Harald Harst Krimis: Über 70 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Buch. Walther Kabel
etwa stieg nun hier im Hotel Dahlen eine junge Dame ab, deren eigenartige Schönheit wohl auf jeden gewirkt hätte. Sie wurde meine Tischnachbarin, diese Miß Beßport. Sie war Deutschamerikanerin und Malerin.
Außerdem wohnte hier zur selben Zeit eine Frau Nora Flamborg aus Kopenhagen. Sie war kränklich, sollte Bergluft und frische Kuhmilch genießen und faulenzen.
Diese Frau Flamborg hatte eine Gesellschafterin mit, eine geborene Hamburgerin, ein bescheidenes, hübsches Mädchen. Sie hieß Alice Darhagen. –
Am 10. August morgens acht Uhr gab es hier im Hotel einen wilden Tumult. Frau Nora Flamborg kreischte derart in ihrem Schlafzimmer, daß das ganze Hotel zusammenlief.
Frau Flamborg waren nachts aus dem verschlossenen Zimmer sämtliche Juwelen gestohlen worden, Wert 400 000 Kronen.
Ein zufällig im Hotel anwesender Polizeibeamter aus Christiania, ein Herr Lövgaart, spielte nun den superschlauen Detektiv und untersuchte die Sache, stellte fest, daß der Dieb eine Scheibe eingedrückt hatte und in das Schlafzimmer durch das Fenster eingestiegen war. Das Hotel hat nur ein Stockwerk und ist ein langgestreckter Holzbau. Nr. 24, das Schlafzimmer der Flamborg, lag im ersten Stock nach dem Garten hinaus.
Inzwischen war auch offenbar geworden, daß Alice Darhagen, die Gesellschafterin, das Hotel vor Tagesanbruch heimlich verlassen hatte. Man suchte nach ihr, fand sie aber nicht.
Wer Dahlen, dieses abgelegene Dorf in Telemarken, kennt, weiß, daß man es nur auf zwei Wegen verlassen kann. Entweder über die Bergstraße nach Norden zu, nach Odda am Hardangerfjord, oder nach Süden über die Bergseen nach Skien. Die anderen armseligen Straßen führen mitten ins Gebirge.
Alice Darhagen konnte, falls sie die Diebin gewesen, was die Flamborg und auch Herr Lövgaart als gewiß ansahen, nur einen der beiden Wege zur Flucht benutzt haben. Doch: dies schien wieder ausgeschlossen, da nach Süden kein Dampfer und nach Norden kein Personenauto abgegangen war. Und zu Fuß war eine Flucht unmöglich.
Herr Lövgaart ließ die ganze Umgegend absuchen, ließ in jedem Bauerngehöft nachfragen. Das Mädchen und die Juwelen blieben verschwunden.
Drei Tage später – mittlerweile war ein „echter“ Detektiv aus Christiania eingetroffen, ein Herr Asbörn Prang, der erst recht nichts ausrichtete – wanderte ich frühmorgens wieder in die Berge, um zu angeln. Nach einstündigem Marsch erreichte ich ein enges Tal und stellte mich zwischen zwei Felsen mitten in den Bach auf einen großen Stein. Mit einem Male erblickte ich die Malerin Miß Beßport, die dasselbe Tal am rechten Bachufer hochkam. Sie schritt sehr rüstig aus, schaute sich aber immer wieder um und ließ mich daher vermuten, daß sie nicht gern beobachtet werden wollte.
Sie trug auf dem Rücken in einer Art Gestell ihren Malkasten und zwei bespannte Leinwandrahmen, in der Linken die zusammengeklappte Staffelei und in der Rechten einen Bergstock.
Nachdem sie eine steile Wand erklommen hatte, befand sie sich auf einer mit Büschen bestandenen, schmalen Felsterrasse. Hier machte sie halt, zog ihr Fernglas aus dem Futteral und musterte jeden Baum, jeden Strauch des Tales. Dann geschah etwas noch Merkwürdigeres: sie verschwand hinter einem Strauche und blieb dort stehen – vielleicht eine Viertelstunde – völlig regungslos. Nur ihr Fernglas führte sie hin und wieder an die Augen.
All das war seltsam und unerklärlich. Sie werden das zugeben müssen, Herr Harst.
Und dann – vielleicht das noch Seltsamere: ich konnte von meinem Versteck hinter den Felsen im Bache durch eine schmale Lücke in den Sträuchern beobachten, wie Miß Beßport nun aus den beiden Holzrahmen die Leinwand (nachher sah ich, daß es fertige Bilder waren) herausschnitt und mit den beiden Leinwandstücken der Rückwand der Terrasse tief gebückt zueilte, wo sie dann durch Buschwerk meinen Blicken entzogen wurde.
