LICHT UND SCHATTEN (Black Stiletto 2). Raymond Benson

LICHT UND SCHATTEN (Black Stiletto 2) - Raymond Benson


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verschwand in seinem kleinen Büro, während ich in die Damentoilette ging, um mir etwas Wasser ins Gesicht zu spritzen und etwas Schweiß von meinem Körper zu waschen. Normalerweise dusche ich, wenn ich zurück im Gym bin, obwohl ich natürlich auch hier im Studio Toyko duschen könnte, wenn ich das wollte.

      Als ich zurückkam, um mich zu verabschieden, sah ich Soichiro mit einem gerahmten Bild in der Hand in seinem Sessel sitzen. Er hatte einen überaus merkwürdigen Gesichtsausdruck, als würde ihm etwas sehr große Sorgen bereiten. Wenn ich jetzt rückblickend so darüber nachdenke, dann hatte ich in den letzten Wochen bemerkt, dass Soichiro abwesend schien. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Nach allem, was ich von Japanern wusste, waren sie nicht so leicht aus der Fassung zu bringen.

      Ich sagte: »Auf Wiedersehen, Soichiro-San.«

      Das ließ ihn zusammenfahren. Schnell knallte er das Foto mit dem Bild nach unten auf den Schreibtisch und sammelte sich. Er beugte seinen Kopf leicht nach vorn, auf seinem Gesicht den üblichen undurchdringlichen Ausdruck, und sagte: »Bis zum nächsten Mal.«

      Es verging ein unangenehmer Moment zwischen uns, so als hätte ich ihn bei einer sehr privaten Angelegenheit überrascht. »Stimmt etwas nicht, Soichiro-San?«

      Er antwortete, ganz der stoische Japaner: »Nein. Alles in Ordnung. Bis zum nächsten Mal.«

      Nun, liebes Tagebuch, du kennst mich. Ich wusste, dass er log. So wie ich immer heraushören konnte, wenn man mich anlog. Etwas bereitete ihm Sorgen. Aber ich wusste auch, dass er zu stolz war, um Gefühle zu zeigen oder mir persönliche Probleme zu offenbaren. Das war seine Natur.

      Ich konnte nicht anderes tun, als mich zu verziehen. Ich mache mir etwas Sorgen um ihn, doch ich denke, er wird sich darum kümmern können, was immer ihn gerade plagt.

      Aber ich bin entschlossen, herauszufinden, wer auf dem Foto ist, das er sich angesehen hat.

       Februar 1959

      Heute gab es einen Vorfall im Boxklub. Ich war damit beschäftigt, die Geräte und Ruderbänke zu säubern, eine Aufgabe, die einmal pro Woche ansteht, als ein schwarzer Mann hereinkam und Freddie wie einen verloren geglaubten Freund begrüßte. Sie schüttelten sich die Hände und lachten. Der Mann schien in Freddies Alter zu sein, irgendwie Mitte vierzig. Er war groß und kräftig gebaut, als würde er hart arbeiten. Er hatte grauschwarzes, kurzgelocktes Haar.

      Neugierig lief ich zu den beiden hinüber, indem ich vorgab, mir einen trockenen Lappen von dem Fronttresen holen zu wollen, und Freddie sagte: »Judy, ich möchte dir jemanden vorstellen.«

      Der Name des Mannes war Mike Washington. Freddie erklärte, dass sie sich kannten, seit sie Teenager waren. In den Dreißigerjahren boxten sie miteinander. Anscheinend würde Mike nun regelmäßig ins Studio kommen.

      Liebes Tagebuch, du weißt, dass ich so etwas wie einen sechsten Sinn habe, was Menschen angeht. Für gewöhnlich weiß ich nach ein paar Minuten, nachdem ich jemanden kennengelernt habe, ob dieser ein guter oder schlechter Mensch ist. Von jedem geht eine »Schwingung« aus, die ich auffange. Das ist die einzige Art, wie sich das beschreiben lässt. Du weißt ja, diese Fähigkeit habe ich seit der Pubertät. Wenn jemand kein gutes Herz hat, kann ich das spüren. Ich schätze, dass das eine Art von besonderer Gabe ist, denn ich habe noch niemanden getroffen, der das auch kann.

      Nun, bei Mike Washington hatte ich sofort ein ungutes Gefühl. Er würdigte mich kaum eines Blickes, war aber freundlich genug, mir die Hand zu geben – er war stark, und hatte einen festen Händedruck! – aber ich spürte, dass dieser Mann seine Geheimnisse hatte. Er sah aus, als könne er ein gemeiner, furchterregender Kerl sein, wenn er das wollte. Vielleicht gehörte das auch einfach dazu, wenn man Boxer war, ich weiß es nicht. Aber es war merkwürdig.

      »Boxen Sie noch?«, fragte ich ihn.

