Andersfremd. Hans-Henning Paetzke
und damit die Oberen verunsichert. Die kleinen Oberen begreifen die Ironie seiner Schwänke nicht und sind zwar irritiert, weil sie spüren, dass sie verulkt werden, trotzdem aber finden sie daran nichts auszusetzen, schließlich ist sein Verhalten, wenn auch ungewöhnlich, so doch durchaus korrekt. Die großen Oberen indes sind klug genug gewesen, um die Schwejkiaden richtig zu interpretieren, die Kritik am System zu verstehen und sich in ihrem Selbstverständnis, in ihrem Selbstbewusstsein verspottet zu sehen, ja, die eigene Lächerlichkeit im vorgehaltenen Spiegel zu erkennen, weshalb sie ihm den Spiegel aus der Hand reißen und auf dem Boden zerschmettern, was ihm sieben Jahre Pech bescheren soll. Was sie nicht wissen, sein Spiegel ist ein Zauberspiegel, und das Versprechen der Scherben setzt die zeitlichen Grenzen außer Kraft. Das Pech soll nicht sieben Jahre, sondern ein Leben lang andauern.
Der schlesische Schwejk ist unter seiner Bärenhaut verletzbar. Und äußerlich ist er tatsächlich ein Bär, wenn auch einer, der anlässlich einer Kulturveranstaltung tapsig und im Stechschritt auf die Bühne marschiert und der vor Behagen grölenden Masse seiner Mitgefangenen in Goebbels-Manier zuschreit: „Majakowski: Der Fortschritt siegt!“ Oder auf der Lagerstraße, als sich die Sträflinge nicht mehr einzeln, sondern nur noch in Gruppen, aus mindestens drei Gefangenen bestehend, von der Speisebaracke zur Schlafbaracke und umgekehrt begeben dürfen. Aus Sicherheitsgründen, denn gegen die Oberen hat es eine Revolte gegeben: Der stellvertretende Lagerkommandant ist auf offener Lagerstraße im Dunkeln von jemandem geohrfeigt worden. Die Erzieher kennen den Übeltäter nicht, aber sie kennen die Drahtzieher, die zu den haltlosen Zuständen im Lager geführt haben, zur Auflösung von Ordnung und Disziplin. Mit den Drahtziehern könnte das kleine Häuflein der Politischen gemeint sein. Fortan steht hinter den zum Fahnenappell Angetretenen alle fünf Meter ein Erzieher, die Maschinenpistole geschultert und den Deutschen Schäferhund an der Leine, was mir und meinesgleichen ein mulmiges Gefühl vermittelt.
Wenn ich mit Schwejk über die Lagerstraße ziehe und einem Erzieher begegne, reißen wir uns die Mützen vom Kopf, stehen stramm, und Kurt erstattet im schneidenden Kommandoton, die Hände an der Hosennaht, Meldung: „Herr Hauptwachtmeister, Strafgefangener 371 aus 3 meldet gehorsamst, drei Strafgefangene auf dem Weg vom Speisesaal zur Baracke Nummer fünf!“
Verdattert ob solch militärischen Gebarens entlässt uns der Hauptwachtmeister gnädig. Wir, die Strafgefangenen, amüsieren uns königlich. Fast gieren wir danach, wir, die anderen, die wir Akteure und Zuschauer des Sträflingstheaters geworden sind, möglichst oft Meldung erstatten zu müssen, es unserem Schwejk gleichzutun.
Ein kleines Häuflein Politischer schart sich um Kurt und Walter. Etwa zwölf an der Zahl. Zu unserem Kreis gehören auch zwei, die sich ominöser Verbrechen gegen die sozialistische Wirtschaft schuldig gemacht haben. Hungerkiepe – ein zweiundzwanzigjähriges Geschäftsgenie, dem alle Reste zugeschoben werden, denn er kann nie genug bekommen, dabei ist er nur Haut und Knochen – ist sein fünfundachtzig Jahre alter Vater zum Verhängnis geworden, der aus Neid auf die Erfolge des Sohns, der es bereits zu einem eigenen Haus und einem Wartburg Sport gebracht hat, zur Polizei gegangen ist und ihn wegen Unregelmäßigkeiten in der Buchführung angezeigt hat.
Nicht ohne Erfolg, denn ein Genosse aus der Kreisleitung der Partei hatte schon ein Auge auf die kleine Villa geworfen, die er nach der Verurteilung des jungen Mannes wegen Vergehen gegen Volkseigentum und sozialistische Wirtschaftsinteressen zu drei Jahren bei gleichzeitiger Enteignung des unrechtmäßig erworbenen Privatbesitzes für einen Vorzugspreis erstehen konnte.
Hungerkiepe sitzt zu den Mahlzeiten meist neben mir, da ihm meine Fleischrationen sicher sind. Aber in der Regel finden auch die Reste von mehreren anderen Mitgefangenen den Weg durch sein stets weit geöffnetes Scheunentor. Er ist wie ein hungriger Ackergaul, der unentwegt fressen kann, wenn entsprechende Futtermengen nachgereicht werden.