Nach einer halben Stunde tauchte sie ohne die Leinwandstücke (Bilder) wieder auf. Dann machte sie sich auf den Rückweg.
Es war jetzt elf Uhr vormittags. Ich wartete bis zwölf Uhr. Dann tat ich etwas, das so gar nicht meiner nüchternen Veranlagung entspricht.
Sie werden bereits ahnen, was ich tat, Herr Harst: ich erkletterte dieselbe Terrasse, suchte die Spuren Miß Beßports (niedergetretene Halme) und pfuschte Ihnen sozusagen ins Handwerk. (Hier beschreibt Mr. Albert Gloux sehr genau, wie er in der Rückwand der Felsterrasse hinter dem Buschwerk eine kleine Grotte entdeckte).
Diese Grotte ist nur etwa acht Meter tief und etwa drei Meter breit. Der Eingang genügt, einen Menschen hindurchzulassen. In der Höhle war es recht hell. Zwei Spalten ziehen sich wie Kamine durch das Gestein nach oben und spenden Oberlicht. Ich brauchte kein Streichholz anzuzünden, konnte die Grotte ganz genau durchforschen und fand so ganz hinten hinter einem flachen, großen Stein – Sie werden schon erraten haben, was – die beiden Bilder!
Ja – zwei fertige Ölgemälde, Größe 35 mal 70 Zentimeter; zwei schäumende Gebirgsbäche, recht nett gemalt. Ich verstehe so einiges von Bildern. Ich wußte ja auch bereits, daß Miß Beßport mehr leistete als bloßen Dilettantenkitsch.
Nur eins hat mich an ihrer Malmanier gestört: sie trägt die Farben zu dick auf! Stellenweise sind ihre Bilder die reinen Reliefs. –
Sie können sich mein Erstaunen vorstellen, Herr Harst! – Weshalb hatte Miß Beßport die Bilder hier versteckt?! Weshalb war sie so ängstlich besorgt, daß sie ja nicht gesehen würde?!
Ich ließ die Bilder, wo sie waren, und begab mich wieder zu meiner Angelstelle zurück. Erst nachmittags gegen sechs Uhr traf ich wieder im Hotel ein.
Am anderen Morgen sagte Miß Beßport zu mir, sie habe einen Brief von einer Freundin erhalten, die in Stockholm eingetroffen sei. Sie wolle mit dem Dampfer, der Dahlen um 10 Uhr vormittags verläßt, abreisen.
Sie reiste auch ab. – Auch Frau Nora Flamborg verließ dann Dahlen am nächsten Tage – ohne ihre Juwelen. Der Detektiv Asbörn Prang ist noch hier und sucht noch immer nach Alice Darhagen.
Ich selbst bleibe noch bis zum 1. September. Sollten Sie Lust haben, Herr Harst, sich von mir die Grotte und die Gemälde zeigen zu lassen, so kommen Sie her.
Ihr ergebener
Albert Gloux.
Als auch ich diesen Brief gelesen hatte – wir saßen beim Frühstück unter dem Sonnensegel auf dem Achterdeck der Miramare – und ihn Harald zurückreichte, sagte ich:
„Jedenfalls kann Gloux nicht Ottmar Orstra sein! Das ist schon viel wert, falls Du Lust hast, nach Dahlen zu fahren. Es kann sich hier um keine Falle handeln.“
„Nein – das ist unmöglich! Es sei denn, daß dieser Gloux ein Spießgeselle Orstras wäre, was jedoch nicht in Frage kommt, da er seit zehn Jahren in Dahlen Forellen angelt. Ich denke, mein Alter, wir fahren! Mich interessiert das Verschwinden unserer Landsmännin Alice Darhagen ebenso sehr wie die Grotte und die beiden Gemälde.“
Er lächelte dabei.
Ich fragte daher gespannt: „Du hast Dir hinsichtlich der Bilder bereits eine Theorie zurechtgelegt?“
„Ja – eine Theorie, auf die man durch Gloux Brief geradezu mit der Nase gestoßen wird –“
„So?!“ – Ich überlegte mir nochmals den Inhalt des Schreibens.
„Miß Beßport,“ erklärte ich dann, „hat doch fraglos ein schlechtes Gewissen gehabt, als sie die Bilder dort verbarg. Weshalb das schlechte Gewissen?! Weshalb versteckte sie die Gemälde?!“
Harald spielte mit seinem Zigarettenetui und starrte geistesabwesend vor sich hin.
Dann sagte er grübelnd:
„Da stand doch gestern irgend etwas in der Zeitung über Alice Darhagen! Ich habe es nur überflogen –“
Er rief den Matrosen Jack Brown, unseren Koch herbei:
„Brown, holen Sie mir mal die Zeitungen von gestern aus der Kajüte –“
Brown war im Augenblick