Marthas Boot. Polly Horvath
«Und wie sollen wir das bezahlen?», fragte Marlin.
«Keine Ahnung. Ich hoffe, das kriegen wir irgendwie hin. Aber bis dahin werden wir nicht schwänzen.»
«Dann werden sie in der Schule auf uns aufmerksam», wiederholte Natasha.
«Stimmt, aber sie werden nicht erfahren, dass wir allein leben, wenn wir es ihnen nicht verraten», fuhr Fiona fort. «Und das ist der schwierige Teil. Wir dürfen es, und damit meine ich uns alle, Charlie, mit keinem Wort erwähnen. Das wird sehr schwer. Es darf uns nicht zufällig rausrutschen, bei niemandem, weder bei unseren zukünftigen Freunden, gegenüber dem Anwalt, mit dem wir einen Termin vereinbaren müssen, noch bei unseren Lehrern oder irgendwem sonst. Schaffen wir das?»
«Ja, klar», erklärte Natasha.
«Also, ich schon», bestätigte Marlin. «Ich mache mir nur Sorgen wegen Charlie.»
«Ich werde nichts verraten», versprach Charlie feierlich. «Geheimnisse sind bei mir sicher.»
«Das ist das wichtigste Geheimnis, das du jemals für dich behalten musstest, Charlie», beschwor Fiona. «Davon hängt alles ab, wirklich alles.»
«Wie verhalten wir uns, wenn jemand nach unseren Eltern fragt?», gab Natasha zu bedenken.
«Keine Ahnung. Was das angeht, bin ich noch nicht so weit. Weicht am besten erstmal aus, bloß keine komplizierten Lügengeschichten. Versucht, das Thema zu wechseln oder sagt etwas über sie, das der Wahrheit entspricht, ohne zu erwähnen, dass sie tot sind.»
«Klar, als ob das funktionieren könnte», schnaubte Marlin. «Diesem Plan gebe ich höchstens eine Woche.»
Charlie fing wieder an zu weinen.
«Weinen nützt dir auch nichts», sagte Marlin. «Du musst dich hier echt zusammenreißen. Du musst stark sein.»
«Ich kann stark sein», erklärte Charlie und wischte sich die Augen trocken.
«Gut», sagte Fiona. «Jetzt genießt erstmal den Rest des Tages. Morgen gehe ich mit euch in die Schule, melde euch an und dann sehen wir, ob ihr direkt anfangen könnt. Danach gehe ich in meine Schule und mache das Gleiche. Ich habe auf Tante Marthas Computer nachgeschaut. Ihr drei geht in die Greenwillow-Schule, und ich gehe auf die weiterführende Schule von St. Mary’s By the Sea. Die beiden Schulen liegen einander direkt gegenüber. Vermutlich haben wir sie gesehen, als wir durch den Ort gefahren sind, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Wir waren alle zu k.o.»
«Und wie kommen wir dahin?», wollte Natasha wissen.
«Morgen früh müssen wir laufen. Dann melde ich uns für den Schulbus an, der uns hoffentlich – falls es einen gibt – nicht allzu weit weg von Tante Marthas Haus abholt. Eins nach dem anderen.»
Der Rest des Tages verging damit, dass Marlin das Brot fertig backte, Natasha und Charlie die Heuböden über den Ställen erkundeten und alle vier unten am Strand das frische Brot mit Butter zum Abendessen aßen, während sie auf einem angeschwemmten Baumstamm saßen und zuschauten, wie die Flut kam.
«Seht mal», Natasha zeigte auf ein paar linkische weiße Vögel.
«Möwen», sagte Charlie.
«Nein, Küstenseeschwalben, Zugvögel, die zurück nach Norden fliegen», widersprach Natasha, die bereits alle hiesigen Vogelarten nachgeschlagen hatte. Küstenseeschwalben hatte sie allerdings nicht erwartet, obwohl sie die Art kannte und auch wusste, dass es sich um Zugvögel handelte. Sie hatte nur nicht gewusst, dass sie auf Pine Island Station machten.
Als die Vögel sich von einer Seite zur anderen neigten, sahen sie wie kleine Papierflugzeuge aus und durchschnitten die Luft in einer klaren Linie, während sich das Licht in ihren glänzenden Flügeln fing, als wären sie aus Glas.
«Küstenseeschwalben!», wiederholte Natasha und hob voller Ehrfurcht die Magie, die in ihrem Namen lag hervor, weil sie einen Vogel zu sehen bekam, mit dem sie nicht gerechnet hatte.
