Andersfremd. Hans-Henning Paetzke

Andersfremd - Hans-Henning Paetzke


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könnten die scharfen Hunde, die Tag und Nacht zusätzlich zu den Posten auf den Wachtürmen in den Laufkorridoren patrouillierten und nur auf eine zusätzliche Fleischration warteten, leicht zerfetzen.

      Nach einem Duschbad verlieren die Strafgefangenen ihre bürgerliche Identität. Kleidung und Namen sind in der Effektenkammer abzugeben. Stattdessen erhalte ich Sträflingskleidung mit gelben Streifen, worin ich mich fast wie ein General fühle, und eine Nummer, die ich von nun an sein werde: 724/3, genauer: 724/63.

      Wenn ich von einem Erzieher, so nennen sich die Bewacher, etwas will, dann habe ich militärisch strammzustehen und Meldung zu erstatten: „Strafgefangener 724 aus 3 meldet!“

      Die Häftlinge sind in fünf Schlafbaracken mit jeweils etwa siebzig dreistöckigen Betten untergebracht. Haftarbeitslager wird das Freiluftgefängnis genannt, dessen Ähnlichkeit mit Buchenwald mich verblüfft, auch wenn die Inschrift „Jedem das Seine“ fehlt und es nicht als Konzentrationslager bezeichnet wird, was es ja eigentlich durchaus ist. Allerdings verbindet sich mit letzterem Begriff der in allen Ecken lauernde Tod. Der Tod in Schwarze Pumpe ist keineswegs allgegenwärtig. Ein nicht zu übersehender Unterschied! Aber der Lagergrundriss erinnert an die „Frommen in der Hölle“, wie einer ihrer Leidensgenossen die nach Buchenwald verbrachte Geistlichkeit nannte, die sich bei Hitler unbeliebt gemacht hatte.

      So ein Frommer, der sich einem Diktator widersetzt, will auch ich sein, weshalb ich kein Fleisch esse und zu den manchmal kargen Mahlzeiten inbrünstig bete und Gott für all das, was er mir Gutes getan, danke, aber auch für die Heimsuchungen, die ich zu ertragen habe.

      Im riesigen Speisesaal, in dem es Platz für tausend Gefangene gibt, befindet sich auch ein Kiosk. Wöchentlich einmal darf man für ein paar lumpige Mark, die einem für seine Arbeit gezahlt werden, einkaufen. Angeboten werden Zigaretten, Seife, Florena-Creme, in Anlehnung an die westdeutsche Niveacreme in einer blau-weißen Dose, Zahnpasta und Kekse. An Zigaretten steht dem Strafgefangenen pro Einkauf nur eine Schachtel zu. Aber wenn du Walter, den Chef des Einkaufs kennst, verlieren die restriktiven Anordnungen der Knastoberen ihre Wirkung.

      Walter ist neben dem Lagerältesten der mächtigste Mann unter den Gefangenen. Außer dem Kiosk verwaltet er, gemeinsam mit einem in Ungnade gefallenen Stasimann, die gesamte Gefangenenkartei.

      Die Bewacher, die mit dem Schreiben schon in ihrer Schulzeit Schwierigkeiten hatten, delegieren gern all den schriftlichen Kram, der ihnen wenig Freude bereitet und höchstens Kopfschmerzen macht. So kommt es, dass Walter in der Schreibstube sitzt und über die Neuzugänge genauestens informiert ist, vor allem über das Strafmaß. Meist weiß er sogar, wer unter den Häftlingen ein Politischer und wer ein Krimineller ist. Selbst Wühlmäuse, die als Politische eingeschleust werden und als Spitzel fungieren sollen, erkennt er an verdächtigen Lebensläufen und warnt vor ihnen.

      Walter, dessen blaugraue Augen immer strahlen und alles zu durchschauen scheinen, dessen blondes Haar glatt nach hinten gekämmt ist und der selbst in seiner stets akkurat sitzenden Sträflingskleidung, die vom Maßschneider kommen könnte, wie ein Erbe aus reichem Haus wirkt, hüllt sich in einen dichten, aus Geheimnissen gewebten Schleier. Es heißt, er habe Menschen von Ost nach West geschleust und stecke familiär in Schwierigkeiten.

      Neunzehn Jahre älter als ich, könnte er fast schon Enkel haben, zumindest dann, wenn er ähnlich früh wie ich einem süßen Leben gefrönt hätte. Allein schon wegen des erheblichen Altersunterschieds besteht zwischen uns ein gewisser Abstand, der Fremdheit bei gleichzeitigem Zutrauen und Respekt bewirkt.

      Das Verbindende zwischen uns mag darin bestehen, dass wir beide eine Rolle zu spielen versuchen, der wir nicht in allen Punkten gewachsen sind. Die Rollen – er die des Partisanen, der der sozialistischen Staatsmacht unter den wachsamen Blicken der Stasi die Stirn bietet, ich die des Frommen – spielen wir mit wechselndem Erfolg. Doch wir führen ein Doppelleben, bekennen uns nur zu der einen Seite unseres Lebens.

      Noch weiß ich kaum etwas von Walter. Lichte Berggipfel und finstere Abgründe liegen dicht beieinander.

      Seit drei Monaten bin ich Vater einer Tochter, und die Geburt des zweiten Kindes soll in einem Monat erfolgen.

