LICHT UND SCHATTEN (Black Stiletto 2). Raymond Benson

LICHT UND SCHATTEN (Black Stiletto 2) - Raymond Benson


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lassen wollte, musste ich ihm trotzdem beistehen – so sehe ich das. Also schlich ich in Soichiros Büro, knipste meine kleine Taschenlampe an und setzte mich an seinen Schreibtisch. Ich konnte die gerahmte Fotografie nirgendwo sehen und ging davon aus, dass sie in einer der Schubladen sein musste. Die waren verschlossen. Wieder erwiesen sich die Dietriche als sehr nützlich, und ich fand ein paar sehr interessante Dinge.

      Zuerst einmal das gerahmte Foto. Es war ein Familienfoto des jüngeren Soichiro zusammen mit einer japanischen Frau und einem kleinen Kind. Soichiro schien zwischen 20 und 30 Jahre alt zu sein, und er trug eine japanische Militäruniform. Ich bin ziemlich sicher, dass es auch in Japan aufgenommen worden war. Die Frau trug einen festlichen Kimono. Meine Güte, ich wusste nicht, dass Soichiro verheiratet war, sofern die Frau seine Ehefrau war. Die ganze Zeit über hatte ich gedacht, er wäre ein Junggeselle, der allein lebte. Ein weiteres Bild war in der Schublade verstaut worden. Es war die ungerahmte, brieftaschengroße Fotografie eines jungen japanischen Mädchens. Dieses war neueren Datums und wahrscheinlich in den letzten fünf oder sechs Jahren aufgenommen worden. Es fällt mir schwer, das Alter von Japanern zu schätzen, aber ich würde sagen, dass sie elf oder zwölf Jahre alt war. Auf der Rückseite waren mit Tinte ein paar japanische Schriftzeichen geschrieben worden, sowie die Zahl 12. Ich vermutete, dass es sich dabei um ihren Namen auf Japanisch und ihr Alter handeln könnte. Ich beschloss, den Rahmen des Familienfotos zu öffnen, um zu sehen, ob auf der Rückseite dieses Fotos auch etwas geschrieben stand. Und tatsächlich fanden sich auch dort japanische Schriftzeichen. Ich konnte kein Japanisch, aber es gibt da einen Typen namens Harry McBain, der unseren Boxklub besucht. Er kann japanisch lesen und sprechen. Ihn könnte ich fragen, was sie bedeuteten. Also sah ich mich nach einem Stift und etwas Papier um und schrieb die Zeichen ab, so gut es mir möglich war. Dann steckte ich das Foto wieder in den Rahmen und legte es zusammen mit dem Schulfoto zurück in die Schublade.

      Auf dem Schreibtisch stand ein Korb voller Post. Ich warf einen Blick auf die Papiere, die hauptsächlich aus Rechnungen bestanden, die an Soichiro Tachikawa adressiert waren. Einige stammten von einer Immobilienfirma, und ich war ziemlich sicher, dass sie das Studio an Soichiro vermieteten. Ich öffnete die aktuellste Rechnung.

      Darin stand, dass Soichiro mit der Miete drei Monate im Rückstand war, und man das Studio zwangsräumen würde, wenn die Schulden nicht in Gänze bis Ende Februar bezahlt würden.

      Das also war es, worüber sich Soichiro solche Sorgen machte! Er hatte ernsthafte finanzielle Probleme.

      Vorsichtig untersuchte ich die anderen Rechnungen, zählte alles zusammen und stellte fest, dass er ihnen etwa 10.000 Dollar für Miete und Nebenkosten schuldete. Kein Wunder, dass er in der letzten Zeit nicht mehr er selbst war. Ich durchwühlte noch einmal den Schreibtisch und fand ein Scheckheft, zusammen mit seinem Hauptbuch. Die meisten der Aufzeichnungen darin waren auf Japanisch, aber ich konnte die Zahlen lesen und so leicht herausfinden, welche Spalte für die Einnahmen und welche für die Ausgaben stand. Das Geld flog nur so zum Fenster hinaus, aber er nahm nur sehr wenig ein. Die seltsamste Zahlung von allen war eine über 5000 Dollar am Monatsanfang. Ich blätterte zum Monat davor zurück und stellte fest, dass er auch im Januar 5000 Dollar bezahlt hatte. Und das gleiche im Dezember. Ich konnte nicht lesen, an wen die Zahlungen gingen, also schrieb ich mir auch diese Zeichen auf meinen Notizzettel ab. Wer sollte das sein? 5000 Dollar pro Monat? Bei all den Rechnungen und überfälligen Mieten konnte er sich das unmöglich leisten.

      Ansonsten fand sich wenig in den Schubladen, aus dem man etwas schließen konnte. Aber ich fand die Ausweiskarte der städtischen Bibliothek, auf der Soichiros Adresse stand. Er lebt auf der Charles Street, was nicht allzu weit weg ist. Das hatte ich bislang nicht gewusst.

