LICHT UND SCHATTEN (Black Stiletto 2). Raymond Benson

LICHT UND SCHATTEN (Black Stiletto 2) - Raymond Benson


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halten musste, sonst käme die Durchblutung durcheinander. Aber er nimmt es mit Humor. Er nennt es sein »Gummibein«, weil es beim Gehen so seltsam wackelt und einknickt.

      Wie auch immer, in den späten Vierzigern und Anfang der Fünfziger lebte Harry für sechs Jahre in Japan. Er hatte da drüben einen Schreibtischjob beim Militär. Also zeigte ich ihm den Zettel, auf den ich die japanischen Schriftzeichen abgeschrieben hatte. Meine Handschrift war nicht die beste, aber er konnte sie lesen.

      Auf der Rückseite des Schulfotos stand »Isuzu, 12 Jahre«, und auf der Rückseite des Familienfotos standen die Worte »Soichiro, Machiko und Isuzu, Hiroshima, 1944«. Der Vermerk in dem Scheckbuch, die monatliche Zahlung von 5000 Dollar betreffend, lautete »an Akuma«. Ich fragte Harry, was das bedeutete, und er antwortete: »Das ist das japanische Wort für Teufel.«

      Meine Güte, liebes Tagebuch, das Geheimnis wird immer rätselhafter! Soichiro bezahlt jeden Monat 5000 Dollar an einen Teufel? Und Hiroshima – das war die Stadt, über der wir die Atombombe abgeworfen hatten! Isuzu war ganz offensichtlich Soichiros Tochter. Ich frage mich, was aus Machiko, höchstwahrscheinlich seine Frau und Isuzus Mutter, geworden war.

      In meiner Mittagspause ging ich nach oben und fand Freddie Zeitung lesend am Küchentisch vor. Das Radio war an und ich hörte, wie mein Traummann Elvis einen Song sang, den ich noch nicht gehört hatte.

      Aufgeregt fragte ich: »Was ist das?«

      Freddie machte sich nicht besonders viel aus Elvis Presley. »Ich glaube, sie sagten, dass es ein Ausblick auf einen neuen Song ist, der in ein oder zwei Wochen erscheinen wird.«

      »Wie heißt er?«

      »Keine Ahnung!«

      Der Song hatte einen guten Rhythmus und eine für Elvis typische Melodie. Als er vorbei war, sagte der DJ, dass der Song »I Need your Love Tonight« hieß. Ich kann es nicht erwarten, mir die Schallplatte zu kaufen! Ich denke, ich werde mir auch eine zweite Ausgabe von »Elvis' Golden Records« kaufen müssen, einem Album mit ein paar seiner Hits darauf. Die hab ich kaputtgespielt und auf der zweiten Seite ist ein fürchterlicher Kratzer. Die Platte springt, mitten in »Love Me Tender«. Er singt »Love Me Ten – Love Me Ten – Love Me Ten –« immer und immer wieder. Das macht Freddie verrückt.

      Nun, ich wollte mir nur schnell etwas zu Essen holen und wieder nach unten gehen. Während ich mir Thunfischsalat aus dem Kühlschrank nahm, sagte Freddie: »Sieh mal.« Er deutete auf die Daily News.

      Mir fiel die Kinnlade herunter. Die Überschrift des Artikels lautete: Ist die Black Stiletto gar nicht so übel?

      Ausnahmsweise mal ein positiver Artikel. Einer anonymen Quelle aus dem New York City Police Departement zufolge würden die Streifenpolizisten »die Black Stiletto insgeheim verehren und hoffen, sie würde nie geschnappt werden.« Der Polizeichef, Patrick Bruen, sagte dazu, dass er, wenn er herausfinden würde, wer das gesagt hatte, diesen Officer fristlos entlassen würde. Aber John Richardson, Special Agent beim FBI, wurde mit den Worten zitiert: »Die Black Stiletto erweist dieser Stadt einen Bärendienst. Die Leute sollten nicht alles glauben, was in den Zeitungen steht.« Oh mein Gott! Er hatte sich für mich eingesetzt! John hatte Wort gehalten!

      Ich kann dir gar nicht sagen, wie aufgeregt ich war, liebes Tagebuch. Und noch bin!

