Andersfremd. Hans-Henning Paetzke

Andersfremd - Hans-Henning Paetzke


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sie ihre Wohnung und ihre Familie nicht mehr ausfindig machen konnten, von einer Brücke vor einen anrollenden Zug stürzten. Leipzig, das sind Bettler, bettelnde Nachbarskinder, vor allem eine bettelnde Frau, die ihre Lebensmittelkarten verloren (damals der sichere Hungertod), daheim sich und ihren bettlägerigen alten Mann zu versorgen hatte, weshalb sie gegen zwei karge Essensrationen uns drei Kinder und den Haushalt versorgte, sich manchmal wie ein Musikclown die Augen verband, um uns auf dem Klavier Chopin und Liszt zu Gehör zu bringen. Leipzig, das heißt Anschreibenlassen in Frau Lademanns Krämerladen in der Landsberger/Ecke Jägerstraße, um auch am kommenden Tag über die nötigsten Grundlebensmittel zu verfügen. Leipzig, das ist Böhlen, wo mein Vater als einst in Königsberg akademisch geprüfter Schwimmlehrer Kindern beibringt, sich über Wasser zu halten, ein Bombentrichter, in dem er Kürbis anbaut, den meine Mutter zu wohlschmeckendem Kompott verarbeitet, Leipzig, das heißt 1. September 1950, mein erster Schultag, Leipzig, das ist eine Schlittenpartie mit Mitsche im Wackerstadion, die an einem Betonpfosten mit einem Nasenbeinbruch endet und damit, dass mich mein Bruder auf dem Schlitten durch die schneelosen Straßen nach Hause zieht.

      Leipzig bedeutet aber auch, dass ich besagten Bruder, der in seinem Tatendrang sehr zum Ärger und Leidwesen unserer Eltern in der Nachbarschaft gelegentlich materiellen Schaden größeren Ausmaßes anrichtet, dass ich also Mitsche oder Süß, so nenne ich ihn, totenblass vor Angst über die Terrasse rasen sehe, meinen Vater mit dem Rohrstock in der Hand ihm hinterher. Leipzig, das ist mein etwa gleichaltriger Freund Ralf, mein Dolmetscher in den Jahren der Stummheit, als mein verbales Vermögen darin besteht, „i-i“ zu sagen, und Ralf der Außenwelt erklärt, was I-I haben oder sagen will, denn nur sein gutes Herz ist imstande, I-I’s-Sprache in die der Erwachsenen zu übersetzen.

      Dann, im Januar 1951, ziehen wir von Leipzig weg. Unser Vater unterrichtet an einem Gymnasium in einer anderen Stadt, in Querfurt. Seither habe ich an circa zwanzig verschiedenen Orten Deutschlands versucht, heimisch zu werden.

      In meinen Träumen atme ich gierig den Geruch von Rübensirup ein, spiele mit den Kindern aus der Nachbarschaft Verstecken. Den Wegzug aus der Hannoverschen Straße erlebe ich in meinen allnächtlich wiederkehrenden Träumen wie eine Vertreibung aus dem Paradies. Die Hannoversche Straße ist stets die Endstation meiner Sehnsucht. Der Verlust der kindlichen Wurzeln schmerzt. Nirgendwo sonst habe ich mich so zu Hause gefühlt wie gerade dort. Erst in Budapest, wo ich zwischen 1968 und 1973 gelebt habe und wohin ich 1994 zurückgekehrt bin, ist es mir gelungen, wieder Wurzeln zu schlagen, mich heimisch zu fühlen. Überall sonst fühlte ich mich wie Ahasver.

      Für kurze Zeit kehrt so etwas wie Leipzig noch einmal in mein Leben zurück, als Ralfs Mutter 1952 nach Hamburg verschwindet und deshalb den Sohn, meinen Freund, für vier Monate unserer Familie anvertraut, um in der westlichen Fremde erst einmal selbst Fuß zu fassen. Da mein Vater es nicht für nötig und ratsam hält, seine Umgebung am neuen Wohnort über die Herkunft des Jungen aufzuklären, gilt er in den Klatschgeschichten der Leute als der Kegel des alten Paukers, der damals noch nicht einmal seinen vierundvierzigsten Geburtstag gefeiert hat.

      Dann aber verschwindet Ralf für immer. Erst in einer Jahrzehnte später aufgefundenen Akte, geführt von verantwortungsvollen Chronisten eines Landes, das mein Land nicht sein wollte, kommen meine nie beantworteten Briefe wieder zum Vorschein.

       Heimat

      Andreas, mit dem zusammen ich an der Martin-Luther-Universität in Halle in den obligatorischen Marxismusseminaren so manchen Ulk getrieben habe, ist in den siebziger Jahren als Dozent an einer Leipziger Hochschule tätig. Ein sensibel und zerbrechlich wirkender junger Mann, den vor allem sein ironisches Lächeln und seine ironischen Geschichten auszeichnen, die so gar nicht zu seinem späteren Schicksal passen wollen. Aber vielleicht war die für ihn typisch scheinende Ironie auch nur ein Überbleibsel aus der Schizophrenie seiner Kindheit, als sein Vater einen Vertrauensposten bei den Sowjets innehatte, den eines Direktors bei einer SAG, einer Sowjetischen Aktiengesellschaft, und seine Mutter vom Katholizismus nicht lassen wollte.

