Marthas Boot. Polly Horvath

Marthas Boot - Polly  Horvath


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glaube, hier ist keiner», verkündete Marlin, was offensichtlich war und lehnte sich an die Tür. Wie sie alle konnte sie sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten und wurde fast verrückt vor Müdigkeit.

      «Nein.» Zum ersten Mal wirkte Fiona zu verdutzt, um zu wissen, was als Nächstes zu tun war.

      Marlin suchte unter der Fußmatte und fand einen Schlüssel unter einem Blumentopf.

      «Gut gemacht», murmelte Fiona hundemüde und schloss die Tür auf.

      Das Haus war blitzblank und leer. Im Obergeschoss standen vier bezogene Betten nebeneinander in einem großen Schlafzimmer.

      «Die sind bestimmt für uns», verkündete Marlin. «Wenigstens wissen wir jetzt, dass wir erwartet wurden.»

      Das zweite Schlafzimmer gehörte eindeutig ihrer Tante, doch auch dort war niemand.

      Nachdem die Schwestern im Erdgeschoss Lebensmittel im Kühlschrank und in den Schränken entdeckt hatten, aßen sie rasch eine Mahlzeit aus Müsli und Obst, duschten und fielen in die vier Betten. Fiona schrieb eine Nachricht für Tante Martha und legte sie für den Fall, dass sie später noch kam, auf den Küchentisch.

      «Ich kann mir nicht vorstellen, was mit ihr passiert ist», sagte Fiona.

      «Ist mir inzwischen egal», murmelte Marlin. «ich bin einfach froh, dass ich endlich liege. Ich bin so froh, dass ...» Bevor sie den Satz beenden konnte, war sie wie Natasha und Charlie tief und fest eingeschlafen.

      Nur Fiona blieb wach, müde wie sie war, und dachte angestrengt nach. Sie wusste nicht, wie sie mit dieser erneuten Wendung ihres Schicksals umgehen sollte. Ihr fiel kein vernünftiger Grund für das Verschwinden ihrer Tante ein. Fiona überlegte und überlegte und überlegte, bis auch sie aufgab und einschlief.

Tante Marthas Nachbar

      Als die Mädchen am nächsten Morgen aufwachten, hegte Fiona für einen Moment die Hoffnung, ihre Tante wäre in der Nacht zurückgekehrt. Als sie in den Flur schaute und die Zimmertür ihrer Tante weiterhin offenstand, beschloss sie, nachzusehen. Das Bett war unberührt und ein Rundgang durchs Haus bewies, dass die Tante nach wie vor nicht da war.

      Fiona stellte erneut Müsli und Milch auf den Tisch. Obwohl sie sicher war, dass ihre Tante nichts dagegen haben würde, hatte sie ein komisches Gefühl, die Lebensmittel ohne ihre Erlaubnis zu verbrauchen. Nachdem die Schwestern heruntergekommen waren, machten sie es sich in den bequemen alten Stühlen auf der Veranda gemütlich. Es roch nach Kiefern, Erde und nach dem Meer. Sie waren noch nie an einem Ort gewesen, der so roch. Es war weder wie im Dschungel noch wie in der Wüste und auch nicht wie in der Stadt. Es roch nach Frühling, ein Prickeln lag in der Luft, als brächte der Wind frische Energie für neue Pläne – voller ungeahnter Möglichkeiten.

      «Mom hat immer wieder gesagt, wie seltsam sie ist», meinte Marlin. «Vielleicht gehört es zu den seltsamen Dingen dazu, dass sie einfach ohne Vorwarnung verschwindet.»

      «Wir könnten die Nachbarn fragen», schlug Natasha vor.

      «Hat sie überhaupt welche?», fragte Charlie, denn vor ihren Augen erstreckten sich nur eine riesige eingezäunte Wiese sowie rundum Kiefernwald, während hinter dem Grundstück Berge aufragten.

      «Sie muss doch irgendwelche Nachbarn haben», erwiderte Marlin. «Wir können sie nur von hier aus nicht sehen. Nach dem Frühstück sollten wir rübergehen und bei ihnen klopfen. Vielleicht hat sie jemandem gesagt, wohin sie gegangen ist.»

      Die Mädchen räumten das Frühstück ab, kümmerten sich um das Geschirr, machten die Betten und zogen sich an. Dann gingen sie auf die Straße hinaus. Charlie hielt die ganze Zeit Fionas Hand, blickte unverwandt in den Wald und wartete auf Bären. Als Erstes stießen sie auf ein kleines freies Grundstück, auf dem ein Wohnwagen stand. Ein Fliegengitter hing halb losgelöst an einem Fenster, die Stufen, die zur Tür führten, waren kaputt, und auf der Wiese standen ein alter Kühlschrank und eine Badewanne.

