Marthas Boot. Polly Horvath

Marthas Boot - Polly  Horvath


Скачать книгу
hatte. Überhaupt stellte sie fest, dass sie immer mehr wie ihre Mutter sprach, als wollte sie mit ihrem Wortschatz und ihrer Ausdrucksweise an sie erinnern. «Sie war ein Jahr hier, da darf sie sich wohl freuen, nach Hause zu kommen.»

      «Und was für ein trauriges Jahr», fügte Natasha hinzu. «Es war sicher nicht einfach, dabei zu sein. Eine Zeit lang habe ich fast jeden Tag geweint.»

      «Ich weine immer noch», meinte Charlie.

      «Ja, aber du hast schon geweint, bevor Mom und Dad gestorben sind», sagte Marlin. «Das liegt in deiner Natur.»

      «Ich bin keine Heulsuse», protestierte Charlie.

      «Nein, Schatz», beschwichtigte Fiona. «Du bist sensibel.»

      «Mrs Weatherspoon weint auch», sagte Charlie. «Sie weint die ganze Zeit. Als wir darüber geredet haben, wohin es uns wohl verschlagen würde, hat sie jeden Abend geweint.»

      «Sie ist auch sensibel.»

      «Jetzt muss sie nicht mehr weinen», bemerkte Natasha. «Wir sind gerettet.»

      «Hoffentlich gibt es dann keinen Grund mehr zu weinen», sagte Marlin.

      «Ja.» Das hoffte Fiona auch. «Mom hat immer gesagt, man kann sich die Welt anschauen und all das Elend sehen oder man kann sie sich anschauen und all die Freude sehen. Am besten freuen wir uns auf dieses Abenteuer in Kanada. Konzentrieren wir uns auf das Positive.»

      «Ich will Mommy und Daddy wiederhaben», wimmerte Charlie.

      Danach war es still. Es war nicht fair so zu tun, als wollten sie das nicht auch alle und als hätte Charlie nicht einfach ausgesprochen, was sie ebenfalls empfanden. Doch Fiona nahm sich insgeheim vor, den anderen zuliebe den Dingen möglichst optimistisch gegenüberzutreten. Sie würde mit gutem Beispiel vorangehen und sich auf die Freude konzentrieren. Dann schliefen sie ein.

      Wenn Mrs Weatherspoon nicht gerade Kuchen backte, weil sie auf der Zuckerwelle eines Feierrausches schwamm, fuhr sie im Laufe des darauffolgenden Monats mit dem Jeep die lange Strecke in die nächstgelegene Stadt. Dort überwies sie Geld für die Mädchen nach Kanada, kaufte ein Handy für Fiona und sorgte dafür, dass die Papiere und Ausweise in Ordnung waren. Zu Hause half sie Fiona beim Packen. Mrs Weatherspoon würde zurückbleiben, aufräumen und das Häuschen im Dschungel abschließen, bevor sie selbst nach Hause flog. Es gab viel zu tun, aber schließlich setzte sie die Kinder mit allerlei Anweisungen, Warnungen und mit in Frischhaltefolie verpackten Kuchenstücken ins Flugzeug. Die Reise konnte beginnen.

      «Gibt es da Kiefern?», fragte Charlie. «Die Insel heißt Pine Island.»

      «Es gibt hohe Bäume», antwortete Natasha. «Ich habe British Columbia im Schullexikon nachgeschlagen. Tannen, Sitka-Fichten und Kiefern.»

      «Alte Regenwälder», erklärte Marlin, die sich ebenfalls informiert hatte.

      «Voll mit wilden Tieren!», rief Charlie. «Wusste ich’s doch.»

      «Ein paar, ja», gab Natasha zu. «Wölfe, Bären, Pumas.»

      «Die dringen bestimmt nicht in die Stadt vor, Nat», sagte Fiona. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in St. Mary’s By the Sea herumspazieren.»

      «Tante Martha hat gesagt, sie lebt außerhalb», meinte Charlie.

      «Großtante Martha», verbesserte Marlin.

      «Das sind zu viele Worte. Ich werde sie einfach Tante Martha nennen.»

      «Ich auch», stimmte Natasha zu.

      «Okay, ich auch», gab Marlin nach.

      «Es wird schön, Charlie», versprach Fiona. «Wart’s nur ab, es wird anders sein als an allen Orten, an denen wir bisher waren. Weißt du noch, wie viel Angst du vor den Schlangen auf Borneo hattest, und keine hat dich je gebissen?»

      «Hmmm», brummte Charlie, die sich nie so einfach überzeugen ließ, und schlug ihren Comic auf.

