics come into those things. How can they be left on one side? They may be able to be left on one side for half of the time, but there will be occasions which come up that demand that we be ourselves in the interview situation.17
Wir kommen also wieder zum Thema der Distanz, die für die wissenschaftliche Arbeit nötig ist, und der Voreingenommenheit, die aus hermeneutischen und zu einem guten Teil auch aus persönlichen Gründen nicht zu vermeiden ist, sowie der aus dieser Kombination gegensätzlicher Haltungen resultierenden Verwirrung. Wie soll man sich nun in der Untersuchung von Religionen in Gegenwart und Geschichte situieren? Wie kann man sich orientieren im Gemenge der Zugänge, zwischen den etischen und den emischen Perspektiven,18 zwischen der vom Ideal der Objektivität geprägten Forschungstradition und dem Bedürfnis einer sachgerechteren, schärferen Brille, welche die Rolle der Geschlechter als wesentlichen Aspekt von religiösen Symbolsystemen wahrzunehmen vermag?19
6 »Scheintod« der Objektivität?
Die frühere Forderung nach einem »wissenschaftlich objektiven Standpunkt« wurde aus verschiedenen Lagern scharf kritisiert und mit unterschiedlichen Akzentuierungen als Ausdruck von Antifeminismus, Eurozentrismus, Kolonialismus und Imperialismus zusammengefasst.20 Nähert man sich der Religionswissenschaft aufgrund ihrer Geschichte, dann leuchten die unter den verschiedenen Etiketten aufgeführten Kritiken ein, ist doch die Religionswissenschaft maßgeblich als Produkt der europäischen Religionsgeschichte zu verstehen.21 Als solche ist sie in den theoretischen Annahmen, in den Methoden sowie in der Auswahl an religionsgeschichtlichen Fragestellungen von vielen christlichen, theologischen und/oder westlichsäkularen Begriffen und Sichtweisen geprägt. Das Beispiel der Ausblendung der Rolle der Frau in der Forschung und in den erforschten Bereichen kann hier synekdotisch als pars pro toto angeschaut werden. Diese Kritiken haben viel geleistet im Hinblick auf die Aufdeckung der Systemfehler der »klassischen« Religionswissenschaft in ihren Hauptströmungen, wobei die religionsphänomenologischen Zugänge am meisten Kritik einstecken mussten und in Extremfällen zum Sündenbock einer