Andersfremd. Hans-Henning Paetzke
setzten erst mit der Pubertät ein.
Politisch durfte ich vor der Kommission nicht argumentieren. Meine mangelnde Bereitschaft, gegen den kapitalistischen Feind in Westdeutschland die Waffe in die Hand nehmen zu wollen, wäre einer Selbstanzeige wegen staatsfeindlicher Hetze gleichgekommen. Eine solche Begründung hätte mich zu einem Antikommunisten abgestempelt, was von der Wahrheit nicht weit entfernt, jedoch ziemlich gefährlich gewesen wäre. Stattdessen wälzte ich die Bibel, bemühte die alttestamentarischen Gebote und rechtfertigte meine Haltung mit einer vegetarischen Lebensweise. Auf der Suche nach glaubwürdigen Erklärungen vertraute ich mich wildfremden Menschen an. Gelegenheiten ergaben sich auf meinen Anhalterfahrten quer durch die Republik reichlich. In meinem Mitteilungsbedürfnis lag etwas Zwanghaftes. Denn mein Entschluss stand ohnehin fest. Vielleicht war es nur ein Kampf gegen das Ungewisse, gegen die eigene Angst vor den Konsequenzen. Was würde an dem Tag, da ich vor der Musterungskommission stehen würde, passieren? Würden sie mich verhaften oder aber Verständnis für meine pazifistische Haltung zeigen? Schließlich war in der Verfassung das Recht auf Gewissensfreiheit verankert. Und darauf wollte ich mich berufen.
In Ostberlin suchte ich den Direktor des Sprachenkonvikts auf, einen jungen Pfarrer, der nach dem Mauerbau den im Osten verbliebenen Teil der KIHO, der Kirchlichen Hochschule, leitete, wo Theologen ausgebildet werden sollten. Der Pfarrer, dessen Frau gerade ihr zweites Kind erwartete, brachte mich mit seinen Studenten zusammen, von denen die meisten den Wehrdienst bereits verweigert hatten. Passiert war ihnen nichts. Die Behörden taten einfach so, als sei nichts geschehen. Die Narrenfreiheit, die vielen DDR-Pfarrern gewährt wurde, übertrug man offensichtlich auch auf Theologiestudenten. Die Atmosphäre in diesem Kreis war beeindruckend. Hier wehte ein freier Geist. Und Mut schienen diese jungen Männer auch zu haben. Sie gingen zur Musterung und legten der Kommission einen Brief auf den Tisch, worin sie ankündigten, dass sie im Fall einer Einberufung unter Berufung auf ihre Gewissensfreiheit den Dienst mit der Waffe verweigern würden.
Der Staat verhielt sich abwartend, berief die Querulanten einfach nicht ein. Vielleicht dachten die Verantwortlichen, die würden ohnehin nur Wehrzersetzung betreiben.
Ich aber empfand bereits die Musterung selbst als entwürdigend und inakzeptabel. Denn damit, so meinte ich, indirekt das Recht des Staates anzuerkennen, mich für einen eventuellen Krieg ausbilden zu dürfen. Welchen Sinn sollte es haben, mich mustern zu lassen, wenn ich einer Einberufung ohnehin nicht Folge leisten wollte? Im Neuen Testament ist davon die Rede, dass man dem Staat geben solle, was des Staates sei. Aber was ist das: Staat? Wer ist der Staat? Ich? Und kalt kriecht die Lüge aus seinem Mund: Ich, der Staat, bin das Volk? Zweifellos bin ich ein Teil dieses Organisationsgebildes. Dennoch bin ich vor allem ich selbst. Ein Teil meiner Familie. Und die ein Teil der nächstgrößeren Gemeinschaft, ein Teil des Dorfes, ein Teil der Stadt, des Landes, der Nation, der Sprachgemeinschaft, der Menschheit, des Universums, des ewigen Geheimnisses, das man Leben heißt, Gott. Das Leben, Gott, steht also an oberster Stelle, was bedeutet, dass sich alles andere dem Leben unterzuordnen hat, nicht aber ich mich dem Staat. Nicht ich habe dem Staat zu dienen, sondern der Staat mir. Also kann es auch nicht rechtens sein, dass ich mich als Einzelner im Kriegsfall dem Staat, dem Vaterland, der Heimat aufzuopfern habe. Der Teufelskreis zwischenstaatlicher Gewalt muss durchbrochen werden. Die Gewalt dient nicht dem Interesse der Menschheit, vielmehr ist sie geeignet, dem Interesse Einzelner zu dienen, individueller Machtgier, andere zu beherrschen, in ihre Gewalt zu bekommen.
