Andersfremd. Hans-Henning Paetzke
wo er als Historiker die nationalsozialistischen Ordensburgen für den Nachwuchs der Reichselite ideologisch stärken sollte. Meine Mutter, die Ehestreit nicht kannte, beschwor ihn, sich nicht vor den Karren der SS spannen zu lassen. Die rassistischen Parolen der SS waren ihr verdächtig. Sie machte ihren Mann darauf aufmerksam, dass sich der Speer eines Tages auch gegen sie richten könnte, schließlich sei die eigene arische Abstammung als geborene Pietraszewski, zu deutsch: die Ängstliche, allein schon wegen ihres Namens nicht unangreifbar, aber auch die Herkunft seiner Mutter, einer geborenen Wroblewski, könnte bei arischen Rassenfanatikern Anlass zu Stirnrunzeln geben. Wroblewski, zu deutsch der Sperlinghafte, was für ein deutscher Name!
Meine Mutter, die ein Jahr zuvor in Berlin ihren ersten Sohn zur Welt gebracht hatte, war in ihrer unerschütterlichen Liebe stark genug, ihren Mann vor einer törichten Entscheidung, die sich zu einem grandiosen Verbrechen entwickelt hätte, zu bewahren.
Großvater, dem der Entschluss seines Sohnes, sich dem Ruf der Reichselite zu versagen, missfiel, hatte einen Grund mehr, der ungeliebten Schwiegertochter zu misstrauen. Solcher Einfluss, wie ihn meine Mutter, stets ein sanftes Lächeln auf den Lippen, als ruhender Pol und emotionales familiäres Machtzentrum ausübte, sei Deutschen fremd. So etwas gebe es nur in semitischen Verbänden. So etwa könnte mein Großvater gedacht haben.
Großvater Friedrich, stechender, beobachtender Blick, wie er auch einem seiner Enkel eignet, von nicht eben arischem Wuchs, war als ehemaliger Deutschnationaler und Prokurist eines in den zwanziger Jahren in Konkurs gegangenen Betriebs, der seine Bautätigkeit im ganzen Deutschen Reich ausübte, erst bei der Zollbehörde und schließlich bei der Gestapo gelandet, um dort Karriere zu machen. Dieser eines Deutschen, wie er meinte, würdige Weg, erfüllte ihn mit Stolz.
Im Laufe von Generationen gibt es im Leben einer Familie Entwicklungen, deren intime Kenntnis nicht für die Außenwelt bestimmt ist. Einen Teil unserer Familiengeschichte habe bisher nicht nur ich wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Ich fühle mich schuldig, obwohl keiner persönlichen Schuld bewusst, weil ich genetisch, zu einem Teil zumindest, das Leben von Menschen fortsetze, mit deren Handeln ich nicht einverstanden bin, schlimmer, das ich verabscheue. Besonders die Taten eines Menschen, meines Großvaters, den ich verachte, vor dem ich schon als Kind eine unbestimmte Angst hatte.
Dass mein Vater als Sohn eines Gestapo-Offiziers glänzende Voraussetzungen gehabt hätte, in die Führungsclique der SS aufzusteigen, ist unstreitig. Dass er diesen Weg nicht gegangen ist, hatte er vor allem dem seiner Frau angeborenen sicheren Instinkt für Unrecht zu verdanken, aber auch dem eigenen inneren Anstand.
Nach dem Kriegsende 1945 brach mein Vater physisch und psychisch zusammen. Von seinem verheerenden Irrtum hat er sich nie mehr erholt. Geredet über seinen Irrtum und den einer ganzen Generation hat er in den ihm verbleibenden sechsunddreißig Jahren kein einziges Wort. Jedenfalls nicht im Kreis seiner Familie. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er an einem Gymnasium Geschichte, Geografie, Deutsch und Gegenwartskunde unterrichtete. Auch nicht sein Aufstieg zum Hochschullehrer und auch nicht seine Blindheit, die ein Symbol dafür gewesen sein könnte, dass er von all dem um ihn her nichts mehr sehen wollte, auch nichts von der Inhaftierung seines Sohnes, die er ebenfalls wort- und klaglos ertrug.
Warum wohl mag ich so renitent geworden sein, wie meine Mutter zu sagen pflegte? Ist es das väterliche oder das mütterliche Erbteil? Vermutlich keines von beiden. Es muss etwas anderes sein. Etwas, das mich innerlich treibt.
Väterlicherseits fühlten sich mehrere Vorfahren sowohl dem Deutschtum als auch Polen besonders verbunden. Zwei meiner damals in Warschau lebenden Tanten unterrichteten an einem Gymnasium Polnisch. Zwar sprachen sie auch deutsch wie ihre Schwester, meine Großmutter, aber sie begriffen sich ebenso als Polinnen wie die Großmutter als Deutsche. Obwohl ich von ihrem blutrünstigen Deutschtum noch gar nichts wusste, fühlte ich mich als Kind auch in ihrer Nähe stets unbehaglich.