      Viele Flugzeugwechsel und viele Jetlag-Stunden später landeten die Mädchen endlich auf dem Flughafen von Shoreline. Da er so klein war, dass es nicht einmal Flugsteige gab, stiegen die Mädchen auf dem Rollfeld aus. Sie waren bereits in Vancouver durch den Zoll gegangen und begaben sich nun direkt zu dem Gepäckförderband, wo ihre Großtante sie abholen wollte. Doch niemand kam auf sie zu. Hoffnungsvoll musterten sie jede alte Dame, die vorbeikam, doch keine von ihnen erkannte sie oder sprach sie an.

      «Offenbar steckt sie im Stau», sagte Fiona. «Wir holen jetzt unser gesamtes Gepäck, setzen uns hin und warten. Außerdem rufen wir Mrs Weatherspoon an, damit sie weiß, dass wir gut angekommen sind.»

      «Sollten wir damit nicht warten, bis Tante Martha hier ist?», fragte Marlin.

      «Nein, lasst uns jetzt anrufen, dann können wir sofort los, wenn Tante Martha kommt. Ich kann es kaum erwarten, mich hinzulegen. Es ist einfach schrecklich, wenn man versucht, im Flugzeug sitzend zu schlafen.»

      Fiona rief also an und Mrs Weatherspoon sagte: «Ja, meine Lieben, dann gibt es nun tatsächlich ein wunderbares Happy End für euch. Unsere Kirche ist auf der Insel nicht vertreten, aber ihr könnt mir immer schreiben, wenn ihr geistigen Beistand braucht. Das ist für mich selbstverständlich. Sagt das eurer Tante.»

      «Das machen wir», versprach Fiona.

      «Und ruft mich an, wenn ihr etwas braucht.»

      «Vielen Dank für alles, Mrs Weatherspoon.»

      «Es war mir ein Vergnügen, Liebes.» Mrs Weatherspoon legte auf.

      Die Mädchen setzten sich auf die Stühle neben den Gepäckbändern und warteten eine Stunde. Sie warteten zwei Stunden. Wenn sie ihre Tante anriefen, ging nur die Mobilbox dran. Obwohl Fiona jedes Mal eine Nachricht hinterließ, rief niemand zurück.

      «Fiona», fragte Marlin, «was sollen wir tun?»

      «Wir fahren mit dem Taxi zu ihrer Adresse», beschloss Fiona. «Ich habe jede Menge Bargeld. Wenn wir da sind, sehen wir weiter.»

      Sie waren von der Reise, die neununddreißig Stunden gedauert hatte, erschöpft, und außer dem Taxifahrer hatte niemand einen Einwand. «Das ist eine weite Fahrt nach St. Mary’s By the Sea. Es wird euch eine Stange Geld kosten.»

      Als Fiona ihm eine Hand voll Geldscheine vor die Nase hielt, zuckte er mit den Schultern, warf ihr Gepäck in den Kofferraum und sagte nichts mehr. Es dämmerte bereits. Anfangs herrschte noch viel Verkehr, doch auf den Straßen, die sich um die Klippen wanden, wurde es bald stiller. Auf der einen Seite erstreckte sich weiter unten das Wasser und auf der anderen bildeten Kiefernwälder eine dichte grüne Fläche.

      «Da, Kiefern.» Fiona wollte sie Charlie zeigen, doch Charlie war eingeschlafen.

      «Wunderschön», schwärmte Fiona von zwei Weißkopfseeadlern, die den thermischen Auftrieb nutzten, um in Spiralen über dem Wald zu kreisen. «Ich wusste, dass es hier schön ist. Adler, Natasha.»

      Doch Natasha war ebenfalls eingeschlafen.

      Die Sonne hinterließ auf ihrer eigenen Reise nach Westen eine samtene rosige Spur am Himmel und bog um die Ecke der Welt, wo sie anderen Menschen einen neuen Tag brachte – Menschen, die die Mädchen auf Borneo und anderswo zurückgelassen hatten.

      «Das wird schon», sagte Fiona zu Marlin, der immer wieder die Augen zufielen, und dann noch mal, wie ihre Mutter zu sagen pflegte: «Alles wird gut.»

      Aber so schnell ging es dann doch nicht. Der Taxifahrer passierte schließlich den Ortseingang des bezaubernden Seebads St. Mary’s By the Sea, dessen alte Schindelhäuschen sich aneinanderlehnten. Auf den Bürgersteigen standen altmodisch wirkende Straßenlaternen und aus ordentlichen Hängekörben rankte sich eine üppige Pflanzenpracht. Am Ortsausgang fuhr er an gepflegten kleinen Häusern und den dazugehörigen Grundstücken vorbei und verließ den Ort wieder. Dann ging es erneut auf langen waldgesäumten Straßen in die Wildnis bis zu Martha McCreadys Farm. Nachdem Fiona dem Fahrer das Geld gegeben hatte und er wieder weggefahren war,


Скачать книгу