SOKO Marburg-Biedenkopf. Группа авторов
Eins der Bilder gefiel Frau Loth besonders. Herr Meermann war darauf zu sehen. Umrahmt von seiner Frau und einem Mädchen mit dunklen Haaren, die sie sich aus dem Gesicht strich. Dabei spreizte sie den kleinen Finger ab, als hielte sie eine Teetasse. Im Hintergrund umkreisten Möwen einen Leuchtturm. Frau Loth mochte Leuchttürme und das Meer und den Wind, der einem die trüben Gedanken aus dem Schädel blies.
Sie seien immer nach Büsum gefahren, hatte der alte Herr erzählt, als Frau Loth ihre Vorliebe erwähnte. Wo denn seine Tochter jetzt sei, hatte sie ihn gefragt. Nicht mal zur Beerdigung war sie gekommen. Das wusste Frau Loth, weil sie hingegangen war. Im Ausland hatte er geantwortet und dabei so traurig ausgesehen, dass sie gleich einen Kloß im Hals gehabt hatte. Und nun war er tot. Der arme alte Mann.
Gerührt wischte sich Frau Loth die Nase und schob die Veränderungsliste in ihre Jackentasche. So nach und nach starben die Abonnenten weg. Die jungen Leute lasen ihre OP auf ihren Tablets. Schlechte Zeiten für Zusteller. Gut, dass ihre Jasmin Lehrerin geworden war. Sie würde nicht in dritter Generation Zeitungsbotin werden müssen. Frau Loth schob ihr Fahrrad auf die Straße und radelte los. Vielleicht, dachte sie. Vielleicht werde ich ja bald Oma. Jasmin hatte nichts gesagt, aber sie hatte Früchtetee getrunken und nicht, wie sonst, einen doppelten Espresso. Frau Loth wurde warm bei dem Gedanken. Bei jeder Zeitung, die sie in die Briefkästen und Zeitungsboxen stopfte, stellte sie sich vor, wie sie am Bett des kleinen Würmchens sitzen würde und der Kleinen – irgendwie wusste sie, dass es ein Mädchen werden würde – von dieser besonderen Nacht erzählen würde. Mit weit aufgerissenen Augen würde die Kleine ihrer Oma zuhören, die mit ihrem Rad einen bösen Mann über den Haufen gefahren und ihn mit ihrer Taschenlampe niedergeschlagen hatte. Nur das mit dem vergessenen Handy würde blöd rüberkommen, dachte Frau Loth. Das würde die Kleine nicht verstehen. Ihre Jasmin verstand auch nie, dass sie es immer wieder vergaß.
Und wenn dir was passiert?, fragte sie. Und was sollte man dazu sagen. Schließlich hatte sie ja recht. Schließlich wünschte sich Frau Loth nichts sehnlicher, als dass endlich etwas in ihrem Leben passieren würden. Und wie sollte sie dann die Polizei rufen? Ich schrei einfach, dachte Frau Loth, als sie in der Haspelstraße die Rollläden hochschob, um der alten Frau Willkamp, die nicht mehr die paar Stufen zu ihrem Postkasten schaffte, die Zeitung vors Fenster zu legen. So laut ich kann. Ne, dachte sie. Besser Feuer. Im Fernsehen hatten sie gesagt, dass die Menschen dann eher reagierten, weil sie sich selbst bedroht fühlten. Gut, dachte Frau Loth. Dann rufen die Leute die Polizei. Aber wie kam der Reporter an den Tatort? Das war ein Problem. Gab’s eigentlich noch den Polizeifunk? Oder würde sie in der Druckerei anrufen müssen. Oder in der Aboverwaltung? Frau Loth war so in ihren Fantastereien versunken, dass sie ganz automatisch eine OP in den blauen Zeitungskasten in der Wilhelmstraße schob. Erst im Weggehen fiel ihr auf, dass es der Kasten von Herrn Meermann war. Sie ging zurück, um die Zeitung wieder aus dem Kasten zu ziehen und da sah sie den Schatten zwischen Haustür und Türschloss. Frau Loths Nackenhaare sträubten sich und ihre Knie zitterten, als sei sie die Treppen zum Schloss hochgerannt. Sie streckte die Hand aus und drückte sie gegen die Haustür, die knarrend aufschwang.
An und für sich war es nicht ungewöhnlich, dass diese alten Türen mal offen standen. Holz arbeitete eben. Aber dieses Haus stand leer. Das wusste sie, schließlich war sie bei der Beerdigung gewesen.
