Marthas Boot. Polly Horvath
– offenbar vor Rührung –, drehte sich um und knallte die Wohnwagentür zu.
«Nun ja», stammelte Fiona, während sie in einer Mischung aus Schock und der Erwartung, der Mann würde wieder hervorkommen und seinen Satz beenden, wie angewurzelt stehen blieben. Er kam aber nicht. «Ich würde sagen, der Zweck unseres Besuches hat sich erfüllt. Wir wissen jetzt, warum sie nicht zum Flughafen gekommen ist, um uns abzuholen.»
Sie gingen wieder nach Hause. Als wäre es ihr gerade eingefallen, meinte Marlin unten an der Einfahrt: «Damit sind wir genau so weit wie vorher. Beim Jugendamt.»
Charlie heulte los und bekam einen Schluckauf. «Dann bringen sie uns weg? Wir können nicht mehr zusammen bleiben?»
«Doch», sagte Fiona. «Sie bringen uns nicht weg. Wir besitzen jetzt ein eigenes Haus. Wir wohnen nicht nur zur Miete. Da Tante Martha uns alles vererbt hat, bedeutet das sicher auch, dass noch irgendwie Geld zu dem von Mommy und Daddy hinzukommt. Wir müssen rausfinden, wie das alles funktioniert. Dafür sollten wir uns wohl mit ihrem Anwalt Mr Pennypacker treffen. Das Geld muss auf ein Konto überwiesen werden, so wie damals, nachdem Mommy und Daddy gestorben sind. Mrs Weatherspoon hat mit Tante Martha darüber gesprochen, wie das alles angelegt ist, und ich habe es selbst auch irgendwo schriftlich. Unser Geld von Mommy und Daddy liegt auf der Canadian Imperial Bank of Commerce, die eine Filiale in St. Mary’s By the Sea betreibt. Im Moment können wir davon bestimmt ganz gut leben, vielleicht sogar recht lange, bis wir alt genug sind, um zu arbeiten.»
«Wie wär’s, wenn wir Mrs Weatherspoon anrufen und ihr berichten, wie es gelaufen ist?», schlug Natasha vor.
«Nein», entgegnete Fiona nachdenklich. «Obwohl ich glaube, dass sie ein schlechtes Gewissen hätte, würde sie dennoch das Jugendamt informieren.»
«Also haben wir keinen Erwachsenen», stellte Marlin fest. «Meinst du nicht, dass jemand was dagegen hat?»
Fiona dachte nach. Wer wäre in diesem Fall dieser Jemand? Beim letzten Mal war es die Kirche gewesen, doch die Kirche war nicht mehr für sie zuständig, oder? Diese Leute hatten sie sicher in einem neuen Heim bei einer Verwandten untergebracht und damit ihre Pflicht erfüllt. Wenn die Mädchen niemandem erzählten, dass kein Erwachsener bei ihnen wohnte, wer sollte dann davon erfahren? Wer sollte sich dafür interessieren, was von nun an aus ihnen wurde?
«Schreiben wir nochmal Briefe? An die Tanten und Onkel und flehen sie an, dass einer von ihnen uns aufnimmt? Vielleicht sollten wir ihnen Geld anbieten?», meinte Marlin halb im Scherz.
Fiona schwieg kurz. Etwas, das gerade gesagt wurde, hatte sie auf eine Idee gebracht, aber sie bekam sie nicht richtig zu fassen, so betäubt war sie von diesem neuerlichen Hindernis, das ihnen im Weg stand.
«Nicht weinen, Charlie. Ich glaube, ich habe eine Idee. Sie muss nur noch ein wenig reifen.»
«Was sollen wir bloß machen?», wimmerte Charlie, ohne auf Fionas Ermahnung, nicht zu weinen, einzugehen.
«Erstmal erkunden wir unseren neuen Besitz. Wir schauen nach, was es in den Schränken zu essen gibt, und wenn es Trockenhefe und Mehl gibt, backe ich ein Brot. Mom hat immer gesagt, die besten Ideen wären ihr beim Teigkneten gekommen. Wisst ihr nicht mehr, dass sie das immer als Erstes getan hat, wenn wir irgendwo neu eingezogen sind? Damit das Haus genauso roch wie all unsere anderen Häuser davor? Sie hat gesagt, Brotbacken riecht überall gleich, ganz egal, wo man landet.»
«Einverstanden!», rief Charlie.
Die nächste Stunde verbrachten sie damit, ihr Grundstück zu erforschen. Sie stießen auf einen Obstgarten in einer Ecke der eingezäunten Wiese, auf der noch weitere Bäume standen und auf mehrere große Unterstände.
«Die sehen aus wie Ställe. Anscheinend hatte sie irgendwann mal Pferde», meinte Natasha. «Schade, dass keine mehr da sind.»
