Handbuch Gender und Religion. Группа авторов
auch von Männern anerkannt. Allerdings sind dies zum großen Teil Einzelerfahrungen geblieben. Das allgemeine Leben der meisten anderen Frauen konnten solche Einzelgestalten nicht beeinflussen. Da die offizielle Geschichte von Männern geschrieben wurde und Frauen fast immer unsichtbar blieben, ist ein Teil jener spirituellen Frauengestalten in Vergessenheit geraten. Heute allgemein bekannte Frauen der mittelalterlichen christlichen Mystik wie Hildegard von Bingen, Margery Kempe, Juliana von Norwich und manche andere sowie auch die Beginen, sind erst im 20. Jahrhundert neu »entdeckt« worden. Die Situation in anderen Religionen ist ganz ähnlich.
Zwei Bemerkungen sind hier besonders wichtig: Wir können diese großen religiösen Frauengestalten der Vergangenheit bewundern, doch müssen wir ihre Lebensgeschichten zugleich kritisch betrachten und die oft starken Einengungen ihrer Erfahrungen und auch manche Form der Unterdrückung in ihrem Leben mit in Betracht nehmen. Ihre unter ganz anderen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen gelebte Religion kann heute nicht einfach imitiert werden. Die Geschichte solcher Frauen ist außerdem nicht immer Frauengeschichte im Sinne des feministischen Bewusstseinsumbruchs der Gegenwart. Diese religiös herausragenden, in vieler Hinsicht bewundernswerten Frauengestalten können nicht einfach aufgrund ihres Geschlechts als Vorgängerinnen des heutigen Feminismus – als sogenannte »Proto-Feministinnen« – angesehen werden. Vieles in ihrem Leben ist für uns heute gar nicht mehr nachvollziehbar. Ein zweiter wichtiger Unterschied zwischen damals und heute besteht darin, dass die Frauengestalten der Vergangenheit in der Regel individuelle Einzelgestalten waren. Die weibliche Suche nach einer autonomen Eigendefinition von Spiritualität ist heute dagegen vor allem ein Gruppenphänomen, das sogar auf globaler Ebene beobachtet werden kann.
Heute sind viele Frauen in den verschiedensten Weltreligionen auf einer expliziten Suche nach Geist und Transzendenz. Die pakistanische Wissenschaftlerin Durre Ahmed hat einen Sammelband mit dem prägnanten Titel Gendering the Spirit herausgegeben,8 in dem sie argumentiert, dass die letzte Grenze des Postkolonialismus im Bereich der Interdependenz von Frau und Religion zurzeit überschritten wird. In der Vergangenheit sind Frauen wie Religionen oft kolonialisiert, ausgebeutet und unterdrückt worden. Heute wollen Frauen dieses Joch abwerfen. Ahmeds Buch enthält eine radikale Kritik des »gegenderten« Wissens um Geist, Gott und Transzendenz, das lange sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft zum Nachteil der Frauen konstruiert worden ist; andererseits geht es ihr um die Entkolonialisierung des Denkens und der menschlichen Vorstellungskraft schlechthin.
Gottes- und Geistesvorstellungen der Vergangenheit können heute nicht mehr naiv übernommen und weitergegeben, sondern müssen kritisch durchdacht und uminterpretiert werden. Frauen weisen immer wieder darauf hin, wie wesentlich der Erwerb der Lese- und Schreibfähigkeit, kurz »Literalität« (literacy) genannt, für die Transformation des Bewusstseins – auch des religiösen Bewusstseins – war. Oft haben Frauen viel später als Männer Zugang zur Literalität erhalten. Selbst heute noch ist ein größerer Prozentsatz von Frauen als von Männern auf der Stufe der »Oralität« und nicht der Literalität. In der Beschreibung eines neuen Buches zu Literalität und Oralität heißt es ganz treffend:
Literalität (Schriftlichkeit) versus Oralität (Mündlichkeit) – welche von diesen beiden Zugangsformen zur Sphäre des Geistes darf den ersten Platz für sich beanspruchen? Welche von ihnen ist für die Aufschließung dieser Sphäre grundlegender, welche für ihr argumentatives Zusammen- und Weiterwirken dynamischer, fruchtbarer und nachhaltiger? Mag bei diesem Wettstreit auch kein definitiver Sieg einer der beiden Seiten bevorstehen, so bleiben die dabei gewonnenen Einsichten für die Entwicklung des Denkens erfahrungsgemäß in vieler Hinsicht aufschlussreich, wesentlich und gelegentlich sogar staunenswert.9
Die zwischen Literalität und Oralität bestehende Spannung kommt hier deutlich zum Ausdruck, doch fehlt leider jeglicher Hinweis auf die Bedeutung der Gender-Dimension auf diesem wichtigen Gebiet der Bewusstseinsentwicklung. Zugang zur Literalität, zu allen Stufen der Wissensbildung und insbesondere zum Erlernen klassischer Sprachen, die für ein unabhängiges Lesen und Interpretieren der kanonischen Texte und Lehren der verschiedenen Religionen absolut nötig sind, ist ein Durchbruch zu einer neuen Stufe des Bewusstseins. Frauen haben als soziale Gruppe (und nicht als einzelne Ausnahmen) erst seit dem 20. Jahrhundert Zugang dazu gewonnen, vor allem im globalen Norden, während im Süden der Welt auch heute noch viele Frauen völlig ungeschult bleiben.
