LICHT UND SCHATTEN (Black Stiletto 2). Raymond Benson

LICHT UND SCHATTEN (Black Stiletto 2) - Raymond Benson


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kam Soichiro herein. Ich erstarrte, denn wenn ich mich urplötzlich zurückgezogen hätte, hätte er mich sicherlich bemerkt. Er trug einen dieser japanischen Miniaturbäume herein, wie hießen die noch? Ein Bonsai? Er stellte ihn auf der Kommode seiner Tochter ab und starrte für einen Moment ehrfurchtsvoll auf ihn herab.

      Und dann drehte er sich zum Fenster um. Ich zog den Kopf ein, aber er hatte mich gesehen. Ich hastete die Feuertreppe hinab, während er das Fenster aufmachte und hinaussah!

      »Hey!«, schrie er.

      Ich lief weiter. Mittlerweile war ich am letzten Absatz angekommen und begann, die Leiter hinabzuklettern.

      »Ich rufe die Polizei!«

      Große Klasse, Soichiro. Das machst du.

      Ich sprang auf den Gehweg, kam mit beiden Füßen auf und rannte davon. Als ich an der 7th Avenue ankam, hielt ich an, um meinen Mantel anzuziehen und die Maske abzunehmen. Dann rief ich mir ein Taxi, das mich zurück zum Gym bringen sollte. Auf der Heimfahrt grübelte ich über das nach, was ich herausgefunden hatte. Soichiro war einmal verheiratet gewesen. Er hat eine Tochter, die nicht mehr bei ihm lebt. Er schuldet seinem Vermieter eine ganze Stange Geld. Er bezahlt irgendjemandem jeden Monat einen Haufen Kohle, anstatt es für seine Miete zu verwenden.

      Ich kann mich natürlich irren, was das angeht. Das sind gewagte Vermutungen. Wahrscheinlich sollte ich noch mehr Nachforschungen anstellen, bevor ich etwas Unüberlegtes mache. Aber eines ist sicher – ich muss Soichiro helfen.

      9| Martin

       Heute

      Das Bewerbungsgespräch verlief ziemlich gut, gelinde gesagt. Ich wurde vom Fleck weg eingestellt! Ist mir auch noch nicht passiert. Ich schätze, ich hatte das Glück, dass die Firma gerade einen Kunden mit schwerwiegenden Problemen an Land gezogen hatte und sie dringend jemanden mit meiner Erfahrung brauchten. Bob Konnors, der Kerl, der mein Boss sein wird, ging meine Referenzen bereits an Ort und Stelle durch, während ich draußen vor seinem Büro wartete. Innerhalb einer Stunde sprach ich bereits mit der Personalabteilung.

      Das versetzte mich in großartige Laune, weshalb ich von der Stadt direkt zurück nach Woodlands North fuhr. Ich war mir natürlich bewusst, dass meine Mutter die guten Neuigkeiten nicht würde nachvollziehen können, aber ich wollte es ihr trotzdem erzählen. Sie würde meine gute Stimmung mitbekommen und dieses Einfühlungs-Ding tun, wie sonst auch. Vielleicht würde sie sich so glücklich wie ich fühlen.

      Es war beinahe Essenszeit, als ich eintraf. Der Gemeinschaftsraum war voller Patienten und Krankenwärter, die mit Serviertabletts voller Essen herumrannten.

      Mom wurde normalerweise müde, nachdem sie aß, also würde ich nicht lange bleiben. Ich fand sie wach in ihrem Bett. Sie musste mitbekommen haben, dass es Zeit fürs Essen war. Ich glaube, ihr Appetit ist noch ganz gut, und deshalb weiß ich auch nicht, warum sie so dünn ist, wenngleich ich mir nicht vorstellen könnte, das Zeug zu essen, das sie vorgesetzt bekommt. Es sieht immer grauenhaft aus, wirklich fürchterlich, aber sie scheint es zu mögen.

      »Mom, rate, was passiert ist! Ich hab einen neuen Job und fange nächste Woche an!«

      Ihre Augen hellten sich ein wenig auf und sie lächelte mich an. »Das ist wundervoll«, sagte sie liebenswürdig.

      Das fühlte sich gut an. Sie spürte, dass ich wegen irgendetwas begeistert war und fand die richtige Reaktion darauf, egal, ob sie nun verstand, worüber ich sprach, oder nicht. Mir graute vor dem Tag, an dem sie nicht mehr imstande sein würde, auf ihre Liste geeigneter Reaktionen zurückzugreifen.

      Ein paar Sekunden später kam ihr Essen. Ich sah ihr beim Essen zu – das schaffte sie noch allein – während ich ein paar Minuten etwas erzählte. Dann wünschte ich ihr eine gute Nacht und küsste sie auf die Stirn, bevor sie ihr kuchenartiges Dessert aufgegessen hatte – das einzige auf ihrem Tablett, das tatsächlich essbar aussah.