«Pferde können wir uns nicht leisten», sagte Fiona. «Ich fürchte, wir müssen sehr sparsam mit dem Geld umgehen. Ich habe mich kaum damit befasst, wie viel Geld wir haben, weil Mrs Weatherspoon sich um alles gekümmert hat, und weil ich dachte, wenn wir hier sind, wäre Tante Martha dafür zuständig. Aber jetzt muss ich mir das alles genau ansehen. Deshalb, fürs Erste keine Pferde.»
Ein steiniger Weg führte hinunter an einen kleinen Strand. Gerade war Ebbe, das seichte Wasser reichte weit ins Meer und wurde von der Sonne gewärmt.
«Gehört der Strand uns?», fragte Charlie.
«Würde ich so sagen», antwortete Fiona.
«Also, so was hatten wir noch nie.» Charlie wurde allmählich munterer. «Und das kostet nichts.»
Sie wateten ins Wasser, steckten die Finger in Seeanemonen und schauten zu, wie ihre winzigen Fangarme sich um ihre Finger schlossen. Zwischen den Felsen entdeckten sie große purpurfarbene Seesterne mit vielen Armen, die Charlie zunächst für Tintenfische hielt. Natasha erklärte ihr, was es war und warnte davor, den durchsichtigen, schwer erkennbaren Quallen, die hier und da im Meer trieben, zu nahe zu kommen. «Das brennt.»
Als es Mittag wurde, hatten sie, windzerzaust, eine Salzkruste auf der Haut und eine gehörige Portion Sonne getankt. Sie gingen zum Haus zurück, wo Fiona aus dem großen Vorrat an Aufschnitt, den ihre Tante ganz eindeutig für sie gekauft hatte, ihr Mittagessen vorbereitete. Anschließend scheuchte sie ihre Schwestern aus der Küche, damit sie ihre Bücher lasen oder Ketten aus Wildblumen bastelten, während sie in den Schränken und Schubladen kramte und zu ihrer Freude feststellte, dass alle Zutaten zum Brotbacken vorhanden waren. Nachdem sie Hefe mit Wasser vermischt hatte, geschah zu ihrer Verwunderung nicht das Gleiche wie früher bei ihrer Mutter. Sie rief Marlin, die es sich ansah, das Rezept im Internet auf Tante Marthas MacBook Air durchlas, den Finger in das Hefewasser hielt und meinte: «Ich glaube, dein Wasser war zu kalt.» Sie schüttete es aus. «Lass mich mal.»
Fiona schaute zu, wie Marlin von vorne anfing und die Hefe diesmal wie gewünscht schäumte. Marlin gab die anderen Zutaten hinzu und knetete den Teig immer von Neuem auf dem kleinen Küchentisch durch. Als sie ihn endlich in eine Schüssel gelegt, mit einem Geschirrhandtuch zugedeckt und die Küche geputzt hatte, war Fiona in der Zwischenzeit ihrer Idee ein gutes Stückchen näher gekommen und rief die anderen auf die Veranda.
«Wie ich bereits gesagt habe, haben wir Geld, zumindest etwas», setzte sie an. «Und wir besitzen ein Haus. Morgen können wir uns in den jeweiligen Schulen anmelden. Mir gefällt es hier und ich bin sicher, dass es besser ist als in Lansing, Michigan oder in Kingsport, Tennessee. Außerdem sind wir zusammen. Das sind unbestreitbare Vorteile.»
«Ich finde es auch gut hier», bestätigte Marlin.
«Ja, ich auch», sagte Natasha.
«Ich will Mommy und Daddy», flüsterte Charlie.
Darauf gingen sie nicht ein. Sie wussten, dass Charlie irgendwie noch dem Gefühl nachhing, sie könnte ihre Eltern durch die schiere Kraft der Sehnsucht wiederbeleben, wenn sie den Wunsch nur oft genug wiederholte. Sie ermunterten sie nicht dazu, aber sie redeten es ihr auch nicht aus. Fiona fand es traurig, das mitansehen zu müssen, doch wenn Charlie damit aufhörte, wäre es noch schlimmer.
«Wir haben alles, was wir brauchen. Das Einzige, was andere zusätzlich für nötig befinden werden, ist eine erwachsene Person. Ich bin aber der Meinung, dass ich für uns sorgen kann. Wir brauchen keine Erwachsenen.»
«Was du denkst, spielt keine Rolle», entgegnete Marlin rundheraus. «Sobald jemand rausfindet, was wir hier machen, lassen sie uns nicht mehr allein leben.»
«Genau darüber wollte ich mit euch reden», fuhr Fiona fort. «Wir können allein hier wohnen, vorausgesetzt, niemand weiß es. Tante Martha hat anscheinend mit niemandem geredet, außer mit ihrem Nachbarn und ihrem Anwalt, und der wusste nicht einmal, dass wir nach hierher unterwegs waren, bis der Nachbar ihn informiert hat. Also hat vielleicht, ganz vielleicht, sonst niemand etwas von uns gehört.»
«Sie werden merken, dass es uns gibt, sobald wir in der Schule auftauchen», wand Natasha ein.
«Dann gehen wir eben einfach nicht zur Schule»,