      «Vielleicht sollten wir nochmal weitergehen», schlug Natasha nervös vor, als ein großer Mann mit einem ungepflegten weißen Haarschopf, der ein schmutziges Unterhemd und eine zerrissene Hose trug, die Fliegengittertür aufriss und die Mädchen böse ansah.

      «WAS?», schrie er. «Wer seid ihr

      «Unsere Großtante wohnt nebenan», antwortete Fiona.

      «Jetzt nicht mehr», sagte der Mann. «Hat sich vor zwei Tagen begraben.»

      Fiona verließ der Mut. Obwohl sie sich die ganze Nacht die schlimmsten Dinge ausgemalt hatte, war sie auf diese allerschlimmste Möglichkeit nicht gekommen.

      «Man kann sich nicht selbst begraben», sagte Marlin unfreundlich. Sie war die Einzige von den Vieren, die kratzbürstig wurde und sich streiten wollte, wenn ihr jemand quer kam. «Wie soll das gehen?»

      «Meine Mutter hat gesagt, sie hat sich in den Wäldern versteckt», erklärte Natasha.

      «Sie hat sich nicht in den Wäldern versteckt, sie war nur keine, die was auf Klatsch und Tratsch gab», erwiderte der Mann. «Sie hat mit keinem geredet. Ich war zwölf Jahre ihr Nachbar und wir haben kaum ein Wort gewechselt. Sie mag – mochte die Menschen nicht.»

      «Was meinten Sie damit, dass sie sich begraben hat?», fragte Fiona höflich.

      «So wie ich es sage. Nicht körperlich natürlich, wenn du das meinst. Ihre Leiche hat sich keine Schaufel gegriffen oder den Sarg in der Erde versenkt, bevor sie reingesprungen ist.»

      Angesichts dieser drastischen Beschreibung zuckten die Mädchen zusammen.

      «Sie hat alles vorbereitet, das wollte ich damit sagen. Es gab niemanden, der sich gekümmert hat. Anscheinend hatte sie zu niemandem Vertrauen. Sie hat ein Grab auf dem Friedhof von St. Mary’s By the Sea gekauft. Der Grabstein wurde schon fünf Jahre vor ihrem Tod aufgestellt. Das ging einigen Leuten zu weit, sie fanden das krankhaft. Sie behaupteten, ihnen würde ein Schauer über den Rücken laufen, wenn sie jeden Tag auf dem Weg in die Stadt an ihrem wartenden Grabstein vorbeikämen. Aber eure Großtante hat sich der Wirklichkeit immer gestellt. Sie wusste, dass man in unserem Alter einfach so sterben kann.» Er schnippte mit den Fingern. «Und genauso war’s. Sie ist im Baumarkt tot umgefallen. Schwerer Herzinfarkt. Ist nur sechzig geworden, aber sie hat alles geregelt. Sie hatte einen Bestatter beauftragt, ihr Testament gemacht und ihre Papiere geordnet. Da sie wusste, dass nur wenige Leute zu ihrer Beerdigung kommen würden – Moment – seid ihr deshalb hier? Nein, ihr seid nicht zur Beerdigung gekommen. Wetten, dass ihr nicht einmal wusstet, dass sie tot ist? Ihr seid die vier, die sie erwartet hat.»

      «Ich dachte, Sie hätten nie mit ihr geredet», entgegnete Marlin.

      «Marlin …», sagte Fiona warnend.

      «Tja, ihr seid zu spät gekommen.» Er überging Marlins Einwurf. «Wie gesagt, sie ist tot. Sie hat mir ihr altes Angelzeug und euch das Haus und alles andere hinterlassen. Vor zwei Wochen hat sie ihr Testament geändert. Wenn ihr nicht aufgetaucht wärt, hätte ich alles geerbt. Aber das ist mir egal. Hiram Pennypacker, ihr Möchtegern-Anwalt, hat mich gestern telefonisch informiert. Er wusste anscheinend nicht, dass ihr kommt. Er wollte nämlich herausfinden, wie er euch die Nachricht von eurem Erbe zukommen lassen kann. Ich hole das Angelzeug in den nächsten Tagen aus eurem Schuppen.»

      «Wieso Sie?», fragte Marlin.

      «Weil das Angelzeug jetzt mir gehört», antwortete er in Zeitlupe, als wäre Marlin ein bisschen beschränkt.

      «Nein, ich meine, warum hat sie es Ihnen hinterlassen?»

      «Marlin …», warnte Fiona erneut.

      «Wieso, er hat gesagt, er kannte sie kaum», gab Marlin zu bedenken. «Deshalb ist die Frage berechtigt. Warum sollte man jemandem etwas vererben, den man nicht kennt? Und wenn es nur das Angelzeug ist? Wieso sollte man ihm überhaupt etwas vererben?»

      «Niemand kannte sie.


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