      Vorsichtig legte ich alles wieder dorthin zurück, wo ich es gefunden hatte, huschte aus dem Studio, vergewisserte mich, dass die Tür verschlossen war, und verließ das Haus. Ohne meine Maske und in meinen Mantel gehüllt lief ich zur Charles Street. Mittlerweile war es Mitternacht, aber es waren noch immer ein paar Leute auf der Bleeker Street unterwegs. New York ist die Stadt, die niemals schläft. Aber auf der Charles Street war es dunkel und ruhig, also fühlte ich mich einigermaßen inkognito. Ich fand Soichiros Wohnhaus, ein fünfstöckiges Stadthaus mit vier Appartements auf jeder Etage. Ich pfiff auf alle Vorsicht und betrat den Hausflur, wo sich die Briefkästen und Klingeln befanden. Ich fand seinen Briefkasten – mit »S. Tachikawa, I. Tachikawa« beschriftet – der zu Appartement Nummer 10 gehörte. Das bedeutete, dass er im dritten Stock wohnte.

      Wer war I. Tachikawa? Seine Frau? Seine Tochter? Ein weiteres Familienmitglied?

      Ich ging wieder hinaus und überquerte die Straße, damit ich einen Blick auf das gesamte Gebäude werfen konnte. Eine Feuertreppe zierte die Vorderseite des Gebäudes und ich ging davon aus, dass sich auch eine an der Rückseite befand. Die Häuser stehen in Manhattan so nah beieinander. Um ehrlich zu sein, hatte ich gar keine Ahnung, wie ich auf die andere Seite hätte kommen sollen. Es musste eine enge Gasse und einen Zugang dafür irgendwo geben, oder man hätte es von der Bleeker oder der 4th aus versuchen müssen. Andererseits hätte ich auch einfach meine Dietriche benutzen können, wenn ich in sein Appartement gelangen wollte.

      Doch noch bevor ich mir die Dinge unnötig erschwerte, was glaubst du, wer plötzlich die Straße entlang kam und auf das Haus zulief? Soichiro persönlich. Er war komplett in seinen Mantel eingewickelt und trug einen Hut, aber ich erkannte ihn sofort. Ich drückte mich in einen Hauseingang und stellte mich in den Schatten, damit er mich nicht sah.

      Was tat er so spät noch hier draußen? Die Nacht gehört in Manhattan den Kriminellen, den Säufern und den Black Stilettos!

      Er brauchte noch etwa eine Minute, bis er die Eingangstür erreichte. Nachdem er die Tür aufgesperrt und hineingegangen war, wartete ich ein oder zwei weitere Minuten, und dann ging in einem Fenster im dritten Stock ein Licht an. Was hatte ich doch für ein Glück! Sein Appartement zeigte zur Straße hinaus.

      Das war meine Chance, herauszufinden, wer I.Tachikawa war. Ich zog noch einmal meinen Mantel aus, stopfte ihn in den Rucksack, setzte meine Maske auf und überquerte die Straße. Seit meinem letzten Auftritt als Stiletto hatte ich mir in einem Eisenwarenladen einen Flaschenzughaken besorgt – nicht so groß wie ein Enterhaken, aber groß genug, um über eine Stange in der Größe einer Leitersprosse zu passen. Diesen band ich leise an das Ende des Seils, das ich stets bei mir trage, und dann stellte ich mich unter die Feuerleiter, die an dem Metallpodest im zweiten Stock befestigt war. Normalerweise würde man sie von dort an einer Laufschiene auf den Gehweg hinunterlassen. Ich musste einen Weg finden, die Leiter zu mir herunterzuziehen, und mit dem Seil und dem Haken gelang es. Ich brauchte drei Versuche, den Haken nach oben zu werfen und die unterste Stufe zu treffen, aber schließlich schaffte ich es.

      Ich fühlte mich dort auf der Straße sehr allen Blicken ausgesetzt, doch zum Glück war es spät und ich sah niemanden auf dem Gehweg. Schnell kletterte ich die Leiter hinauf und begab mich in die dritte Etage. Dann schlich ich, so leise ich konnte, zu Soichiros Fenster, um hineinzuspähen.

      Es gehörte zu einem Schlafzimmer, doch es war nicht seins. Zu weiblich eingerichtet, also ob eine junge Frau darin leben würde. Ein Highschool-Wimpel hing an der Wand, dazu japanische Dekoration und ein amerikanisches Bett im Western-Stil mit Plüschtieren darauf. Keine Ahnung, ob Soichiro auf einer Judomatte schlief oder nicht, aber die Person, die in diesem Zimmer lebte, tat es ganz offensichtlich nicht.

      Alles war sehr sauber und aufgeräumt. Tatsächlich sah es für mich nicht so aus, als ob es in der letzten Zeit jemand benutzt hätte.

      Die Schlafzimmertür stand offen, und während ich geduckt näher heranschlich, konnte ich quer durch das Zimmer und bis in den Flur blicken. Einmal lief Soichiro an der offenen Tür vorbei. Ich wich schnell zurück, außer Sichtweite. Nachdem ein paar Sekunden vergangen waren, schaute ich wieder hinein.

      Ich sah mir das Schlafzimmer etwas genauer an und kam zu einem Schluss. Vielleicht liege ich falsch, liebes Tagebuch, aber ich habe so ein Gefühl, dass das Zimmer einmal Soichiros jugendlicher Tochter gehörte und dass seine Frau nicht mehr unter uns war. Ich weiß nicht, wieso ich das glaube und wie ich darauf komme, das sagt mir einfach meine verrückte Eingebung. Außerdem war offensichtlich, dass seine Tochter nicht hier war. Soichiro war allein in dem Appartement.


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