      Ich habe das Gefühl, gute Gründe zu haben, mit meinen Erfolgen beim schwachen Geschlecht nicht zu prahlen. Der kaum beherrschbare Geschlechtstrieb will mit dem Drängen nach Gottes Nähe nicht zusammenpassen. Ich trage eine Maske, spiele den romantisch verklärten Jüngling, der reinen Gewissens über den Dingen steht. Mein in Wirklichkeit schlechtes Gewissen ist offensichtlich das protestantische Element in mir, der Anspruch, mit all meinen Taten vor Gott bestehen zu wollen, für all mein Tun verantwortlich zu sein. Ein unerfüllbarer und deshalb unmenschlicher Anspruch, der bei vielen zu Verlogenheit, seelischen Erkrankungen und Selbstmord führt. Walter schanzt mir entgegen den Vorschriften erhöhte Zigarettenrationen zu. Binnen weniger Tage bringt er mich mit einer kleinen Gruppe von politischen Strafgefangenen zusammen. Die acht Stunden Gleisbau in einer Brigade, der ich zugeteilt worden bin, erscheinen mir plötzlich weniger schlimm als in den ersten Tagen, als ich dachte, die Last der Schwellen und Schienen würde meine Kraft übersteigen.

      Im Bericht eines Freundes über ein KZ der Nazis steht zu lesen, dass die Schwellen von einem Erwachsenen und einem Halbwüchsigen zu zweit geschleppt werden mussten. Die beiden seien unter der Last schier zusammengebrochen und hätten Übermenschliches geleistet. Der Lehrer hat die Strapazen und Schikanen der SS nicht überlebt, der Vierzehnjährige dagegen, der 1945 von den Amerikanern befreit worden ist und mehr als drei Jahrzehnte später, nachdem er der kommunistischen Partei wegen einer allmählich sich einstellenden Gottgläubigkeit den Rücken gekehrt hat und nach Israel gegangen ist, hat in einem bewegenden Buch versucht, seine schreckliche Vergangenheit aufzuarbeiten.

      Die sozialistischen Strafgefangenen tragen die Schwellen, die um die vier Zentner wiegen mögen, zu viert. Vorn und hinten werden die Tragezangen zu beiden Seiten von je einem Gefangenen umklammert. Auf Kommando wird die Schwelle angehoben. Gewitzte Kriminelle, seit Jahren Profis im Gleisbau, wissen genau, wie sie sich im welligen Gelände zu bewegen haben, damit sich die Last überwiegend auf nur zwei der Träger verteilt. So manches Mal, wenn ich unter dem plötzlichen Gewicht die Zähne zusammenbeiße, spüre ich, dass die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit erreicht sind.

      Todesangst habe ich keine. Nur das Gefühl der Ohnmacht, das Gefühl des Ausgeliefertseins, erinnert mich an die Schilderung des Freundes. Zwei Posten, bewaffnet mit Maschinenpistolen, stehen auf einem Hügel und bewachen die Verbrecher. Sollte sich einer von ihnen zur Flucht entschließen, würde er nicht weit kommen. Die Kugeln aus den MPs oder die Wachhunde würden ihn schnell einholen und stoppen.

      Zur Arbeit werden wir nicht von den Posten angetrieben, das besorgen die Brigadiers. Mein Brigadier, ein rothaariger, sommersprossiger Wichtigtuer, ein ehemaliger Leutnant der NVA, etwa vier bis fünf Jahre älter als ich, hat es auf mich besonders abgesehen, schikaniert mich, wo er nur kann, teilt mich zu den schwersten Arbeiten und zum unangenehmsten Trupp ein.

      Als ich mich über die Schikanen des rothaarigen Ex-Leutnants bei meinen neuen Freunden beklage, holen die Erkundigungen ein, um zu überlegen, wie sie den Brigadier dazu bewegen könnten, sich anständiger zu verhalten.

      Wie ich von Walter erfahre, muss er auch bei der Armee für seine Brutalität berüchtigt gewesen sein. Aber in Ungnade gefallen ist er nicht deshalb, sondern wegen seiner schrägen Neigungen, die er gelegentlich ausgelebt haben soll. Jedenfalls soll er sich an einem Muschkoten, den er sich zuvor durch unmenschlichen Drill gefügig gemacht hatte, vergangen haben. Derartiges duldete die Moral der Truppe nicht, und der Paragraf 175 schrieb eine Ahndung solcher Verirrungen zwingend vor.

      Der freundliche Hinweis, dass die Hintergründe, die zu seiner Verhaftung geführt hätten, genauestens bekannt seien, und dass es ihm sicher nicht angenehm sein würde, im Lager als Hinterlader enttarnt zu werden, führt dazu, dass ich von nun an dessen Menschlichkeit zu spüren bekomme. Wunschgemäß verhilft er mir sogar dazu, einer anderen Brigade zugeteilt zu werden.

      Ähnlich wie der Lagerälteste genießt auch der Rothaarige das Vertrauen der Erzieher, für die er nur ein verirrtes Schaf ist, einer der Ihren, der sich lediglich ungebührlich benommen hat und nun eine Weile in der Ecke auf Erbsen knien muss, von wo er bald wieder hervorgeholt


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