Andersfremd. Hans-Henning Paetzke

Andersfremd - Hans-Henning Paetzke


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Ihn solle ich aufsuchen. Er könne mir mit Rat und Tat zur Seite stehen. Auch wenn ich ins Predigerseminar aufgenommen werden wolle, sei der Prediger der richtige Ansprechpartner.

      Dem Prediger in Bautzen gefiel mein Vegetariersein. Allerdings machte er mich darauf aufmerksam, dass ich die Verweigerung nur halbherzig betriebe, eigentlich dürfte ich auch keinen Fisch, keine Eier und keinen Käse essen und auch keine Milch trinken.

      Der Prediger, dessen Frau und fünf kleine Kinder einen Rahmen bildeten, wie er einst in der protestantischen Kirche mit dem Pfarrhaus als Lebens- und Kulturzentrum der Gemeinde heimisch gemacht worden war, führte, so hätte man vor hundert Jahren gesagt, ein gottgefälliges Leben. Er war ein ruhiger und angenehmer Mensch, ein aufmerksamer Zuhörer.

      Als Autoschlosser war er sehr beliebt gewesen. Sein Problem hatte darin bestanden, dass er als Adventist nicht bereit war, am Sabbat zu arbeiten. So führte ihn, der alles andere als der Typ eines Intellektuellen, eines Theologen oder Wissenschaftlers war, sein Weg fast zwangsläufig ins Predigerseminar.

      Einzig das Pfarrhaus fehlte. Stattdessen gab es eine beengte Wohnung, in der nicht nur ich als Besucher willkommen war. Abends nahm mich der bärenstark wirkende Prediger auf seinem Motorrad mit nach Löbau, wo er in einem Saal seiner Gemeinde eine Bibelstunde hielt.

      Während ich in den Beiwagen kletterte, stülpte er sich eine russische Fliegermütze über und setzte eine Motorradbrille auf. Auch im Winter bei spiegelglatter Straße fuhr der Prediger in diesem Gespann über die Dörfer, um seine Schäfchen zu betreuen.

      Der Besuch bei den Adventisten verleitete mich zum Heucheln. Alle waren so schrecklich nett. Obwohl ich die naiv anmutende Bibelbetrachtung nicht verinnerlichen konnte, täuschte ich tiefe Frömmigkeit vor. Dabei überzeugten mich die vermittelten Glaubensinhalte keineswegs. Vielmehr hatte mich die Atmosphäre des Zusammengehörigkeitsgefühls, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte, in ihren Bann gezogen.

      Der Prediger lud mich ein, ihn bald wieder zu besuchen. Dann werde man sehen, ob ich geeignet sei, in seine Fußstapfen zu treten.

      Noch wusste ich nicht, weshalb ich mich mit dieser christlichen Sekte nicht anfreunden konnte. Wahrscheinlich war es die geistige Enge, die mich nicht nur bei den Adventisten befremdete, sondern bei den anderen christlichen Glaubensgemeinschaften ebenso wie an der Weltkirche des Marxismus.

      Im Laufe der folgenden Jahre, in denen ich mich auf dem nie enden wollenden Weg zur Wahrheit befand, entdeckte ich das Alte Testament als eine abendländische Glaubensquelle, die ich in ihren Grundzügen anzunehmen bereit war. Von der christlichen Kirche fühlte ich mich betrogen, hatte sie mir doch vorgemacht, dass Altes und Neues Testament eine Einheit bildeten und, so meinte ich, verschwiegen, dass das Neue Testament ein Werk begabter Epigonen sei.

       Lichte Berggipfel und finstere Abgründe

      Anfang Oktober 1963 etwa darf ich erneut mein Bündel schnüren und es mir in einer grünen Minna zusammen mit siebzehn weiteren Strafgefangenen auf Holzbänken bequem machen. Handschellen werden uns keine angelegt. An den beiden Bankenden vor der hinteren Tür sitzen zwei Vopos mit Maschinenpistolen, wie um zu unterstreichen, dass Fluchtgedanken besser in das Reich der Träume zu verbannen seien.

      In der Mitte der Ladefläche befindet sich ein Loch, das ins Visier zu nehmen ist, um die Notdurft zu verrichten. Trotz höchsten Dranges bin ich unfähig, mich während der Fahrt über schadhafte Landstraßen zu erleichtern. Als vor dem Senftenberger Gefängnis endlich ein Zwischenstopp eingelegt wird, kann ich das Wasser fast nicht mehr halten. Die Wut über die Erniedrigung macht mich rasend. Ich schreie die Bewacher an, ich bestünde darauf, sofort eine Toilette aufsuchen zu dürfen. Sollten sie meiner Aufforderung nicht nachkommen, würde ich einen Riesenskandal machen und mich beschweren.