Ein Bauernsohn aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Rostock, der auf der ABF, der Arbeiter- und Bauernfakultät, sein Abitur abgelegt hatte, hat sich mit einigen Freunden aus dieser Kaderschmiede den Rütlischwur zu eigen gemacht, sie wollten sein ein einig Volk von Brüdern und das Regime mit Waffengewalt hinwegfegen, sie wollten bewaffnete Zellen aufbauen und mittels wirkungsvoller Terroraktionen den Kampf gegen die ihnen verhassten Kommunisten aufnehmen, bis die die Macht freiwillig aus der Hand geben und sich zurückziehen würden, um den Weg freizumachen für ein einiges und demokratisches Deutschland.
Für diesen ungeheuerlichen Plan, denn es war nur bei einer im Freundeskreis ausgeheckten Fantasie geblieben, hatte er, zwei oder drei Jahre älter als ich, als einer der Rädelsführer nur dreißig Monate aufgebrummt bekommen. Die Stasi braucht ihn noch. Zwar will sie ihn kirremachen, nicht aber psychisch oder gar physisch zugrunde richten.
Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung darf er sogar Physik studieren und zu konspirativen Treffs mit der Vorhut der Arbeiterfaust erscheinen. Das alles erfahre ich von ihm persönlich. Aber ob er tatsächlich zu dem geworden ist, wozu man ihn kneten wollte, ist ungewiss, seine Spur verliert sich 1969, als ich schon seit einem Jahr in Budapest lebe.
Die Politischen sind eine verschworene Gemeinschaft, Freunde. Spitzel in unseren Kreis einzuschleusen, so glauben wir, sei ein Ding der Unmöglichkeit. Nach endlosen Gesprächen unter jeweils vier Augen meinen wir, selbst in die geheimsten und dunkelsten Winkel des anderen vorgedrungen zu sein. Spitzel, davon sind wir überzeugt, gibt es nur unter den Kriminellen und denen, die nach wie vor am Rockzipfel der Mutter Partei hängen.
Kriminelle und Hundertfünfzigprozentige haben keine Chance, in unseren illustren Kreis aufgenommen zu werden, zu dem auch ein Kapellmeister aus Neustrelitz, und ein Fabrikantensohn aus dem Westen gehören, der vor der Bundeswehr in den Osten geflüchtet ist.
Ich ertappe mich dabei, den elegant wirkenden Brillenträger mit den glatt nach hinten gekämmten dunkelblonden Haaren, der irgendwie ein besonderes Fluidum ausstrahlt, das eines weit gereisten Westlers aus reichem und vornehmem Hause, ein wenig um seine Kindheit und Jugend zu beneiden, nicht zuletzt auch darum, dass ihn sein Vater nach Verbüßung der Haftstrafe nicht länger in der Russenzone schmoren lassen werde. So wenigstens sei es ihm in einem verklausulierten Brief versprochen worden. Das werde seinen Alten eine schöne Stange Geld kosten, fünfzig- bis hunderttausend würden sicher über den Tresen gehen, doch das störe ihn, den Sohn, wenig, das müsse er seinem Vater schon wert sein. Schließlich hätte der ihm, nachdem er die Nase vom Osten gestrichen voll gehabt habe, einen falschen Pass besorgen können, dann wäre er nicht erwischt worden, als er versucht habe, über die Mauer zu klettern, um sein Ingenieurstudium in Darmstadt fortzusetzen.
So einen Vater hätte ich auch gern gehabt.
Insgeheim mache ich mir Hoffnungen, mit Hilfe von Walter einen Weg in den Westen zu finden, um dem ungeliebten Land den Rücken zu kehren. Der geforderte Kadavergehorsam und die Kriminalisierung des Denkens machen mir das Leben in der DDR unerträglich. Dennoch weiß ich nicht wirklich, ob ich tatsächlich in den Westen will, ob ich mich in einer Welt der Freiheit und Belanglosigkeiten wohlfühlen würde.
Als ich mir wenige Monate vor der Inhaftierung am Deutschen Theater in Berlin den Don Carlos ansehe, gibt es an der Stelle, als Marquis Posa von König Philipp in stürmisch romantischer Verklärung fordert: Sire, geben Sie Gedankenfreiheit, nicht enden wollenden Szenenapplaus. Die da geklatscht haben, das sind meine Leute, zu ihnen fühle ich mich hingezogen. Im Westen, wo es Gedankenfreiheit gibt, würde man diese Stelle vielleicht gar nicht als einen der Höhepunkte in Schillers Drama begreifen.
Die wenigen Westler, die ich kenne, kommen mir alle überheblich vor. Bei Licht besehen, verhält es sich auch mit dem Fabrikantensohn nicht anders. Der Geruch des Geldes und die Weltgewandtheit machen ihre Überlegenheit aus, während Mauer und Stacheldraht die Ostler nicht nur hier im Lager zu Tölpeln abstempeln, denen von einem Stiefvater mit Zuckerbrot und Peitsche der nötige kindliche Respekt eingeflößt wird.
Aber Stiefkinder verbünden sich insgeheim gegen den Stiefvater, kapseln sich ab, werden aufmüpfig, führen ein Doppelleben. Die hier im Osten sind hochsensibel und trotz allem eigentlich reicher als ihre Brüder und Schwestern im Westen. Manch einen Ostler macht die Schizophrenie kaputt. Andere entziehen sich ihr, indem sie sich unwillig zeigen, zwischen Denken und Handeln, zwischen Fühlen und Sprechen einen Unterschied zu machen.
Gleich