Marthas Boot. Polly Horvath

Marthas Boot - Polly  Horvath


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leid. Hat es eure Familie noch rechtzeitig zur Beerdigung geschafft?»

      «Äh, nein», antwortete Fiona, während die anderen drei unbehaglich dreinblickten und versuchten, nicht zu zeigen, wie viel Angst sie hatten, dass ihr elternloser Zustand jeden Moment enthüllt werden und ihre Hoffnungen und Pläne zunichtegemacht würden.

      «Wie schade, aber wie ich hörte, passierte alles ganz plötzlich. Nun ja, ich kümmere mich um den Schulbus. Das ist kein Problem. Ihr könnt alle mit demselben Bus fahren. Die beiden Schulen teilen sich zwei Busse, einer fährt nach Westen, der andere nach Osten. Ihr müsst den nach Westen nehmen, der am Parkplatz von Fionas Schule abfährt. Die meisten Schüler fahren mit dem nach Osten, der auf unserem Parkplatz hält. Also denkt dran, den nicht nehmen. Ich sorge dafür, dass ihr auf die Liste kommt und ein Halt für euch eingeplant wird. Das wird alles geregelt sein, bis der Unterricht zu Ende ist. Ihr müsst dem Fahrer nur sagen, dass ihr die McCreadys seid, seine letzte Haltestelle, falls er es vergisst. Nicht zu fassen, dass ihr so weit draußen bei Miss McCready auf der Farhill Road wohnt. Sie hat, beziehungsweise hatte eine hübsche alte Farm. Allerdings hat sie nie viel angebaut. Sie war mehr aufs Fischen aus, stimmt’s? Aber sie hat sich da wirklich eine wunderschöne alte Farm gekauft. Die alten sind doch immer besonders charmant, findet ihr nicht auch? Früher gab es da eine große Apfelplantage, aber mit den Äpfeln kann sie nun wohl nicht mehr viel anfangen, die Ärmste.»

      «Sie kann mit nichts mehr so richtig viel anfangen», flüsterte Marlin Natasha zu.

      «Soweit wir das beurteilen können», wisperte Natasha zurück, denn ihr war beigebracht worden, dass alle Menschen in den Himmel kamen und sie dachte, irgendetwas müsste es dort doch auch zu tun geben. Man saß sicher nicht nur herum und drehte Däumchen.

      Fiona warf den beiden einen bösen Blick zu, damit sie aufhörten zu flüstern.

      «Oh je, jetzt ist es wieder mit mir durchgegangen. Wegen der Äpfel. Ich liebe alte Streuobstgärten und sie hat viele verschiedene alte Obstbäume, nicht nur Äpfel. Aber das ist auch schon alles, was ich über sie weiß. Sie war gern für sich, habe ich gehört.»

      «Immerhin haben wir genug Obst», stellte Natasha fest und Marlin stupste sie mit dem Ellbogen an. Die Sekretärin schien nichts zu merken, als sie zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte, um die Papiere abzulegen.

      «Ich bringe euch drei jetzt zu euren jeweiligen Klassenräumen. Du kannst ruhig gehen, Liebes», sagte sie zu Fiona, die sich bedankte und über die Straße lief. In ihrer Schule wurde sie ähnlich begrüßt und zu ihrem Klassenraum gebracht. Sie war so erleichtert, dass alles viel einfacher gewesen war als sie sich vorgestellt hatte, dass es ihr noch nicht einmal etwas ausmachte, dass sie kein Mittagessen eingepackt hatte. Nach der Schule würden sie zwar alle kurz vor dem Verhungern sein, aber es gab Schlimmeres und am nächsten Tag würde sie daran denken, Pausenbrote einzupacken. Wer die Verantwortung trug, lernte eben ständig dazu.

      In den meisten Schulen, die Fiona bisher besucht hatte, musste man für jedes Fach das Klassenzimmer wechseln. In anderen, die oft an abgelegenen Orten lagen, war es üblich gewesen, dass sich Kinder aller Altersstufen einen Raum teilten. In dieser Schule schien es genügend Kinder für eine neunte Klasse mit einem Lehrer zu geben.

      Kam man in eine neue Schule, war der schlimmste Moment immer der, wenn man zum ersten Mal das Klassenzimmer betrat, aber hier waren alle sehr freundlich. Fiona entschied, dass die Schule nicht das Problem sein würde. Freunde auf Abstand zu halten, damit niemand die Lage der Mädchen durchschaute, ohne dass die McCreadys als unfreundlich galten – das würde dagegen sicher schwierig werden. Doch das würde sich mit der Zeit erweisen. Fiona schöpfte jedenfalls neue Hoffnung, dass ihr riskanter Plan funktionieren könnte.