Was hatte Karin gesagt? Ich wette, dai laese die Duuresozäje. Natürlich. Frau Loth hielt die Luft an und schob die Tür weiter auf. Alles still. Sie tastete nach ihrer Taschenlampe, wog sie in der Hand. Damit würde sie nicht einmal ihren Kanarienvogel niederschlagen können. Was dachte sie sich nur? Sie sollte die Tür schließen und die Polizei benachrichtigen. Das sollte sie tun. Aber dann dachte sie an ihre ungeborene Enkeltochter und die Schlagzeile auf der ersten Seite. Zustellerin überwältigt Einbrecher. Sie straffte die Schultern. Dies war ihre Gelegenheit und sie hatte ja auch nicht nur diese Taschenlampe, sie hatte schließlich auch ihr Messer. Wo konnte der Dieb sein? Frau Loth wischte Hand und Messergriff an ihrer Jacke ab. Folge der Spur des Geldes. Das hatte mal ein Ermittler in einer ihrer Lieblingsserien gesagt. Wo würde ein feiner Mann wie Herr Meermann sein Geld aufbewahren? Bei ihr lagen ein paar Scheinchen zusammen mit den Sparbüchern im Küchenschrank in einer alten Mehldose, in der schon ihre Mutter ihren Notgroschen aufbewahrt hatte. Aber irgendwie wusste Frau Loth, dass Herr Meermann Gotthabihnselig sein Geld wahrscheinlich nicht im Küchenschrank versteckte. Sie dachte an den Sekretär im Wohnzimmer. Das Messer fest im Griff schlich sie auf Zehenspitzen durch den Flur. Was in gefütterten Winterboots gar nicht so einfach war. Jedes Knarren der Bodendielen dröhnte in ihren Ohren. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Im schwachen Licht der Straßenlaterne erfasste Frau Loth mit einem Blick die Bescherung. Sie war zu spät gekommen. Der Sekretär stand offen, die Fotos mit den Goldrahmen waren verschwunden und über dem Esstisch verteilt lagen Papiere. Selbst auf dem Fußboden lagen Stapel. Frau Loth wusste aus ihren Fernsehserien, dass sie nicht einfach so in den Raum hineinplatzen konnte. Vielleicht lauerte der Einbrecher im Schatten der Standuhr? Oder hinter dem Biedermeiersofa. Schritt für Schritt tastete sie sich in Richtung Telefon vor. Ein Fehler, wie sie schneller feststellte, als ihr lieb war.
»Was machen Sie denn hier?«
Der Kronleuchter flammte auf und das plötzliche Licht blendete Frau Loth. Sie fuhr herum. Im Türrahmen stand ein Mann und versperrte den Durchgang zum Flur. übrigens ein sehr großer Mann, wie Frau Loth fand. Unwillkürlich hob sie das Messer, das auf seinen Schritt zielte. Schließlich wollte sie ihn nicht kastrieren. Jung war er, dachte Frau Loth. Und wie die Einbrecher im Fernsehen ganz in schwarz gekleidet. Und er trug eine ebenso schwarze Tasche in der Hand. Frau Loth wusste sofort Bescheid. Diebesgut. In der Tasche waren natürlich die Fotos mit den Goldrahmen und alles, was er noch so gefunden hatte! Sie hatte ihn tatsächlich auf frischer Tat ertappt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Wenn er nur nicht so groß wäre. Ein kleinerer Einbrecher wäre ihr lieber gewesen.
»Hände über den Kopf«, sagte Frau Loth mit zitternder Stimme. Irgendwie musste es ja weitergehen.
»Was soll das?« Der Mann hob nicht mal ansatzweise die Hände und seine Stimme klang weit weniger ängstlich, als Frau Loth sich das gewünscht hätte. Er benahm sich, als ob sie nicht mit einem Messer in der Hand vor ihm stehen würde. Obwohl das Wohnzimmer nicht geheizt war, perlten Schweißtropfen aus Frau Loths Haaransatz und versickerten in ihrem Schal. Auf einmal war sie sich nicht mehr sicher, dass ein Messer ausreichen würde, diesen Mann in Schach zu halten, bis die …. Mist, dachte Frau Loth. Die Polizei kommt in hundert Jahren nicht, wenn ich nicht anrufe. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie hier, der Kerl da. Sie mit dem Messer, das in ihrer Hand zur Bedeutungslosigkeit zu schrumpfen schien. Er mit der Tasche, die es ihm zu entreißen galt. Frau Loth hatte keine Ahnung, wie es jetzt weiter gehen sollte. Sie musste etwas sagen, so viel war ihr klar, aber ihr Hals fühlte sich an, wie zugeschnürt. Frau Loth kannte diesen Zustand. Wenn sie jetzt etwas sagte, würde es sich anhören wie ein abgestochenes Ferkel. Abstechen? Für einen Moment spielte Frau Loth mit dem Gedanken. Das Messer fühlte sich rutschig an in ihrer Hand. Rutschig und heiß. Und dann spürte Frau Loth Hitze in sich aufsteigen, ihr Herz raste los, als würde sie zur Rushhour die Stadtautobahn queren. Auch das noch. Wie sollte der Einbrecher sie ernst nehmen, wenn sie vor seinen Augen in einer Hitzewelle zerfloss? Scheißwechseljahre. Wie stand sie denn nun da? Frau Loth wedelte mit dem Messer. Auch wenn diese Bewegung der hilflose Versuch war, sich Luft zuzufächeln, wich der junge Mann zurück. Ein Nerv zuckte in seinem rechten Augenwinkel. Die Erkenntnis, dass er sie als Gegner ernst nahm, gab Frau Roth einiges von dem Selbstbewusstsein zurück, das die Hitzewelle fortgespült hatte.
Sie räusperte sich. »Dreh’n Sie sich um. Gesicht zur Wand.« Das klang recht gut, wie Frau Loth fand. Ihre Stimme kiekste nur an den Rändern ein bisschen. »Und Hände hoch«, fügte sie hinzu. Das hätte sie besser nicht getan, obwohl der junge Mann diesmal tat, was sie sagte, aber so schnell und mit so viel Schwung, dass Frau Loth die schwere Tasche an der Schläfe traf. Ihr Kopf wurde herumgerissen, sie strauchelte, stolperte über die Teppichkante und knallte mit dem Hinterkopf auf den Sekretär. Frau Loth hörte noch das Klappern, mit dem das Messer zu Boden fiel. Aber das Geräusch war schon ganz weit weg, so, als ginge sie es nichts mehr an. Ihr wurde schwarz vor Augen.
»Köööööööööööaaan Sieeeeee mii1eee höööööööööannnnnn?«, eine Stimme drang durch die träge