Mit der DDR hat mich, ohne dass ich mir dessen damals bewusstgeworden wäre, stets eine Art Hassliebe verbunden. Geglaubt habe ich den marxistischen Religionslehrern so gut wie nichts. Trotzdem haben sie mich stark beeinflusst. Die von ihnen propagierte Friedensliebe ist ein Teil meiner selbst geworden, ich habe sie verinnerlicht, wörtlich genommen. Sie freilich versuchten, Friedensliebe und Friedenssehnsucht mit der Idee eines gerechten Krieges zu verbinden. Darin konnte ich ihnen nicht folgen. Meine kindliche Seele mochte gedankliche Geradlinigkeit. Sie konnte und wollte nicht um die Ecke denken. Zu viel Leid hatten die Deutschen, denen ich mich gezwungenermaßen zugehörig fühlte, über andere Menschen gebracht. Menschen, denen ich durch verwandtschaftliche Bindungen nahestand, waren auf die eine oder andere Weise an unvorstellbaren Gräueltaten beteiligt gewesen. Diese Verflechtungen waren nicht, wie ein gordischer Knoten, durch das Schwert zu durchtrennen, nein, ein Neubeginn war nur durch ein absolutes Nein zu allem Vorangegangenen vorstellbar. Eine Fortsetzung, eine Kontinuität durfte es nicht geben, es sei denn, Kontinuität wäre im totalen Anderssein zu begreifen, das sich dem Samen des Hasses widersetzen und aus dem mit Blut gedüngten Boden wie eine Saat aufgehen würde.
Opfer
Jossif Wissarjonowitsch Stalin war am 5. März 1953 gestorben. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als uns die Klassenlehrerin darüber informierte, was der Menschheit Schreckliches widerfahren sei. Noch vermochte ich das Mysterium dieses Weisesten aller Weisen nicht zu fassen, weshalb auch ich angesichts dieses schrecklichen Verlustes Trauer empfand, bis sich herausstellte, dass der Generalissimus von Weisheit weit entfernt gewesen sein muss, dafür aber einer der größten Massenmörder des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen war.
Der Genosse Direktor, dessen in mich verliebte Tochter mir, dem Siebenjährigen, die Schultasche trug, sehr zur Empörung der Eltern, mir später dann, dem Neunjährigen, hinter einem Busch einen Kuss gegeben haben soll, weshalb uns anderentags die Klassenkameraden anlässlich unserer Verlobung Blumensträuße brachten, machte sich im Januar 1954 in Richtung Westberlin aus dem Staub, weil er die Angriffe gegen die Menschenwürde, an denen er selbst mitgewirkt hatte, nicht mehr ertragen konnte.
Mein Vater, der ehemalige Nazi, der sich von seinem ideologisch belasteten Doktortitel getrennt hatte, vielleicht auch von seinen völkischen Überzeugungen, seinen Vorbehalten gegenüber der semitischen Rasse, woran sowohl die jüdischen Blutsbande seiner Frau, meiner Mutter, als auch die Schrecken des Dritten Reichs ihren Anteil gehabt haben mochten, schwang sich zu menschlichen Höhen einer Zivilcourage auf, wie sie im menschlichen Miteinander nur selten zu beobachten ist, als er 1952 seine sechzehnjährigen Schüler zu sich nach Hause bestellte und eindringlich um Verständnis dafür warb, dass er im Gegenwartskunde- und Geschichtsunterricht oft Meinungen vertreten müsse, die sich mit den seinen nicht deckten. Seine Schüler lohnten ihm das Vertrauen mit einer weit über seinen Tod hinausreichenden dankbaren Zuneigung.
Als er wieder einmal wegen seiner sich mehrenden Asthmaanfälle in ein zwanzig Kilometer entferntes Krankenhaus eingewiesen wurde, unternahm die ganze Klasse einen Fahrradausflug, um ihn dort zu besuchen. Mich, den Neunjährigen, den sie als ihren Jungen vergötterten, nahmen sie mit. Im Wechsel saß ich auf verschiedenen Fahrradstangen und Gepäckträgern.
Ein halbes Jahr später schon blies den Jugendlichen ein anderer Wind ins Gesicht. Menschen, die gerade erst das eine tausendjährige Reich zu Grabe getragen hatten, machten im Angesicht des Todes die mörderische Hysterie des Weisesten aller Führer zu ihrer eigenen. So konnte der sich noch ein letztes Mal aufbäumen, um kurz vor seiner Höllenfahrt als Vater aller Menschen in seiner ersehnten Unsterblichkeit zu erstrahlen.
Vorauseilender Gehorsam als nordisches Ideal hatte Hitlers Schreckensherrschaft überlebt. Die Menschen des Sozialismus sollten zum Aufbau eines vermeintlichen Paradieses gezwungen werden. Alles, was sich außerhalb der materialistischen Weltanschauung bewegte, hatte darin keinen Platz. Christen, Sozialdemokraten, Liberale, Demokraten, mit einem Wort: Andersgläubige, Andersdenkende konnten nicht überzeugend nachweisen, keine Feinde des Humanismus zu sein.
Die Kunde von Stalins Tod veranlasste den Direktor zur Organisation einer Trauerfeier mit vielen Tränen und rührseligen Worten. Nur ein Schüler, der Sohn eines betuchten Bauunternehmers, störte die tiefempfundene Erhabenheit der Trauer durch sein nicht zu übersehendes Grinsen, das so vieles bedeuten konnte, nur keine aufrichtige Trauer. Der Direktor war als Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, vor allem aber als jemand, der seine nazistische Vergangenheit zutiefst bereut hatte, als aufrechter sozialistischer Demokrat und Mensch derart empört, dass er erfolgreich die Entfernung des Unwürdigen von der Oberschule betrieb. Das Grinsen während der Trauerfeier führte zur Vernichtung einer Existenz. Mein Vater soll sich noch vorsichtig für den Schüler eingesetzt haben. Erfolglos.
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