Harald Harst Krimis: Über 70 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Buch. Walther Kabel
Ganz unvermittelt sagte Harald dann:
„Es wäre eine geradezu ungeheure Gemeinheit –!“
„Was denn?“
„Der offene Brief! – Ich will mich deutlicher ausdrücken. Alice und die angebliche Helen Beßport waren hier einander näher getreten. Das geht schon daraus hervor, daß die Malerin die Hamburger Adresse des Rechnungsrats wußte, denn – als sie den Brief an Herrn Darhagen schrieb, war die Belohnung noch nicht ausgesetzt und somit des Rates Wohnung der Allgemeinheit noch nicht bekannt. – Möglich also, daß die harmlose Alice ihren Liebesroman der Beßport anvertraut hat. Junge Mädchen fühlen das Bedürfnis, sich auszusprechen, und die Beßport wird es schon verstanden haben, sich in das Vertrauen anderer einzuschmeicheln. Weiter nehme ich – und dies mit Bestimmtheit – an, daß die Beßport nur in der Absicht hier nach Dahlen gekommen ist, um die Juwelen der Frau Flamborg zu stehlen. Sie wollte dies nun nicht selbst tun. Um aber Alice Darhagen jene starke seelische Erschütterung zu bereiten, die eine Menschenseele am leichtesten dann für die Beeinflussung durch einen fremden Willen empfänglich macht –“
„Ah – Hypnose –!“
„– macht, kann die Beßport zu dem schändlichen Mittel gegriffen haben, durch einen Komplicen irgendwo und irgendwie eine – Verlobungsanzeige drucken zu lassen, das heißt, Doktor Bruckners Verlobungsanzeige mit irgend einer anderen Dame! Solche Anzeigen schickt man offen als Drucksachen, mein Alter. Und der Brief, den das Stubenmädchen Igne Bröm gelesen, war offen!“
Ich schwieg. Diese Geschichte war mir zu phantastisch.
Harald merkte das und fügte hinzu: „Diese Anzeige, diesen Brief wird die Beßport unter die Postsachen geschmuggelt haben, die im Hotel abgegeben worden waren. Das ist nicht schwer. So erhielt Alice denn die Verlobungsanzeige des Mannes, den sie fraglos noch immer liebt, mußte sogar annehmen, daß er aus Herzensroheit ihr diesen Schmerz absichtlich bereiten wollte. Als sie dann verzweifelt in ihrem Zimmer mit heißen Tränen dem Geliebten nachweinte, wird die Beßport als „Trösterin“ erschienen sein und Alice, wie Du schon andeutetest, hypnotisiert haben. Ein gutes Medium führt jeden in der Hypnose erteilten Befehl aus – jeden! Auch den, einen Diebstahl zu begehen, sich vorher in ihrer Herrin Zimmer zu schleichen, unter das Bett zu kriechen – und so weiter. – Du willst von dieser Theorie nichts wissen, mein Alter?! Nun gut! Warten wir ab, was Igne Bröm uns sagen wird.“
4. Kapitel
Wir hatten jetzt Mr. Gloux’ Beobachtungsstelle erreicht, krochen hinter den Büschen höher und lugten dann durch die Zweige über das Tal und den schäumenden Bach hinweg.
Drüben lag die buschreiche Terrasse; über ihr das kleine Eichenwäldchen. Wir waren am Ziel.
Harald zog sein Fernrohr aus der Tasche, schob es auseinander und richtete es auf die Terrasse Die Entfernung bis drüben betrug etwa zweihundert Meter.
Wir hatten uns recht bequem auf den Bauch gelegt. Wir mußten damit rechnen, daß wir viele Stunden warten müßten. Vielleicht wurde die als Mann verkleidete Miß Beßport überhaupt nicht sichtbar.
Ich konnte auf der Terrasse nichts Lebendes bemerken. Auch Harald legte jetzt das Fernrohr vor sich auf einen Stein und sagte leise:
„Kehren wir nochmals zu meiner Theorie „Diebstahl in Hypnose“ zurück. Dann läge der seltsame Fall vor, daß Alice die Diebin und doch schuldlos und daß die Beßport nicht die Diebin und doch schuldig ist! – Ich möchte meine Theorie weiter ausspinnen. Die Beßport hat Alice den Befehl gegeben, auf eine bestimmte Art die Juwelen zu stehlen und durch das Fenster hinauszuklettern. Dies mag um elf Uhr geschehen sein. Das Hinausklettern ist leicht, da ja alle aus Holz gebauten Touristenhotels in Norwegen in jedem Zimmer der oberen Stockwerke eine Rettungsleine haben müssen. Diese Leine wird auch am Fensterkreuz befestigt gewesen sein. – Alice hat dann die Juwelen – immer dem Befehl ganz unbewußt gehorchend – irgendwo versteckt. Von dort holte die Beßport sich die Beute nachher ab. – Nun die Frage: wo blieb Alice nachher? Es steht fest, daß sie durch das Dorf dem See zuwanderte. Sie ist hier gesehen worden. Wohin wandte sie sich dann? Vielleicht ging sie – auch auf Befehl! – zu dem Bauer Kölding, wo sie jeder Zeit willkommen war –“
Mit einem Schlage erschien mir diese Theorie jetzt gar nicht mehr so sehr phantastisch.
