Andersfremd. Hans-Henning Paetzke
Pferd, geht es doch in Miklós Mészölys Roman um nichts weniger als um die Frage, ob aus einem Verfolger, sprich: einem Staatssicherheitsdienstler, wenn er auf der Suche nach der absoluten Wahrheit seinen Irrtum erkannt habe, ein Verfolgter werden könne. Inge, die Miklós in Budapest kennenlernt und sowohl vom Autor als auch von dessen Buch, von dessen Format ihr andeutungsweise eine Vorstellung vermittelt wird, begeistert ist, erkennt die Chance, unter dem Aushängeschild eines religiösen Romans in Leipzig brisante Literatur verlegen, der Zensurbehörde ein Schnippchen schlagen zu können.
1970 erscheint der Roman auf Deutsch. Das Ostberliner Büro für Urheberrechte hat die Attacke gegen die sozialistische Literatur verstanden, wenn auch verspätet, und mich davon in Kenntnis gesetzt, dass ich als Übersetzer von nun an in der DDR unerwünscht sei. 20.000 in Kirchen und kirchlichen Buchhandlungen verkaufte Exemplare und das Erlernen der ungarischen Sprache während der Arbeit an dem Buch haben sich gelohnt.
Der Bestrafung entzogen
Als Väterchen, Großvater Friedrich, 1959 starb, fuhren meine Eltern zur Beerdigung in den Westen. Wir Kinder hatten auf der Beerdigung nichts zu suchen. Oder gab es Probleme mit der Reisegenehmigung für die ganze Familie? Mussten wir drei Geschwister als Faustpfand zurückbleiben?
Nach seiner Rückkehr brachte mein Vater an der Wand neben dem Schreibtisch ein Bild seines Vaters an. Nach wenigen Wochen entfernte er es ebenso kommentarlos, wie er es kommentarlos aufgehängt hatte. Väterchen war einen zweiten Tod gestorben.
Hatte die Gefahr bestanden, dass Fliege, der Direktor der Oberschule, der uns gelegentlich besuchte, genauer gesagt, seinen Besuch ankündigte und realisierte, denn außer Verwandten luden wir so gut wie nie jemanden ein? Hatte die Gefahr bestanden, dass Fliege den Großvater erkennen könnte? Fliege war Jude. Aber das erfuhr ich erst Jahre später, ebenso wie davon, dass er in seiner Zeit als Direktor zu einem ganzen männlichen Abiturientenjahrgang recht ungewöhnliche Beziehungen unterhalten haben soll, bevor er bei Nacht und Nebel verschwand, um sich der drohenden Bestrafung durch die Faust des Proletariats zu entziehen, indem er kurzerhand „vom sozialistischen Friedenslager ins imperialistische Lager der Kriegstreiber“ überwechselte.
Gummigeruch
Mit meiner für die DDR ungewöhnlichen Künstlermähne und den Jesuslatschen, in denen ich sommers wie winters barfuß ging, hatte ich keine Chance gehabt, die Sympathie des ehemaligen Offiziers der NVA zu erringen. Marlene schon eher. Dafür aber stand das Kennenlernen mit dem Pfarrer unter einem glücklicheren Stern. Auf Rädern fuhren Marlene und ich in das etwa acht Kilometer entfernte Löcknitz. Der Pfarrer, eine imposante Erscheinung, grauhaarig, stattlich wie ein nordischer Kleiderschrank, umarmte Marlene und auch mich, wobei er die Zigarre kurz aus dem Mund nahm. Bequem in den Sessel zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen, in eine dichte Rauchwolke gehüllt, unterhielt er sich mit mir, dem Neunzehnjährigen, als wären wir gleichaltrig.
Sein Sohn und seine Schwiegertochter waren kurz vor dem Mauerbau in den Westen gegangen, wo beide journalistisch tätig waren, er als Musikkritiker und sie als Sprecherin beim Deutschlandfunk. Täglich hörte der Pfarrer die Stimme der geliebten Schwiegertochter und des Öfteren auch die seines einzigen Sohnes im Radio. Besuchen durfte er sie nicht. Allerdings war ihm vom Rat des Kreises mehrfach nahegelegt worden, einen Ausreiseantrag zu stellen. Die Behörden wären den unbequemen Pastor, der kein Blatt vor den Mund nahm, gern losgeworden. Auch von der Kanzel herunter wetterte er gegen das materialistische Weltbild der ostdeutschen Kommunisten.
Er besaß Narrenfreiheit, durfte aussprechen, wofür andere wegen staatsfeindlicher Hetze längst ins Gefängnis gewandert wären. Ihn zu verhaften, das wagte man nicht. Man scheute sich, gegen jemanden vorzugehen, der zu den Verfolgten des Naziregimes gehörte, ja, sogar eine entsprechende Rente bezog.