      Mike schüttelte den Kopf. »Nicht mehr professionell. Ich versuche nur, im Training zu bleiben. Jetzt, wo ich nicht mehr … ähm, jetzt wo ich hier in New York bin, ist es schön, Freddie wiederzusehen und einen Ort zu finden, wo ich trainieren kann.«

      Freddie fügte hinzu: »Weißt du, Judy, es wird dich überraschen, wie viel private Fitnessstudios keine Schwarzen aufnehmen, es sei denn, die haben mit professionellem Boxsport zu tun. Normalerweise müssen sie dann in eines dieser Studios nur für Schwarze gehen, aber nicht hier. Im Second Avenue Gym ist jeder willkommen, gleich welcher Rasse oder Glaubens er ist.«

      »Ich sehe hier aber keine anderen Frauen, Freddie«, sagte ich.

      Freddie und Mike lachten. »Judy, das ist etwas anderes!«, antwortete Freddie. »Wir würden wirklich Probleme kriegen, wenn wir anfangen würden, hier im Studio die Geschlechter zu mischen. Du bist natürlich eine Ausnahme. Du arbeitest hier!« Er drehte sich zu Mike um. »Judy ist auch eine Boxerin. Du solltest sie sehen.«

      »Ich hab noch nie eine Frau boxen oder in einem Boxklub arbeiten sehen«, sagte Mike. Er wollte mir noch immer nicht in die Augen sehen.

      Ich sagte ihm, dass es nett war, seine Bekanntschaft zu machen, und widmete ich mich wieder meinen Aufgaben. Ich beobachtete die beiden; alles schien in Ordnung. Schließlich gab Freddie ihm die Hand und der Mann verschwand.

      Etwas später fand ich Gelegenheit, Freddie allein zu sprechen: »Erzähl mir von Mike«, sagte ich.

      Freddie war ehrlich. Mike Washington war ein Ex-Sträfling. Er war gerade aus dem Gefängnis gekommen. Ich fragte ihn, weshalb er im Gefängnis gewesen war.

      »Totschlag«, sagte Freddie.

      Vielleicht hatte ich deshalb gespürt, dass mit ihm etwas nichts stimmte.

      Freddy fuhr fort: »Er hat 15 von 20 Jahren für den Mord an einem korrupten Manager mit Verbindungen zur Mafia abgesessen. Der Kerl war weiß, also gaben die Geschworenen Mike eine besonders satte Strafe.«

      »Was waren das für Umstände? Wieso Totschlag und nicht Mord?«

      »Es war kompliziert. Der Manager wollte, dass Mike absichtlich einen Kampf verlieren sollte. Mike wollte das nicht. Also setzte der Manager ihn vor dem Kampf unter Drogen. Mike weiß bis heute nicht, wie er es getan hat. Er glaubt, es sei Heroin oder etwas in der Art gewesen. Jedenfalls war Mike nicht in der Verfassung, einen Kampf zu gewinnen. Er ging in der ersten Runde auf die Bretter. Das war erniedrigend. Am nächsten Tag spazierte Mike in das Büro des Managers und prügelte ihn windelweich. Aber er ließ den Typen am Leben. Der Manager musste ins Krankenhaus gebracht werden, und dort lag er ein paar Tage – aber schließlich starb er, an einem Herzfehler oder einem Schlaganfall, ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Der Staatsanwalt entschied, Mike wegen Mordes anzuklagen, aber das konnte auf Totschlag reduziert werden. Mike war die ganze Zeit über in Sorge, dass die Mafia auch hinter ihm her sein würde. Aber wie sich herausstellte, hatte der Manager die Mafia beschissen, also ließen sie Mike in Ruhe.«

      »Und so wanderte Mike für 15 Jahre ins Gefängnis?«

      »Genau. Armer Kerl. Das war sicher hart.«

      »Das Gefängnis kann einen Mann verändern, Freddie. Bist du sicher, dass du dem Mann genug vertraust, dass er hierher kommen kann?«, musste ich ihn fragen.

      »Er war mein Freund, Judy. Wir haben uns seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, aber ja, ich vertraue ihm. Wir haben uns etwa fünf Jahre, bevor er ins Gefängnis kam, aus den Augen verloren. Unsere Wege trennten sich, als ich der Armee beitrat. Als man mich '45 wieder entließ, war er bereits im Knast.«

      »Nun, ich muss dir das sagen, Freddie, aber ich habe kein gutes Gefühl bei ihm. Ich weiß nicht, warum. Er scheint nett zu sein, aber – ich weiß nicht. Ich kann es nicht erklären.«

      »Mike hat eine Menge durchmachen müssen, Judy. Ich werd ihm einen Vertrauensvorschuss geben.« Dann deutete er auf die Uhr. »Wir sollten uns mit dem Saubermachen beeilen, bevor wir schließen. Außer, du möchtest länger bleiben.«

      Wir? Seit dem ich im Gym arbeitete, hat Freddie keinen Finger gerührt, um zu putzen.

      »Okay, Boss«, sagte ich und machte eine kleine


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