Marthas Boot. Polly Horvath

Marthas Boot - Polly  Horvath


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sein. Dort wäre es nicht nur langweilig, sondern du würdest noch dazu kein Wort verstehen, weil die da mit diesem extremen Südstaatenakzent reden. Das klingt so, als würden sie versuchen, mit einem Mund voll heißer Kartoffeln zu sprechen. Und vermutlich stehen alle auf Elvis Presley, tragen große Sonnenbrillen und weiße Overalls.»

      «Du meinst wohl Graceland», sagte Natasha.

      «Graceland ist keine Stadt, sondern so heißt das Haus von Elvis», stellte Marlin klar.

      «Wo ist Graceland?», fragte Charlie.

      Fiona wusste es auch nicht und beschloss, nach ihrem Kommentar über Geografie das Thema zu wechseln.

      «Man versteht den Akzent in Tennessee immer noch besser als den in Shreveport», sagte sie. «Trotzdem bin ich für Shreveport, Akzent hin oder her. In Louisiana gibt es Bayous. Ich wollte schon immer an einem Bayou wohnen.»

      «Was ist ein Bayou?» Charlie wollte es genau wissen.

      «Weiß ich nicht», gestand Fiona. «Es hört sich einfach gut an.»

      «Es ist eine Art Sumpf, über den Pelikane fliegen», erklärte Natasha, die Vögel liebte und wusste, wo die verschiedenen Arten lebten. «Ich hätte auch nichts dagegen, irgendwo zu leben, wo es Pelikane gibt.»

      Zu diesem Zeitpunkt fing Mrs Weatherspoon normalerweise leise an zu weinen. Ihre große Angst, die, wie sie wusste, den Kindern gar nicht erst in den Sinn kam, bestand darin, dass überhaupt niemand sie haben wollte – und was dann? Diese hoffnungsvollen Diskussionen trafen sie wie spitze Pfeile ins Herz.

      Es stellte sich heraus, dass keines der vier Tante-Onkel-Paare die Kinder wollte. Es täte ihnen schrecklich leid und sie bedauerten es sehr, aber selbst nach langem Abwägen und in dem Wissen, dass sich auch sonst niemand freiwillig gemeldet habe, sahen sie sich dazu einfach nicht imstande.

      Sobald eins dieser Ablehnungsschreiben eintraf, war Mrs Weatherspoon außer sich vor Sorge. Als das Jahr, das sie mit den Mädchen verbringen sollte, sich dem Ende näherte, schrieb sie schließlich doch an Martha McCready. Mrs Weatherspoon war im Dschungel von Borneo geblieben, weil sie fest davon überzeugt gewesen war, dass sich jederzeit jemand aus der engeren Familie bereit erklären würde, die Mädchen bei sich aufzunehmen. Doch jetzt war das geschehen, was sie am meisten befürchtet hatte. Sie lief auf und ab, zerkrümelte die Brötchen fürs Abendessen und verlor vollkommen die Kontrolle, während sie verzweifelt versuchte, jedes Mal Ruhe zu bewahren, wenn ein bedauerndes Nein eintraf.

      Fiona war dagegen tatsächlich die Ruhe in Person. «Was wird jetzt aus uns?», fragte sie, nachdem der vierte Brief angekommen war.

      «Das Jugendamt», erwiderte Mrs Weatherspoon unter Tränen, «ist (schluchz, schluchz) sicherlich eine Möglichkeit.» Dann schnäuzte sie sich in ihr allzeit griffbereites besticktes Taschentuch.

      «Von der sonderbaren Großtante haben wir immer noch nichts gehört», sagte Marlin.

      «Nein, Liebes», schniefte Mrs Weatherspoon, «das stimmt, aber sie ist ein bisschen zu alt, um vier Kinder aufzunehmen. Und wenn ich es recht verstanden habe, lebt sie seit eh und je wie eine Einsiedlerin. Ich würde keine allzu große Hoffnung auf sie setzen.»

      «Worauf sollen wir unsere Hoffnung denn dann setzen?», fragte Natasha.

      «Wie gesagt, aufs (schluchz, schluchz) Jugendamt», keuchte Mrs Weatherspoon. «Auf der Straße werdet ihr nicht enden, aber du liebe Güte (sie versuchte, das Schluchzen zu beenden, indem sie sich das Taschentuch in den Mund stopfte, sodass das Ende des Satzes recht gedämpft klang), ausgerechnet das Jugendamt

      «Wieso ist das denn so schlimm?», wollte Charlie wissen, die Mrs Weatherspoons abgrundtiefen Kummer nicht verstand.

      «Ich glaube, Mrs Weatherspoon meint eine Pflegefamilie», antwortete Fiona. «Nicht schön, aber auch nicht das Ende der Welt. Sie werden doch eine finden, die uns alle vier nimmt, oder? Sie werden uns doch nicht aufteilen?»