Als die beiden Tanten nach Auschwitz deportiert wurden, empfand es Großvater als seine Pflicht, sie vor dem fast sicheren Tod zu bewahren und sie aus dieser Hölle herauszuholen, indem er nachwies, dass es sich hier um ein Versehen der deutschen Behörden handeln müsste, da seine Schwägerinnen weder Polen noch Juden sein könnten. Schließlich war seine Frau mit dem polnischen Mädchennamen nachgewiesenermaßen Deutsche, also Arierin. Und arisches Recht blieb arisches Recht. Tatsächlich.
Dass polnische Männer auf seinen Befehl hin an den Füßen aufgehängt wurden, weil man sie der Rassenschande überführt hatte, war ihm eine derartige Genugtuung, dass er sich voller Stolz angesichts des Vollbrachten unter den sterbenden Körpern fotografieren ließ. Wie schaffte er es, die familiären Widersprüche und seine Rolle als Hüter arischer Moral in seinem Kopf zu ordnen? Hatte er eine Ahnung von der Abstammung der Schwiegertochter, deren Ahnentafel nicht nur väterlicherseits, sondern auch mütterlicherseits verdächtige Namen aufwies? Bis hin zu ihren Ururgroßeltern kam nur ein einziger echter deutscher Name vor: Utecht. Die Ururgroßmutter Martha Hauer hatte einen Herrn Ignaz Katz geheiratet. Die Tochter Rachel Katz, geboren 1857 in Galizien, ließ sich taufen, um den Milchhändler Utecht heiraten zu können. Aus Katz wurde im Kirchenbuch Kaatz. So wurde aus altem mosaischem Adel eine unverdächtige Deutsche. Tochter Utecht aber, meine Großmutter mütterlicherseits, heiratete einen Herrn Pietraszewski, einen Kantor und Volksschullehrer in Neubrück, einem deutschen Dorf, das bereits 1917 an Polen gefallen war. Das aber hat mein Großvater mütterlicherseits mit dem gleichfalls wenig deutsch klingenden Namen Leo Pietraszewski nicht mehr erlebt. Wohl ein Gegner von Impfungen, hatte er 1915 bei Verdun sein junges Leben nicht einmal auf dem Feld der Ehre sinnlos opfern müssen, nein, eine Typhusepidemie hatte ihn dahingerafft. Für seine Familie vielleicht etwas, was ein Tod zur rechten Zeit genannt werden könnte, auch wenn seine dreieinhalbjährige Tochter und die junge Witwe das anders empfunden haben mochten. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte Großvater Pietraszewski zwei Wochen zuvor seinen neunundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, befand sich auf der bescheidenen Höhe seiner beruflichen Laufbahn und der weniger bescheidenen Höhe seiner privaten Karriere, die ihn als erfolgreichen Schürzenjäger ausgewiesen hatte.
Die Rolle der Großmutter als einer bis an ihr Lebensende treuen Witwe erwies sich für die seelische Entwicklung der Tochter als wohltuend. Jedenfalls erzählte die uns Kindern später, kein Mann habe eine Chance gehabt, sich ihrer Mutter in zweifelhafter Absicht zu nähern, weil sie unmissverständlich signalisiert habe, dass sie einem ernsthaften Bewerber die Augen ausgekratzt haben würde. Was sie später zutiefst bedauerte, zumal mit einem Mann an Großmutters Seite, deren Tragödie vielleicht hätte verhindert werden können. Bis an ihr Lebensende quälten meine Mutter Schuldgefühle. Hätte sie sich nicht auf den Weg nach Hartha gemacht, in dessen Nähe sie unseren Vater vermutete, der sich in Wirklichkeit in einem amerikanischen Gefangenenlager bei Fulda befand, wäre der frühe Tod meiner Großmutter Meta zu verhindern gewesen. Und auch mir hätte sie nicht ein Leben lang verschweigen müssen, dass ich nach einem amerikanischen Granatwerferangriff von den Wirtsleuten unter den Trümmern halbtot hervorgezogen werden musste. Vieles liegt im Dunkel.
Ein Schnippchen geschlagen
Die Bindungen an meine Geburtsstadt haben sich zu verschiedensten Zeiten und aus verschiedensten Gründen immer wieder erneuert. Als ich 1968 jenes Land, das DDR geheißen hat, verließ und ihm voller Glücksgefühle keine einzige Träne nachweinte, nahm ich in Leipzig Abschied vom Grab Georg Dertingers, vom früheren Generalsekretär der christlichen Blockpartei CDU und ersten Außenminister der DDR, der Anfang 1953 verhaftet, 1954 als angeblicher Spion zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt und 1964 begnadigt worden war. Sein dorniger Weg hatte ihn ebenso in den Hafen eines katholischen Leipziger Verlags einlaufen lassen wie mich. Abschied nahm ich auch von Inge, Assistentin von Ernst Bloch, auf Anraten der Organe gefeuert, als Lektorin in einem katholischen Verlag untergekommen, bis zu Ernst Blochs Tod 1977 immer wieder von der Stasi vorgeladen, um nach dem Philosophen befragt zu werden, Abschied von einer mütterlichen Freundin also, die mir zwei Dinge mit auf den Weg gab: Zum einen solle ich viel deutsch lesen, um das muttersprachliche Gespür für die Sprache nicht zu verlieren, und zum anderen solle ich ihr ein ungarisches Buch vorschlagen und ins Deutsche übersetzen.
Schnell hatte ich mit Hilfe ungarischer Freunde einen