      Als Fiona nach der Schule auf dem Parkplatz ihre Schwestern suchte, wartete stattdessen die Sekretärin der Grundschule auf sie. Sie kam lächelnd auf Fiona zu und sagte: «Komm doch bitte mit, Fiona, wenn es dir nichts ausmacht. Wir stecken im Sekretariat in einer gewissen Zwickmühle.»

      «Was denn für eine Zwickmühle?», fragte Fiona nervös.

      «Das wirst du gleich sehen», antwortete die Sekretärin nicht unfreundlich.

      Im Büro saßen Charlie, Natasha und Marlin mit betretenen Mienen bei der Schulleiterin, die jünger war als die meisten Schulleiterinnen, denen Fiona bisher begegnet war. Die junge Frau war hübsch, hatte kurze dunkle Haare und ein freundliches Gesicht. Sie lächelte, als Fiona hereinkam.

      «Oh, hallo, meine Liebe. Ich bin Miss Webster. Wir wollen nur kurz abklären, was mit euren Eltern ist. Die Lehrer der Mädchen haben jeweils etwas anderes erzählt.»

      «Oh», sagte Fiona.

      «Also, Charlie behauptet, eure Eltern wären tot …»

      «Sind sie auch», nickte Charlie.

      Die Schulleiterin hob die Hand, während Marlin ihre Augenbrauen hochzog, um Fiona zu warnen.

      «Marlin sagt, sie hätten zu tun. Und Natasha sagt, sie wären noch in Borneo und würden bald nachkommen. Da ich weiß, dass eure Großtante verstorben ist, Liebes, wollte ich es doch lieber genau wissen. Im Grunde geht es nur darum, wer sich zurzeit um euch kümmert, damit wir jemanden anrufen können, falls es Probleme gibt.»

      Fiona sah die Schulleiterin an, dann die Sekretärin und schließlich die Wand. Sie strengte sich an, eine gute, vertrackte Lügengeschichte zu erfinden, mit der sie die drei Versionen ihrer Schwestern sinnvoll verknüpfen konnte, aber ihr Verstand glich einem Reh im Scheinwerferlicht und verweigerte jegliches Tun. Die Sekretärin hatte ihre Sachen genommen, weil sie für heute fertig war und verabschiedete sich fröhlich, bevor sie die Tür schloss. Nun waren sie nur noch zu fünft.

      So schnell. Nein, nein, nein! Das kann uns so schnell doch nicht passieren, dachte Fiona. Sie hatte in Erwägung gezogen, dass sie eines Tages auffliegen würden, aber doch nicht gleich am ersten. Charlie begann zu weinen.

      «Oh, nicht weinen, Liebes», sagte Miss Webster. «Ihr bekommt keinen Ärger. Aber eine Geschichte muss die richtige sein und ich würde sie gern von eurer Schwester hören, weil sie die Älteste ist.»

      «Na ja, irgendwie sind die Geschichten auf ihre Art alle wahr», stammelte Fiona und überlegte, ob sie sich irgendwie doch noch rausreden konnte.

      «Wie kann das sein, Liebes?», wollte die Schulleiterin wissen, die hinter ihrem Schreibtisch Platz nahm und sie freundlich fragend ansah.

      «Ja, also, Sie kennen das doch sicher, bei Umzügen verliert man schon mal das ein oder andere?»

      «Willst du damit sagen, dass ihr eure Eltern verloren habt?»

      «Nein, nein, das Wort verlieren ist hier zu stark, obwohl es in gewissem Sinne, selbstverständlich, ja, genauso ist, aber kann man jemanden je wirklich verlieren, das ist hier eher die Frage.»

      «Verstehe. Hören wir auf, um den heißen Brei herumzureden», sagte die Schulleiterin, die immer noch nicht wütend, sondern besorgt wirkte. «Wer kümmert sich im Haus eurer Großtante um euch? Schließlich weiß ich, dass es nicht eure Großtante sein kann. Außerdem müsst ihr wissen, dass ich früher eine unverbesserliche Lügnerin war und mir alle Tricks vertraut sind, wie man die Wahrheit verschleiern kann.»

      «Niemand», antwortete Fiona ausdruckslos. «Im Moment.»

      Marlin, Natasha und Charlie sahen Fiona entgeistert an. Hatte sie ihnen nicht eingeschärft, genau das nicht zuzugeben?

      «Heißt das, jemand kommt

      «Oh, mit Sicherheit, könnte man sagen, oder meinen Sie nicht?»

      «Dazu sage ich nichts. Aber netter Versuch. Ich hab euch gewarnt – unverbesserliche Lügnerin. Erste Liga. Aber jetzt sag mir bitte, warum Charlie behaupten sollte, eure Eltern wären tot, wenn das gar nicht stimmt? Und wenn sie tot sind und eure Großtante auch, wer wohnt dann jetzt bei euch? Mit wem kann ich Kontakt aufnehmen?»

      «Im Augenblick mit mir», antwortete Fiona.

      Die Schulleiterin schwieg. Die Stille zog sich in die


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