An diesem Abend räumten sie zwei Betten in Tante Marthas Zimmer, sodass Marlin und Fiona, die gerne länger wachblieben, lasen und noch redeten, Charlie und Natasha nicht störten, wenn diese eingeschlafen waren. Als sie im Bett lagen, legte Marlin plötzlich ihr Buch weg: «Das klappt nie. Dafür kann echt zu viel schiefgehen.»
«Es muss klappen», erwiderte Fiona. «Wir haben keine andere Wahl.»
«Muss und wird sind zwei verschiedene Dinge», sagte Marlin praktisch wie immer.
«Du musst dran glauben, Marl. Nur mit meiner eigenen Hoffnung kann ich uns nicht weiterbringen.»
«Okay», versprach Marlin – gerührt von dem Vertrauen ihrer Schwester. Insgeheim dachte sie jedoch: Ich behaupte, dass ich daran glaube, aber das heißt nicht, dass ich wirklich daran glaube, genauso wenig wie daran, muss klappen und wird klappen wären dasselbe.
Fiona plagte derweil der Gedanke, dass sie eine Trennung von ihren Schwestern nicht ertragen würde. Jede von ihnen hatte ihre Eigenarten und Eigenschaften, die miteinander verschmolzen waren, als bildeten sie gemeinsam eine Einheit. Ein Wesen. Fiona glaubte seit jeher, dass sie mit der Macht ihrer Entschlossenheit die retten konnte, die sie liebte, während Charlie wie der Wachhund der Familie stets auf drohende Gefahren achtete. Natasha schwebte wie eine Dichterin durchs Leben, beobachtete Vögel, sah die Dinge stets in einem anderen Licht, und lebte im Hier und Jetzt, ohne darüber nachzudenken, was als Nächstes geschah. Marlin dagegen stand mit beiden Beinen hartnäckig auf dem Boden der Tatsachen. Es war, als ob sie jene Eigenschaften miteinander teilten, die die jeweils anderen nicht hatten. Und alle hatten ihre guten und ihre schlechten Seiten. Doch Fiona würde keine von ihnen ändern wollen. Fiona wollte um nichts in der Welt von ihnen getrennt sein. Sie fürchtete die Einsamkeit für sich selbst, aber noch mehr für ihre Schwestern. Es war furchtbar, sich den Schmerz, den sie deswegen empfinden würde, überhaupt nur vorzustellen, doch der Schmerz, den die anderen erleiden würden, war noch undenkbarer.
Bevor sie aufbrachen, schaute Fiona auf Google Maps nach, wie lange sie zu Fuß zur Schule brauchen würden und kam auf fünfundvierzig Minuten. Sie scheuchte die anderen aus dem Haus und dachte gleichzeitig, dass es wahrscheinlich nicht viel ausmachte, wenn sie zu spät kämen. Schließlich würden sie sich vermutlich fürs Erste nur anmelden und noch nicht am Unterricht teilnehmen. Sie hatten weltweit viel Erfahrung mit neuen Schulen gesammelt und festgestellt, dass jede anders war. Während sie an der Straße entlang gingen, befürchtete Fiona, dass man ihnen ohne ein Elternteil, das alles Mögliche unterschrieb, die Anmeldung verweigerte, doch sie behielt diese Sorge für sich und wies fröhlich auf große alte Scheunen, riesige Bäume und andere interessante Dinge hin.
Als sie an der Grundschule angekommen waren, sich durch die ankommenden Schüler geschlängelt und das Sekretariat gefunden hatten, wusste sie nicht, wohin mit ihren Händen und begann unruhig, sie zu kneten. Marlin versetzte ihr einen festen Stoß mit dem Ellbogen und da merkte Fiona, wie nervös sie wirkte. Also riss sie sich zusammen und betrat kampfbereit das Sekretariat.
Doch statt wegen ihres elternlosen Daseins Zweifel zu äußern, lief die Schulsekretärin zum Tresen vor und sagte: «Da seid ihr ja. Ihr seid doch sicher die McCready-Kinder, oder? Eure Lehrer wissen, dass ihr kommt, denn eure Großtante hat euch letzte Woche angemeldet. Eigentlich hatten wir euch schon gestern erwartet, aber – wie dumm! – ich hatte den Jetlag ganz vergessen. Den ganzen weiten Weg von Borneo, du meine Güte! Ich bin noch nie weiter gekommen als bis Vancouver. Ihr habt bestimmt mindestens einen Tag gebraucht, um euch in der richtigen Zeitzone zurechtzufinden? Liebes, wenn du Fiona bist, dann weiß ich von deiner Großtante, dass du auf die weiterführende Schule von St. Mary’s gehst, die direkt gegenüber liegt. Ich kümmere mich um deine Schwestern, wenn du gleich rübergehen möchtest.»
«Wir wüssten gern, ob es einen Schulbus gibt», erkundigte sich Fiona.
«Ja,