      Nun, nachdem ich den Artikel gelesen hatte, nahm ich mir ein paar Minuten und rannte hinaus zu einem Münzfernsprecher. Ich rief John in seinem Büro an. Das Gespräch verlief in etwa so:

      Er: »Special Agent Richardson.«

      Ich: »Stiletto, Bedrohung für die Öffentlichkeit.«

      Er: »Oh, hallo.«

      Ich: »Hi. Wie geht es Ihnen?«

      Er: »Mir geht es gut.«

      Ich: »Haben Sie heute die Daily News gelesen?«

      Er (lacht): »Und ob. Und Sie?«

      Ich: »Yap. Ich schätze, Sie hatten etwas damit zu tun. Immerhin wurden Sie zitiert.«

      Er: »Ich hab Freunde in hohen Positionen. Meinem Boss hat das unglücklicherweise nicht gefallen. Er will Sie immer noch in Handschellen abführen.«

      Ich: »Ich hoffe, Sie haben nicht allzu viele Schwierigkeiten bekommen.«

      Er: »Nichts, womit ich nicht umgehen kann.«

      Ich: »Hören Sie, ich kann nicht ungestört reden. Kann ich Sie Zuhause anrufen? Wäre das nicht etwas privater. Sie wissen schon, Sie sind beim FBI und so. Sie könnten das Gespräch gerade aufzeichnen.«

      Er: »Ich versichere Ihnen, dass ich das nicht tue. Aber vielleicht ist das keine schlechte Idee. Ich gebe Ihnen meine geheime private Telefonnummer.«

      Und das tat er! Ich musste sie mir merken, denn ich hatte keinen Stift und kein Papier mitgenommen.

      Er: »Sie sollten wissen, dass ich normalerweise fremden Frauen nicht meine Nummer gebe.«

      Ich: »Ich glaube Ihnen, aber verraten Sie mir eines.«

      Er: »Was?«

      Ich: »Sind Sie verheiratet?«

      Er: »Nein.«

      Aus irgendeinem Grund, liebes Tagebuch, spürte ich ein kleines Kribbeln, als er das sagte, haha. Da mir nichts anderes mehr einfiel, was ich sagen sollte, versprach ich ihm, dass ich ihn heute Abend anrufen würde, und legte auf. Aufgeregt und ein wenig wuschig rannte ich ins Gym zurück. Es kümmerte mich nicht, dass jetzt ein Doppeltraining auf dem Programm stand, ich war einfach in viel zu guter Stimmung.

      Und dann tauchte Mike Washington auf. Seit ich ihn kennenlernte, kam er zweimal pro Woche ins Studio. Wieder einmal waren meine unsichtbaren Antennen in höchster Alarmbereitschaft. Es war, als wäre in meinem Rückgrat eine Stromleitung unter Saft gesetzt worden. Dieser Kerl verströmte einfach nur Gefahr und Täuschung. Zunächst einmal ist er sehr still. Er sagt noch nicht einmal Hallo, außer zu Freddie. Er hält sich abseits von den anderen und trainiert allein für sich. Nie lässt er sich von jemandem bei den Gewichten helfen. Außerdem sieht er mir nicht in die Augen, und ich vertraue keinem, der das nicht tut.

      Irgendwann bearbeitete er den Speedball in einem professionellen, gleichmäßigen Rhythmus. Dabei war sein Blick so angestrengt, als hätte man all seine Feinde in diesen Boxsack gestopft. Ich war nicht weit von ihm entfernt, ich half Jimmy an der Hantelbank, konnte aber den Blick nicht von ihm abwenden.

      Er erwischte mich dabei, wie ich ihn anstarrte, und hörte auf, auf den Speedball einzuschlagen.

      »Was ist?«, fragte er und starrte mich an.

      »Gar nichts«, sagte ich, aber ich wusste, dass ich mich ertappt anhörte. Ich dachte mir etwas aus, was ich noch hinterher schieben konnte. »Sie sind ziemlich gut.«

      Er murmelte etwas vor sich hin und hieb weiter auf den Ball ein. Ich wandte die Augen ab, konzentrierte mich auf Jimmy und versuchte, Mike Washington für den Rest des Tages keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken.

      Das bilde ich mir doch nicht nur ein, oder? Was, wenn ich falsch liege? Wenn Freddie ihn gut leiden kann und ihm vertraut, wie kann ich dann etwas anderes behaupten?

      Mann, ich kann doch auch nichts dafür, dass ich bei ihm ein mulmiges Gefühl bekomme. Ich mag den Typen eben einfach nicht.

      Das komplette Gegenteil zu Washington ist Clark. Er ist ein schwarzer Teenager, der seit einiger Zeit ins Studio kommt, um Boxstunden zu nehmen. Freddie bat mich, ihn zu coachen. Zuerst war Clark nicht allzu glücklich darüber, dass ihn ein Mädchen unterrichten sollte, aber nach ein paar Stunden wurde ihm klar, dass ich wusste, was ich tat. So langsam respektiert er mich. Er ist ein netter junger Mann. Er wohnt auf der Avenue C in der Nähe des East Rivers, sagt er. Das ist wohl ein Stadtteil mit vielen verschiedenen Ethnien, aber wenig Schwarzen. Clark wollte lernen, wie er sich selbst gegen weiße Teenager verteidigen konnte, die ihm auf der Straße das Leben schwermachten. Ich erklärte ihm, dass kämpfen in diesem Fall nicht immer die beste Lösung war. Wenn jemand verletzt würde,


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