Die ersten Theologinnen, die es in den USA schon Mitte des 19. Jahrhunderts gab, waren sich der Notwendigkeit einer vollen, den Männern gleichen Ausbildung bewusst. Auch die Frauen, die 1893 beim ersten Weltparlament der Religionen in Chicago öffentliche Ansprachen hielten, betonten die Wichtigkeit der klassischen Sprachkenntnisse für das Studium der Religionen. Im damaligen Kontext haben sich westliche Frauen in Amerika und Europa zuerst dem Studium des Christentums und Judentums zugewandt. Es ist deshalb keine Überraschung, dass sich im 20. Jahrhundert die feministische Religionskritik und feministische Theologie sowie die auf eine weibliche Gottheit ausgerichtete Theologie10 vor allem in diesen beiden Religionen entwickelt haben. Die Forderung nach einer weiblichen Interpretation der kanonischen religiösen Schriften und Lehren hat sich in der Gegenwart auf alle Religionen ausgeweitet. Heute erkämpfen sich viele Frauen den Zugang zu den heiligen Schriften ihres Glaubens und ihrer Tradition. Dies ist ein radikaler Akt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es zum Beispiel Frauen im Hinduismus und Buddhismus jahrhundertelang verboten war, die heiligen Schriften zu lesen oder zu rezitieren. Der jetzt errungene Zugang zu diesen Schriften ist vergleichbar mit der gesellschaftlichen Umstellung zur Zeit der Reformation, als christliche Laien in Europa zum ersten Mal die Bibel in ihrer Muttersprache lesen konnten. Wie viele Kämpfe wurden damals für diese neue Freiheit ausgetragen! Menschen haben deswegen ihr Leben verloren. Es muss uns nicht verwundern, dass auch der Kampf der Frauen im Buddhismus, Hinduismus und Islam um neue Freiheiten nicht ohne Widerstand vor sich geht. In England kämpfen muslimische Frauen gerade um das Recht, einen Platz zum Beten in der Moschee zu erhalten. In Amerika gibt es ähnliche Initiativen. In Indonesien, dem Land mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt, sind Initiativen von Frauen ins Leben gerufen worden, um den Islam mitzugestalten, seine Lehren selbst zu interpretieren, zu lehren und Konsequenzen für gesellschaftliche Reformen daraus zu ziehen.11
Ich möchte hier außerdem noch kurz auf die weltweite buddhistische Frauenbewegung hinweisen. Sie ist einerseits vom westlichen Feminismus ganz unabhängig. Andererseits zeigen sich zwischen diesen beiden Bewegungen – dem Feminismus und der buddhistischen Frauenbewegung – interessante Parallelen. Dies wird vor allem in den Forderungen nach geistiger Befreiung und Selbstbestimmung sichtbar. Seit 1987 haben sich Buddhistinnen und vor allem buddhistische Nonnen in der globalen Bewegung Sakyadhita (»Töchter Buddhas«) zusammengeschlossen. Sie treffen sich alle zwei Jahre an einer Konferenz in verschiedenen asiatischen Ländern, um theoretische und praktische Probleme des Buddhismus aus spezifisch weiblicher Sicht zu behandeln. Die Sakyadhita-Bewegung hat sich folgende Ziele gesetzt: ein globales Kommunikationsnetzwerk unter den buddhistischen Frauen der Welt zu schaffen, Frauen als Lehrerinnen des Buddhismus auszubilden, Forschungsuntersuchungen über Frauen im Buddhismus anzuregen, die Bhikkhuni Sangha oder den buddhistischen Frauenorden wiederaufzubauen. Bis jetzt sind eine Reihe eindrucksvoller Publikationen – und mehrere Ordinationen – aus diesen Treffen hervorgegangen. Die Existenz Sakyadhitas ist ein deutliches Zeichen dafür, dass unter buddhistischen Frauen, besonders unter den Nonnen, eine entscheidende Bewusstseinsveränderung im Gang ist, die manche Folgen für die buddhistische Praxis haben wird.
Ein klares Zeugnis für den Umbruchprozess unter den buddhistischen Nonnen Asiens ist der von Karma Lekshe Tsomo herausgegebene Sammelband Innovative Buddhist Women. Swimming Against the Stream.12 Wie aus den dort veröffentlichten Beiträgen ersichtlich wird, geht es nicht nur um die Uminterpretation traditioneller Texte, die Frauen bisher unzugänglich waren, sondern auch um die Reform vieler diskriminierender Praktiken und lang etablierter Traditionen. Weitere Forderungen sind die Veränderung hierarchischer Strukturen und die Verwirklichung egalitärer Formen des Zusammenlebens von Frauen und Männern. Frauen, die für diese Ziele kämpfen, »schwimmen gegen den Strom«. Wichtig ist vor allem, dass Frauen und Männern derselbe Zugang zu Ausbildung und Ordination eröffnet wird. Ohne volle Fachausbildung können buddhistische Nonnen weder ihre eigenen kanonischen Texte interpretieren noch