Marthas Boot. Polly Horvath

Marthas Boot - Polly  Horvath


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      «Natasha», rief Marlin erschrocken.

      «Wieso, hat sie doch gesagt», protestierte Natasha.

      «Das heißt, es ist niemand da? Kein Vormund? Niemand von der Kirche? Eure Großtante hat gesagt, die Kirche würde euch herschicken. Sie hat mir nicht gesagt, dass eure Eltern gestorben sind. Eure Tante hat nie mehr gesagt, als unbedingt nötig war, aber selbst nach ihren Maßstäben hat sie da etwas Wichtiges ausgelassen.»

      «Wir haben uns», sagte Natasha.

      «Natasha …», warnte Marlin. Sie hielt nichts davon, jetzt zu improvisieren. Fiona sollte für alle sprechen. Schließlich sahen sie ja, was dabei herauskam, wenn jeder seine eigene Geschichte zum Besten gab.

      «Unbedingt, unbedingt», murmelte die Schulleiterin.

      Charlie wählte diesen ungünstigen Moment, um zu sagen: «Ich will nach Hause. Ich habe Hunger!»

      Darauf sprang Miss Webster sofort an. «Habt ihr nichts zu essen bekommen?»

      «Es gab nichts zu Mittag», jammerte Charlie.

      Diesmal stieß Marlin ihr den Ellbogen so fest in die Rippen, dass Charlie «AUA!» schrie.

      «Ich habe vergessen, etwas einzupacken!», gab Fiona zu. «Das war ein Fehler und wird nicht wieder vorkommen.»

      Darauf folgte erneut ein nachdenkliches Schweigen, bis die Schulleiterin sich unvermittelt gerade hinsetzte, als hätte sie eine Entscheidung getroffen. «Ich muss das Jugendamt anrufen und mich erkundigen, was ich mit euch machen soll.»

      Als sie zum Telefonhörer greifen wollte, sah Fiona zu ihrer eigenen Verwunderung, wie sich ihre Hand wie von selbst um das Handgelenk der Schulleiterin schloss, sodass sie den Hörer nicht aufnehmen konnte. So war sie noch nie mit einem fremden Menschen umgegangen, und mit einer Erwachsenen schon gar nicht. Natasha schnappte nach Luft, Marlin riss die Augen auf und Charlie schrie leise auf.

      «Tun Sie das nicht», flehte Fiona. «Rufen Sie nicht das Jugendamt an. Bitte! Warten Sie wenigstens so lange, bis ich Ihnen die ganze Geschichte erzählt habe.»

      Miss Webster ließ das Telefon los, lehnte sich zurück und wartete.

      Mit vielen Pausen und Einwürfen und Unterbrechungen von Natasha, Charlie und Marlin kam alles heraus.

      «Es gibt nichts», fasste Fiona zusammen, «nichts, was schlimmer sein könnte, als getrennt zu werden. Sie können sich das nicht vorstellen. Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn man plötzlich seine Eltern verliert und dann erfährt, dass man auch noch seine Schwestern verlieren soll. Ich laufe weg, ehe ich das geschehen lasse. Ich laufe weg und nehme sie mit. Wenn es sein muss, gehe ich in die Wälder. Es ist mir egal, was aus uns wird, Hauptsache wir bleiben zusammen. Wenn Sie das Jugendamt anrufen, sind wir weg, noch bevor sie herkommen können.»

      «Droh mir nicht», forderte Miss Webster. «Bleib einfach sitzen und lass mich kurz nachdenken.»

      Zum dritten Mal legte sich Stille über den Raum, doch diesmal dauerte sie sogar noch länger an als zuvor. Schließlich sagte Miss Webster: «In einem Punkt habt ihr euch geirrt. Ich weiß, wie es sich anfühlt, seine Familie zu verlieren. Ich bin weggelaufen, als ich nur ein Jahr älter war als du. Meine Wohnsituation war … nun ja, brenzlig. Ich bin abgehauen und habe lange auf der Straße gelebt. Dann hat sich das Blatt gewendet und ich habe eine Ausbildung gemacht. Ich hatte sehr viel Glück, mir wurde oft geholfen. Und jetzt bin ich die jüngste Schulleiterin, die es in St. Mary’s By the Sea je gegeben hat.» Sie wurde rot, als wäre ihr dieser Ausbruch peinlich, und fügte hinzu: «Nicht, dass St. Mary’s By the Sea besonders groß wäre oder es hier besonders viele Schulleiterinnen gegeben hätte.»

      «Nein, aber das ist dennoch ein großer Erfolg!», bestätigte Natasha aufmunternd, wie es ihre Mutter getan hätte.