„– willkommen war, und bat die Leute – auch auf Befehl! – sie zu verbergen, was Köldings auch getan habe mögen und – vielleicht noch tun, da sie ja niemals an Alices Schuld glauben werden –“
„Harald, – das – das könnte sein!“ warf ich hier eifrig ein.
„Köldings und Alice werden noch keine Ahnung haben, daß Bruckner in Dahlen weilt. Und – falls sie es wissen, traut Alice sich vielleicht, unter so schwerem Verdacht stehend, nicht hervor – Kurz: die Beßport wollte den Verdacht auf diese Weise auf die verschwundene Alice lenken, was ihr ja auch gelungen ist; sie wollte Zeit gewinnen, die Beute in Sicherheit zu bringen, was ihr ebenfalls gelungen ist.“
„Inwiefern?“
„Das wirst Du mit eigenen Augen sehen! – Wenn Du meine Theorie nachprüfst und noch die zweite starke seelische Erschütterung für Alice an jenem Abend in Betracht ziehst, nämlich die Ohrfeige, dann mußt Du zum mindesten bestätigen: alles kann so sein!“
„Allerdings – es kann so sein!“
„Gut. – Nun zu Monsieur Delville und Miß Beßport. Die Beßport verließ nach Gloux Brief Dahlen am 14. August. Am 16. August lernten wir Agna Orstra in Göteborg kennen – leider nicht persönlich, nur aus der Entfernung. Aber wir wissen, daß diesem Weibe alles zuzutrauen ist, selbst die größte Schurkerei! Das hat der Fall Plemborn bewiesen. Es ist also möglich, daß Helen Beßport Agna Orstra ist. Dies ist umso wahrscheinlicher, als Lord Plemborn erwähnte, daß Agna als Malerin Gutes leistet.“
„Donnerwetter!“ entfuhr es mir. „Der Beweis genügt!“
„Und dann der Franzose Delville mit dem Hohlspiegel. Wenn er auf dem Hoteldach Lichtsignale mit dem Spiegel gibt, müssen sie aus der Krone einer der Eichen droben zu sehen gewesen sein. Gloux betonte ja, daß die Eichen sichtbar seien. Die Signale galten der Beßport, die drüben in der Höhle jetzt hausen mag. Und – die Signale von heute mittag mögen der Beßport, besser Agna Orstra, unsere Ankunft gemeldet haben. Delville kann Ottmar Orstra sein – oder Baptiste!“
Er machte eine längere Pause, nahm das Fernrohr und schaute nach der Terrasse hinüber.
Ich sah jetzt links im Tale einen alten Mann, der zwei Ziegen vor sich her trieb. Der alte Bauer hatte eine kurze Pfeife im Munde und hinkte stark. Er ging an der Westseite entlang, kam nun unten an der Felsterrasse vorbei und verschwand mit seinen Tieren weiter oben in den Büschen. Er war der erste Mensch, den wir seit drei Stunden zu Gesicht bekommen hatten.
Es war jetzt ein halb sechs Uhr geworden.
„Ob wir’s wagen?“ meinte Harald. „Vielleicht ist Agna gar nicht mehr in der Grotte. Ich möchte zu gern die beiden Gemälde mir ansehen.“
„Um acht wird es dunkel. Es ist besser, wir gehen jetzt hinüber,“ schlug ich vor.
„Dann vorwärts – obwohl die Sache nicht ungefährlich ist.“
„Glaubst Du, daß man Gloux gesehen hat, daß man also fürchtet, die Grotte sei entdeckt?“
„Nein – „man“ wird Gloux wohl kaum bemerkt haben. Ich fürchte etwas anderes: daß Delville-Orstra uns gefolgt ist! Ich habe zwar nichts wahrgenommen, aber das besagt wenig! – Los denn! Wir haben ja unsere Pistolen mit!“
Wir umgingen das Tal nach rechts, überquerten weit oberhalb der Terrasse den Bach und schlichen dann dicht am Fuße der Steinwand dahin, erkletterten