Als Diakon einer kirchlichen ‚Anstalt für Schwachsinnige‘ hatte er sich aktiv der Euthanasie widersetzt, hatte eine Weile erfolgreich gegen den Abtransport seiner Schützlinge nach Hadamar gekämpft. Ein katholischer Bischof hatte 1941 von der Kanzel gegen die praktizierte Euthanasie protestiert. Erfolgreich. Drei Wochen später wurde dieses Programm zur Vernichtung unwerten Lebens eingestellt, zumal der Predigttext sich auch unter den Soldaten verbreitete, die offensichtlich Angst hatten, als Verwundete gleichfalls in die Kategorie des Unwerten zu geraten. Zu einem Protest gegen die Judenvernichtung allerdings ließ sich Bischof Graf von Galen nicht bewegen.
Den Fall des rebellischen Diakons löste die Gestapo schließlich, indem sie ihn wegen Abhörens von Feindsendern kurzerhand vor Gericht stellte und ins KZ Buchenwald verfrachtete. Nach der Befreiung belohnte ihn seine Kirche für die bewiesene Zivilcourage mit einer Pfarre, obwohl er kein Theologiestudium absolviert hatte. Mit der Jungen Gemeinde hatte er viele junge Leute um sich versammelt. Jung und Alt vergötterten ihn gleichermaßen. Mit seiner rheinländischen Art verströmte er Lebensfreude und -kraft, etwas, das im protestantischen Osten fremd und anziehend zugleich wirkte. Nie schien er genug Menschen um sich haben zu können. Auch außerhalb seiner Gemeinde knüpfte er Kontakte. Vor allem die Welt des Theaters hatte es ihm angetan.
Bevor er Anfang der zwanziger Jahre in den kirchlichen Dienst getreten war, hatte er sich als Schauspieler versucht. Allerdings, wie er bereitwillig zugab, mit mäßigem Erfolg. Marlene, die er auf der Bühne in einer kleinen Rolle gesehen hatte, hatte er im Hotel Uckermark im Restaurant angesprochen und ihr sein Leid geklagt, dass seine zehn Jahre ältere Frau im Krankenhaus lag. Waren sich Seelenhirt und Schäfchen begegnet oder ein alternder Mann und eine junge Blondine?
Vom Gummigeruch in meiner Nase werde ich mich wohl nie befreien können. Er ist unlöslich verbunden mit Marlenes Körper. Warum sie sich mir ohne jede Vorankündigung hingegeben hatte, verstand ich nicht. Wollte sie einfach wissen, ob ich tatsächlich so ein toller Liebhaber war wie der mir vorauseilende Ruf? Jedenfalls kam es keineswegs, wie es hatte kommen müssen, sondern vielmehr überraschend und unerklärlich. Nach einem anregenden Gespräch über meine beabsichtigte Wehrdienstverweigerung lehnte sie sich auf dem Bett in ihrem Untermieterzimmer zurück und gab mir zu verstehen, dass die Unterhaltung jetzt beendet sei und sie mich für die vielen schönen Gespräche belohnen wolle. Sich mit den Händen auf dem Bett abstützend, den Oberkörper nach hinten neigend, die gespreizten Beine von der Bettkante herabhängen lassend, warf sie den Kopf in den Nacken und ließ mich gewähren. Es ging alles mehr als schnell vonstatten. Ebenso unvermittelt, wie es begonnen hatte, war es auch zu Ende gegangen. Sehr geschickt hatte ich mich nicht angestellt. Sie fragte mich nur noch, ob ich sie heiraten würde, sollte sie ein Kind von mir bekommen.
Gesehen haben wir uns danach nur noch selten. Geblieben ist die Erinnerung an eine intensive Unterhaltung, an eine eigenartige Liebesaffäre und an den muffigen Gummigeruch, der sich von ihrem Büstenhalter auf den ganzen Körper übertragen hatte.
Hassliebe
Am 26. März 1963, einem Dienstag, sollte ich auf dem Wehrkreiskommando zur Musterung erscheinen. Nun galt es, unter Beweis zu stellen, dass ich nicht nur gefaselt hatte und tatsächlich den Wehrdienst verweigern würde. Was war mir nicht alles durch den Kopf gegangen, wie die Sache in Angriff zu nehmen sei! Nie wieder sollte ein Krieg von deutschem Boden ausgehen, so hatte ich im Geschichtsunterricht gehört. Der Gedanke gefiel mir, auch wenn ich ihn sicher anders verstand als der Geschichtslehrer, ein junger Lehrer, der gerade die Pädagogische Hochschule absolviert hatte und voller Elan war, die Kinder für den Sozialismus zu gewinnen.
Er war ausgesprochen sympathisch, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass seine Fragen stets nur eine einzige richtige Antwort zuließen. Ein Philosophieren über Geschichte, über die Entstehung von Kriegen war nicht möglich. Dabei glaubte ich schon als Elfjähriger nicht an die Unvermeidbarkeit militärischer Auseinandersetzungen, deren Minimuster ich meinte, in den Konflikten der Klassengemeinschaft zu erkennen. Eher schon war ich davon überzeugt, dass eine schmale Herrschaftselite die Bauern auf dem Schachbrett nicht unbedingt einsetzen müsste. Trugen doch die Möchtegernfeldherren in der Schulklasse den Machtkampf immer unter sich aus.