      «Danke.» Miss Webster hüstelte. «Ich wollte eigentlich nicht von mir sprechen. Gut, ihr scheint nette Mädchen zu sein und ihr habt Glück, dass ich euer Geheimnis als Erste aufgedeckt habe. Hoffentlich bin ich auch die letzte, denn jetzt erkläre ich euch, was ich für euch tun werde und warum. Da ich das Jugendamt aus eigener Erfahrung besser kenne als mir lieb ist, habe ich mehr Mitleid mit euch als viele andere es hätten. Außerdem ist eure Angst hinsichtlich einer Pflegefamilie meines Erachtens berechtigt. Ihr würdet wahrscheinlich tatsächlich genau wie befürchtet getrennt werden, denn es ist zwar wichtig, aber nicht das erste Anliegen des Jugendamts, euch zusammen zu lassen. Das wäre nämlich, Pflegefamilien zu finden, egal welche. Und ich bin ganz eurer Meinung, dass es euer erstes Anliegen sein sollte, zusammenzubleiben. Solange ihr das schafft, und vorausgesetzt, du, Fiona bist bereit, die Verantwortung zu tragen, denn das Meiste wird auf dich zukommen, weil du die Älteste bist. Aber ich weiß, dass eine verzweifelte Vierzehnjährige mehr schafft als man ihr zutraut. Ich habe sehr viel mehr erreicht als irgendwer glaubte, aber es ist dennoch sehr schwer, wenn man auf sich allein gestellt ist. Schwerer als ihr bisher ahnt. Ich habe das schon so empfunden, ohne, dass ich noch für drei andere sorgen musste. Doch ihr habt auch einiges, was ich nicht hatte. Ihr habt ein Zuhause und Geld auf dem Konto. Und ihr habt viel Erfahrung, weil ihr schon an vielen Orten auf dieser Welt gelebt habt. Ihr könntet klarkommen. Dennoch mache ich mich schuldig, wenn ich einfach wegschaue. Und ich trage die Verantwortung für das Ergebnis dieses Experiments.»

      «Nein, das Gefühl müssen Sie nicht haben», widersprach Marlin. «Wir würden Ihnen nicht die Schuld geben.»

      «Mit euch hat das nichts zu tun. Ich nehme die Verantwortung auf mich», erwiderte Miss Webster. «Und deshalb komme ich einmal die Woche vorbei und sehe nach dem Rechten. Habt ihr das verstanden?»

      Die vier Kinder nickten eifrig wie eine Reihe von McCready-Wackeldackeln. Beinahe hätte Miss Webster hysterisch gelacht. Angesichts der Tragweite dessen, was ihr drohen könnte – zum Beispiel ihren Job zu verlieren oder eine Anzeige zu bekommen oder wer weiß was noch – fühlte sie sich etwas erschlagen.

      «Als Gegenleistung dafür, dass ich euer Geheimnis wahre, müsst ihr mir auch etwas versprechen. Ihr dürft nie irgendwem verraten, dass ich mit dieser Abmachung einverstanden war. Wenn ihr erwischt werdet und das Schlimmste zu befürchten steht, bringt es nichts, wenn die Leute erfahren, dass ich eingeweiht war. Versprochen?»

      «Ja», erklärte Fiona feierlich. «Sie haben mein Wort, Sie haben unser aller Wort.»

      «Wir sind Ihnen so dankbar», fügte Marlin hinzu.

      «Vielen Dank», sagte auch Natasha.

      «Wir haben den Schulbus verpasst!», rief Charlie und sprang auf, als sie merkte, dass der Parkplatz so gut wie leer war.

      «Kein Problem.» Miss Webster griff nach ihrer Handtasche und den Schlüsseln. «Ich bringe euch nach Hause. Bei der Gelegenheit kann ich mir gleich ein Bild machen, wie es da aussieht. Nur um mich zu vergewissern.»

      Miss Webster fuhr sie nach Hause und Fiona zeigte ihr das Haus.

      Miss Webster fiel auf, wie sauber es in der Küche war, und dass die Betten gemacht waren. Und weil es so ein schöner Tag war, zeigten die Mädchen ihr die Wiese, den Obstgarten und am Ende des Privatwegs auch noch ihren kleinen Strand.

      «Einfach bezaubernd», seufzte Miss Webster, als sie mit dem Rundgang fertig waren, am Zaun standen und über das Grundstück blickten. «Ich wollte schon immer eine Farm haben, aber diese hier am Meer ist besonders entzückend. Hier gibt es von allem etwas, stimmt’s? Wetten, dass eure Großtante sie damals günstig bekommen hat? Ich bezweifle, dass ich mir so etwas jemals leisten kann. Glück gehabt, Kinder!» Dann riss sie sich zusammen. «In mancher Hinsicht. So!» Sie klatschte in die Hände, als hätte sie eine Entscheidung getroffen. «Ich bin sicher, dass uns Steine in den Weg gelegt werden und mir vorzustellen, was alles schieflaufen könnte, wird mich wahrscheinlich nächtelang wach halten. Aber für heute lassen wir es gut sein. Der Bus holt euch morgen früh um halb neun am Ende der Farhill Road ab. Ich gebe euch noch meine Handynummer, dann könnt ihr mich anrufen, wenn ihr etwas braucht oder irgendwie in der Klemme steckt.»

      Die Mädchen begleiteten


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