      «Das ist es ja», schniefte Mrs Weatherspoon. «Ich habe es schon zu oft erlebt, und ich habe große Angst, dass genau das passieren wird. Ihr werdet getrennt und möglicherweise in Pflegefamilien irgendwo in den USA gesteckt. Hunderte von Meilen voneinander entfernt. In alle Winde verstreut!»

      Nun brach Mrs Weatherspoon endgültig zusammen, legte sich vor ihnen auf den Boden und bebte vor Traurigkeit. Fiona war enttäuscht. Sie hatte Mrs Weatherspoon gern und war ihr dankbar für alles, was sie in diesem Jahr für sie getan hatte. Auch dafür, dass sie ein Jahr lang auf ihr eigenes Leben und ihre vertraute Umgebung verzichtet hatte, um für sie zu sorgen. Aber es erschien ihr ungehörig, dass sie derart die Beherrschung verlor.

      Außerdem merkte Fiona, dass sich ihre Schwestern angesichts dieser erwachsenen Zurschaustellung von Verzweiflung und der Nachricht, sie könnten einander verlieren, beinahe selbst in die Hose machten vor Angst. In diesem furchtbaren Jahr hatten sie sich an ihre Tapferkeit und Hoffnung geklammert und fanden es hochgradig unfair, dass ihnen nun etwas noch Schrecklicheres bevorstehen sollte. Das betraf insbesondere Fiona, die sich verpflichtet fühlte, für ihre verbliebene Familie zu sorgen und sie zusammenzuhalten. Die Vorstellung, dass ihre jüngeren Schwestern und insbesondere Charlie in eine fremde Familie gesteckt würden, noch dazu möglicherweise Hunderte von Meilen von ihr entfernt, wo sie sie nicht im Blick behalten konnte, war zu abscheulich, um sie in Worte zu fassen. Sie schmiedete den Plan, zu viert in den Dschungel zu flüchten, falls es soweit kommen sollte. Lieber stellten sie sich gemeinsam den Schlangen, als dass jede für sich den Kummer und Schrecken ertragen musste, sich täglich zu fragen, wie es den anderen wohl ergehen mochte.

      Eine Woche lang machte Fiona sich solche Sorgen, dass sie nichts essen konnte, doch als sie in der darauffolgenden Woche aus dem Schulbus stiegen und auf ihr Haus zugingen, sahen sie Mrs Weatherspoon auf der Vordertreppe auf und ab tanzen und ein Stück Papier schwenken. Erst dachten sie, sie hätte den Verstand verloren, aber als sie näherkamen, sahen sie, dass es sich um einen Brief handelte.

      «Was ist das?», fragte Fiona, als Mrs Weatherspoon fröhlich damit vor ihren Gesichtern wedelte. Fiona wagte nicht zu hoffen, dass es sich um die ersehnte fünfte Antwort handelte.

      «Meine Lieben, meine Lieben, ihr seid gerettet!», rief Mrs Weatherspoon beglückt.

      Nachdem die Kinder sich auf die Stufen gesetzt hatten, las Mrs Weatherspoon ihnen den Brief ihrer Großtante ganze achtzehn Mal vor. Zum Glück war er kurz.

       Liebe Mrs Weatherspoon,

       vielen Dank für die Mitteilung, in welch missliche Lage meine Großnichten geraten sind. Ich nehme sie bei mir auf. Das ist doch selbstverständlich. Hier sind meine Adresse, meine E-Mail-Adresse und meine Telefonnummer für die Mädchen, wenn sie in die Zivilisation zurückkehren, wo diese Dienste funktionieren. Bitte teilen Sie mir ihre Flugdaten mit, damit ich sie am Flughafen hier auf Pine Island in British Columbia abholen kann. Ich wohne außerhalb von St. Mary’s By the Sea, aber sie werden auf dem einzigen Insel-Flughafen landen, der auf der Nordseite von Pine Island in Shoreline liegt. Ich freue mich darauf, sie dort abzuholen.

       Mit herzlichen Grüßen Martha McCready

      «Sie freut sich darauf!», deklamierte sie immer wieder, wenn sie nicht gerade vorlas, als könnte sie ihr Glück nicht fassen. Allmählich fühlte Fiona sich richtig unerwünscht. Andererseits verstand sie, was Mrs Weatherspoon meinte. Sie wurden nicht einfach nur aufgenommen und geduldet. Da war jemand, der sie haben wollte.

      Als Mrs Weatherspoon keine Lust mehr hatte, den Brief noch einmal vorzulesen, sprang sie auf und ging ins Haus, um einen Kokoskuchen zu backen. Obwohl sie gute einhundertzehn Kilo wog, war sie der festen Überzeugung, dass sich Freude mit einem Kuchen am besten ausdrücken ließ. Die Mädchen sahen darin eine ihrer bewundernswertesten Eigenschaften und bestärkten sie stets in diesem Glauben.

      Als die Schwestern später in dem großen gemeinsamen Schlafzimmer in ihren Betten lagen, sagte Fiona: «Es war nett von ihr, dass sie sich so mit uns gefreut hat.»

      «Mindestens so wie für sich selbst,


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