      Andreas, die Inkarnation der Treue, heiratete gegen den Willen seiner Eltern, denen die Nazis immer ein Gräuel gewesen sind, ein Mädchen, dessen Vater, ein SS-General, nach dem Krieg zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war. Andreas, praktizierender Katholik, hat sich in der Zeit real-sozialistischer Schikanen und unter dem Eindruck des Ausreisebazillus entschlossen, Leipzig die Treue zu wahren. Er will seine Heimat unter gar keinen Umständen verlassen; Staaten und Regime kommen und gehen, aber die Städte und Landschaften bleiben; die Menschen sollten es ebenso tun.

      Er ist ein hochsensibler Romantiker; als sich seine Frau in einen anderen Mann verliebt und sich scheiden lässt, tritt er die einzige Flucht seines Lebens an. Nicht Leipzig kehrt er den Rücken, nein, dem Leben, er flüchtet sich in die geistige Umnachtung, in den Wahnsinn, worin er nun schon fast so lange wie einst Hölderlin, seit etwa zwanzig Jahren, verharrt.

      Denke ich an Leipzig in der Nacht, bin ich nicht um den Schlaf gebracht, nein, aber ich denke an all meine Freunde dort, an meine Kindheit, an das verlorene Paradies, das beinahe ein Inferno geworden wäre.

      Mir fällt eine Geschichte ein, die mir Andreas’ Schwester erzählt hat, aus der Zeit, als sie im Messebau tätig gewesen ist und für die Frau eines in Mexiko seiner Krebskrankheit erlegenen Führers der DDR und ehemaligen Bergmanns ein Büro eingerichtet hat. Durch einen Zufall war sie in die Leipziger Schaltzentrale der Macht gelangt, wohin ihr ein ehemaliger Kommilitone aus Prahlerei und Geltungsbedürfnis Zugang verschafft hatte. Dort zauberte der Prahlhans über die Betätigung verschiedener Knöpfe unterschiedlichste Plätze, Lokalitäten und Gebäude der Stadt auf den Bildschirm, so dass intime Einsichten in das Treiben der Leipziger Mitmenschen zu gewinnen waren.

      Die Plätze, Straßen und Häuser existieren nicht mehr, zumindest nicht mehr so, wie sie in meiner Erinnerung leben. Hochhäuser haben die Gärten meiner Kindheit verdrängt, haben dem Boden, auf dem wir in einem verwunschenen Garten ein Lagerfeuer entfacht haben, um darin Kartoffeln garen zu lassen, die Unschuld geraubt. Auch die Landsberger Straße, wo ich meine Mutter nach ihren Hamstertouren an der Haltestelle Viertelsweg von der Straßenbahn abholte, erkenne ich kaum wieder. In der Erinnerung sehe ich eine junge, bildhübsche und wunderbare Frau aus der Straßenbahn steigen, zwei volle Eimer mit Kartoffeln und Gemüse in den Händen, auf dem Rücken einen schweren Rucksack. Ich spüre die Düfte aus der Waschküche in meine Nase steigen. Im Waschkessel rühren die Frauen – Verwandte, unsere auf dem Klavier Clownerien produzierende Kinderfrau und meine Mutter – abwechselnd die im eigenen Saft brodelnden Zuckerrüben um, aus denen, mit Kürbis gestreckt, wohlschmeckender Sirup entsteht. Von den ausgelaugten Rübenschnitzeln darf ich essen. Ich blicke hinüber zur Terrasse des Nachbarhauses, wo der Sohn des einstigen Chefarchitekten der Stadt, die Fotos von Tauchschern und der Einschulung geschossen hat. Das eine Bild zeigt mich in einer weißen Schürze, auf dem Kopf eine Kochmütze, Tränen in den Augen, weil ich doch so gern ein Trapper gewesen wäre. Ein anderes Bild legt Zeugnis von meiner Einschulung ab: weiße gehäkelte Kniestrümpfe aus Baumwolle und im Arm eine Zuckertüte. Auf zwei weiteren Bildern bin ich in roten Samthosen mit roten Samthosenträgern zu sehen, weißem Hemd, den beschriebenen weißen Kniestrümpfen und an den Füßen Igelit-Sandalen, deren oft reißende Riemen sich mit Hilfe eines über der Gasflamme zum Glühen gebrachten Messers wieder befestigen, anschweißen ließen, auf dem zweiten Bild in gleicher Ausstattung, diesmal aber in einer weißen kurzen Hose aus einem Baumwoll-Leinen-Gemisch, dem Stoff, der die riesengroßen Pakete umhüllte, die jährlich zweimal aus dem texanischen Brookshire von den um 1900 aus Galizien ausgewanderten und nie gesehenen Verwandten eintrafen.

      Mein Fotograf darf 1963 als einer der ersten nach dem Mauerbau als Tennis-As zu einem Wettkampf in den Westen, nach Kiel, reisen und lässt, indem er das Vertrauen des ersten Arbeiter- und Bauernstaats in der deutschen Geschichte schamlos ausnutzt, die Rückfahrkarte nach Leipzig verfallen und nimmt sogar in Kauf, dass seine überempfindliche Mutter, die den Schritt des Sohnes zwar rational billigt, auf ihre letzten Tage in die Nervenheilanstalt umziehen muss, nach Dösen in die Klapsmühle, wo sie, die aus einer großbürgerlichen Familie stammt und teils in England zur Schule gegangen ist, mit ihrer Bettnachbarin französisch und englisch parliert.

      In Gedanken


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