Andersfremd. Hans-Henning Paetzke
seinem von Angst bestimmtem Handeln und unter der kommunistischen Diktatur gelitten habe. Sein glühender Antikommunismus nach der Flucht in den Westen war ein hilfloser Versuch, sich vor dem eigenen Gewissen zu rehabilitieren.
Im Herbst 1953 hielten wir uns, das heißt er, seine Frau, der sich meine Mutter freundschaftlich verbunden fühlte, und die Tochter, meine Klassenkameradin, meine Mutter, mein Vater und ich in einem kleinen Landhaus im Unstruttal zur Weinlese auf.
Mein Vater, so die Familienlegende, hatte vor der Hundertfünfzigprozentigkeit seines Chefs Angst und suchte gerade deshalb dessen Nähe. So glaubte und hoffte er, politische Attacken gegen sich am besten parieren, beziehungsweise verhindern zu können. Meine Klassenkameradin und ich übernachteten auf dem stark nach Wiese duftenden Heuboden und flüsterten uns Zärtlichkeiten ins Ohr, wie es die Erwachsenen zu tun pflegen. Die nächtlichen Stunden kindlichen Verliebtseins vergingen wie im Fluge. Auch unsere Liebe verflog alsbald, nachdem sich der Direktor mit seiner Familie einige Monate nach der trauten Zweisamkeit in den Westen abgesetzt hatte. Sie erhielten im gleichen Auffanglager wie der von der Schule verwiesene Schüler, den Stalins Tod derart beeindruckt haben musste, dass er den Tod zu seinem Beruf machte und seither in einer westdeutschen Großstadt ein florierendes Beerdigungsinstitut betreibt, politisches Asyl. Meine erste große und wahre Liebe wurde ein Opfer der politischen Verhältnisse und Grenzen mitten durch Deutschland.
Anderssein
Stalins Tod lag zehn Jahre zurück, als ich in leichtsinniger Pedanterie meinen Taschenkalender in die Hand nahm, um exakt darauf zu antworten, was ich an einem bestimmten Tag gemacht hatte. Schon als ich in die Jackentasche griff, um das kleine Büchlein hervorzuholen, war ich mir dessen bewusst, einen großen Fehler begangen zu haben. Die Augen der beiden Hauptvernehmer leuchteten auf. Endlich ein Beweisstück! Sie forderten mich auf, ihnen das Notizbuch auszuhändigen. Als ich mich weigerte, erwirkten sie mittels eines kurzen Telefongesprächs mit Kreisstaatsanwalt Effenberger eine Verfügung, wonach ich den Kalender rauszurücken hätte. Als ich mich störrisch gebärdete, drohten sie mir damit, zwei Zeugen von der Straße heraufzubitten, um die Beschlagnahmung dann eben offiziell und rechtmäßig vorzunehmen.
Aus Furcht davor, so vielleicht von einem Bekannten in meiner misslichen Lage gesehen zu werden, von der ich dachte, irrtümlich für einen Kriminellen gehalten werden zu können, gab ich mich geschlagen und händigte denen das Verlangte aus. Scham und Angst vermischten sich zu etwas, das mir das Heft selbstbestimmten Handelns aus der Hand nahm. Mich befiel ein inneres Zittern. Worauf hatte ich mich da eingelassen?
Schon immer hatte ich wissen wollen, wie sich ein Mensch fühlen mochte, der in die Fänge diktatorisch gelenkter Staatsorgane geriet. Nun wusste ich es: einsam. Der Stolz auf das Anderssein war erst einmal einer Angst vor dem Ungewissen gewichen.
Nun begannen sie, mich über sämtliche im Taschenkalender festgehaltenen Namen und Adressen peinlich genau auszufragen. Die westlichen hatten es ihnen besonders angetan. Trotz gestiegenen Blutdrucks, Herzrasens und zunehmenden Kopfschmerzes gelang es mir manchmal, mich dumm zu stellen und einfach zu erklären, mit gewissen Leuten aus dem Adressenverzeichnis wüsste ich nichts anzufangen, da ich sie auf meinen zahlreichen Anhalterfahrten kennengelernt hätte.
Besonders unangenehm wurde es, als sie auf Christines Namen stießen. Der eine Stasimann sagte, er wohne neben ihr, sie sei ein anständiges Mädchen, schlimm genug, dass ich ihr ein Kind gemacht hätte, wo doch auch Kriemhild von mir schwanger sei. Dazu äußerte ich mich nicht, schwieg nur betreten. In meinem Kopf hämmerte es. Sie hatten mich erwischt. Mit meiner Moral war es nicht weit her. Wie konnte ich mich erdreisten, unter Berufung auf die Bibel den Wehrdienst zu verweigern, wo ich es ansonsten mit den Geboten keineswegs so genau nahm?