      Als ich hinaus ging, traf ich Dr. McDaniel auf dem Weg nach Hause. Unsere Wege kreuzten sich im Aufenthaltsraum, auf dem Weg zum Ausgang. Den weißen Laborkittel hatte sie abgelegt. Wieder war ich wie geblendet, wie gut sie aussah, aber dieses Mal war ich vorsichtiger. Als sie mich nach Mutters Verletzungen gefragt hatte, lag etwas Vorwurfsvolles in ihrer Stimme, und das gefiel mir nicht.

      »Oh, Mr. Talbot, hallo«, sagte sie und blieb stehen.

      »Dr. Daniel, haben Sie Feierabend?«, fragte ich. Meine Stimmung war derart gut, dass ich beinahe geplatzt wäre.

      »Ich bin froh, dass ich Sie noch getroffen habe. Ich würde Sie gern etwas fragen, wenn Sie nichts dagegen haben. Mir ist nach unserer Unterhaltung noch etwas anderes eingefallen, dass mir nicht aus dem Kopf will.«

      »Und das wäre?«

      Verschwörerisch zog sie mich an den Rand des Zimmers, wo uns niemand hören konnte.

      »Stimmt es, dass Ihr Vater schon lange tot ist?«

      Ihre Frage überraschte mich. Ich wurde selten nach meinem Vater gefragt, und wenn, gab ich stets die gleiche Antwort.

      »Er starb in Vietnam. Ich hab ihn nie kennengelernt.«

      Das schien sie zu frustrieren und sie schüttelte den Kopf. »Dann werden Sie es nicht wissen können.«

      »Was wissen?«

      »Ob Ihr Vater Ihre Mutter missbraucht hat oder nicht.«

      Ihre Unverblümtheit machte mich sprachlos. »Was?«

      Dr. McDaniel zuckte mit den Schultern. »Das war nur eine Möglichkeit. Mr. Talbot, ich muss Ihnen sagen, dass ich wegen der Wunden am Körper Ihrer Mutter zutiefst beunruhigt bin.«

      Ich verstand nicht, in welchem Zusammenhang diese alten Narben mit der aktuellen Behandlung meiner Mutter standen, und sagte ihr das. Vielleicht zu defensiv.

      »Es gibt Studien, die Misshandlungen in einigen Fällen mit Alzheimer in Verbindung bringen. Aber wie dem auch sei, ich glaube nicht, dass eine Frau bei häuslichen Übergriffen Schussverletzungen davontragen würde. Mr. Talbot, ich glaube, dass Ihre Mutter in jüngeren Jahren das Opfer eines Verbrechens gewesen ist.«

      Die Antwort, die ich gab, war wahrscheinlich nicht die klügste. Halb im Scherz sagte ich: »Was haben Sie vor, die Polizei rufen?«

      »Das muss ich vielleicht.«

      Wieder wirkte ihre Antwort wie ein Schlag ins Gesicht. »Was?«

      »Es wäre meine Pflicht, so etwas zu melden.«

      Ich glaubte nicht, dass sie dazu das Recht hatte. Ihre Idee war absurd, aber ich fragte sie nur: »Aus welchem Grund?«

      »Es bereitet mir einfach nur Sorgen, Mr. Talbot. Wir können ein anderes Mal darüber reden. Ihrer Mutter geht es gut, ich hab vor Kurzem noch einmal nach ihr gesehen.«

      Die Frau war ganz in ihrem Element und für meinen Geschmack etwas anmaßend. Ich war ein wenig verärgert.

      »Okay, danke«, sagte ich.

      Sie nickte und lief in Richtung Ausgang.

      Was für eine Frechheit! Wieso war diese gut aussehende Frau nur so eine Kuh? Oder reagierte ich über?

      Ich wartete kurz ab, um sie zu ihrem Wagen gehen und fortfahren zu lassen, bevor ich auch nach draußen ging. Sonst wäre ich ihr noch auf dem Parkplatz über den Weg gelaufen.

      Zurück in meinem Haus begann ich mit meinem abendlichen Ritual, mir etwas Essbares zuzubereiten. Ich bin kein großer Koch. Seit der Scheidung ernähre ich mich hauptsächlich von Tiefkühlkost. Oft nehme ich mir auch unterwegs etwas mit oder bestelle mir etwas, aber das wird auf Dauer zu teuer. Ich fühlte mich nicht besonders energiegeladen, also schob ich mir eine Fertigpizza in den Ofen. Vorhin war ich noch so ekstatisch gewesen, doch jetzt blies ich Trübsal.

      Normalerweise läuft der Fernseher während des Abendessens. Ich sehe mir die Nachrichten an, wenn die noch


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