Ein halbes Jahr zuvor, im September 1962, hatte ich schon einmal auf dem Polizeipräsidium erscheinen müssen. Mitten in der Nacht. Ich war gerade von einem Abstecher zurückgekommen. In meinem Untermieterzimmer wartete eine entsprechende Aufforderung. Was die von mir damals wollten, konnte ich mir nun wirklich nicht vorstellen. Ein Mädchen war verschwunden. Vor sechs Wochen war sie das letzte Mal gesehen worden. Zusammen mit mir. Ich hatte sie beim Tanzen kennengelernt. Einen Tag zuvor hatte ich mit meiner Freundin Regina Schluss gemacht (sie war meine erste richtige Freundin), weil die mir plötzlich erklärte, sie wolle mich zwar nicht verlassen, dennoch aber wolle sie es auch mit einem anderen versuchen, um Erfahrungen zu sammeln. Maßlose Enttäuschung und eine Art ohnmächtigen Rachegefühls beflügelten mich, in den Armen einer anderen die Unwiderstehlichkeit meiner gerade erst erwachten Männlichkeit bestätigen zu lassen. Obwohl mir das Mädchen nicht sonderlich gefiel, auch hatte sie einen festen Freund, warb ich zwei Tage lang um sie, bevor sie bereit war, in der Wohnung meiner Eltern, die gerade verreist waren, über Nacht zu bleiben. Ich legte klassische Musik auf dem Plattenspieler auf und hielt Vorträge über Musik, von der ich kaum mehr verstand als das arme Mädchen. Nur eines hatte ich ihr voraus, nämlich dass ich solche Musik gelegentlich hörte und freilich aus dem Theater schon viele Opern kannte. Meine Faseleien über Musik müssen ihr imponiert haben. Unsere Seelen schwebten eng umschlungen durch die Wohnung. Das Eigentliche aber durfte – vorläufig – noch nicht sein. Ihr Freund, ein Student der Elektrotechnik, stand zwischen uns.
Vielleicht aber lag die Chance, die Mädchenfestung ohne nennenswerten Widerstand zu nehmen, gerade in einer unwägbaren Unzufriedenheit mit diesem und in meinem jugendlichen Künstlertum, im Anderssein. Anderssein? Ja, ich war tatsächlich anders. Das zumindest wurde mir auf Schritt und Tritt durch die Reaktionen der anderen auf mich signalisiert. Worin mein Anderssein bestand, wüsste ich kaum zu sagen, es sei denn darin, dass meine Meinungen und mein Lebensgefühl von dem abwichen, was mehrheitlich vertreten und empfunden wurde. Ich konnte und wollte mich nicht unterordnen, wenn etwas nicht meiner Sicht der Dinge entsprach, konnte mich nicht anpassen, hatte Angst, aufgesaugt zu werden, zu verschwinden. Ich wollte ein Einzelner sein, keine Masse, auch wenn die als schön und richtig, ich dagegen als hässlich und falsch begriffen wurde.
Nachdem ich dem Mädchen das Versprechen gegeben hatte, dass sie allein schlafen könne und ich ihr nichts tun würde, kroch ich ohne weitere Vorankündigung einfach zu ihr unter die Bettdecke. Alles andere war nicht wie sonst. Kein Kampf, keine Beschwörungen, keine Liebeserklärungen, einfach nur die Erfüllung dessen, wovon wir beide wie besessen waren. Ich weiß nicht mehr, wie oft sich in dieser Nacht das stumme Rasen wiederholt haben mag. Ich weiß nur, dass sich die Neunzehnjährige mir in allen Fasern ihres Seins unterworfen hatte, ich aber nur diese eine Nacht ihr gehören wollte.
Auf dem Hangeberg verabschiedeten wir uns am nächsten Morgen. Ich ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass meine Liebe zu ihr gestorben war, noch bevor sie begonnen hatte, dass sie höchstens eine Eintagsfliege gewesen sei.
Die Diskrepanz zwischen der wunderbaren Nacht und der fühllosen Wirklichkeit muss die in mich Verliebte so sehr erschüttert haben, dass sie wochenlang im Wald umherirrte, allerdings ohne den Mut zu finden, nach der Flucht aus ihrer Stadt auch aus dem Leben zu fliehen.
Sogar mein Vater war befragt worden. Meine Mutter erfuhr nichts von alledem. Dann tauchte die Verschwundene wieder auf, so dass sich ein schrecklicher Verdacht als Seifenblase erwies. Ein Glück, denn vor meiner Mutter, nur vor ihr, wäre ich vor Scham in den Boden versunken. Schon eigenartig, dass Halunken wie ich immer vor den Müttern Angst haben. Alles, was eine Frau durch mich zu erleiden hat, das tue ich auch meiner Mutter an? Schon möglich. Der Gedanke jedenfalls, etwas Schlechtes getan zu haben, wollte mir nicht aus dem Kopf gehen.
Auch jetzt, obwohl ich sehr wohl wusste, weshalb ich vorgeladen worden war, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Mein Fall war diesmal nichts für die Kriminalpolizei. Die Stasi befasste sich mit mir. Zwölf lange Stunden wurde ich vernommen. Sieben Männer verhörten mich im Wechsel. Zwei aber besonders intensiv. Eine Frau an der Schreibmaschine protokollierte alles, was ich sagte. Meine Begründungen, weshalb ich den Wehrdienst verweigerte, mussten ihnen sehr konfus vorgekommen sein.
Natürlich hatten sie recht. Trotz meiner klaren Haltung gegen jeglichen Krieg beherrschte ich noch nicht die Kunst des ungefährlichen, dennoch aber unmissverständlichen Argumentierens, kannte nicht die verbalen Grenzen, in denen ich mich bewegen durfte, ohne den Organen etwas