      Zu meiner großen Überraschung fragen mich die Bewacher, weshalb ich einsäße. Meine Antwort, die darauf schließen lässt, dass ich ein Politischer bin, verfehlt ihre Wirkung nicht, auch wenn jeder Gefängniswärter in Seminaren gelernt hat, dass es in seinem Staat keine politischen Gefangenen gibt, Kriminelle leider ja, aber auch das sei nach offizieller Meinung ein Problem, das nach Abschluss des sozialistischen Aufbaus nicht mehr existieren werde.

      In Begleitung eines Bewachers, der seine Maschinenpistole über die Schulter gehängt trägt, wohl um mich nicht auf dumme Gedanken kommen zu lassen, darf ich als einziger Häftling des Transports eine Toilette aufsuchen.

      Mein hysterischer Wutausbruch hat sich gelohnt. Ein wenig peinlich aber ist es mir schon, denn die Drohungen, die internationale Öffentlichkeit auf die Verhältnisse im DDR-Strafvollzug aufmerksam zu machen, hätte ich schwerlich einlösen können.

      Die Fahrt ins Ungewisse geht weiter. Ich habe keine Ahnung, welche die vorläufige Endstation sein wird. Jemand, der schon mehrere Strafen abgesessen hat, meint, wir steuerten das Haftarbeitslager Schwarze Pumpe an, das bei Spremberg gelegene sorbische Čorna Pumpa, mit 14.000 Beschäftigten das größte Braunkohlenkombinat der DDR. Im Tagebau wird hier Braunkohle abgebaut. Um das Schienennetz des Kombinats in Schuss zu halten und zu erweitern und überhaupt, um die Industrialisierung des Sozialismus voranzutreiben, braucht es viele Arbeitskräfte. Um Planung und Lenkung des Arbeitskräfteflusses zu erleichtern, sind die Reserven der kriminellen Heerscharen eine nicht zu unterschätzende Hilfe.

      Überall im Land wird der Archipel Gulag ausgebaut, eine, mit der Verbannung nach Sibirien, zaristische Erfindung, die unter der genialen Führung des weisesten aller Führer, eines ehemaligen Klosterschülers und Posträubers, eines Massenmörders, weiterentwickelt worden ist und ihre wirkliche Blütezeit erlebt hat.

      Von all dem aber weiß ich damals nichts, höchstens spüre ich die mit dem Eingesperrtsein verbundene Ohnmacht, die Ohnmacht des im Käfig allmählich wahnsinnig werdenden Tigers.

      Jawohl, wir fahren tatsächlich nach Čorna Pumpa. Werden von einem feisten Lagerältesten empfangen, der Sträflingskleidung trägt und sich aufspielt, als sei er der Lagerkommandant persönlich. Dabei ist er nur ein Kapo mit weitgehenden Befugnissen. Mir aber flößt er Angst und Respekt zugleich ein. Seine rundliche Gestalt und das rötlich aufgedunsene Gesicht deuten darauf hin, dass der ehemalige Major der Nationalen Volksarmee schon bessere Zeiten gesehen hat.

      Ohne dass er angesichts seiner Immunität gegenüber literarischen Werken jemals gefährdet gewesen wäre, Figuren eines verlockenden Offizierslebens aus einschlägigen Romanen der Weltliteratur zu kopieren, hatte er nach dem Dienst einem Leben gefrönt, wie es der sozialistischen Moral keineswegs entsprach. Zusammen mit anderen kampferprobten Genossen ließ er junge Mädchen nackt auf Tischen tanzen, um sich anschließend an ihnen zu vergehen.

      Als gutem Soldaten und Genossen hätte ihm die Partei diese feudalistisch-bürgerlichen Ausschweifungen vielleicht nachgesehen oder gar verziehen, hätte er nicht die Dummheit begangen, die fünfzehnjährige Tochter eines Parteisekretärs aus der Stadt betrunken zu machen und zur allgemeinen Freude seiner Kampfgefährten gleichfalls auf dem Tisch tanzen zu lassen.

      Präziser formuliert, die mit derartigen Verfehlungen befassten Organe hätten aus Kameraderie vielleicht so getan, als wüssten sie nichts vom wüsten Leben ihres Genossen. Aber die Empörung des in Mitleidenschaft gezogenen Parteisekretärs ließ eine diskrete Regelung der Angelegenheit nicht zu.

      Viele Jahre später ging er, der nach verbüßter Haftstrafe wieder ein nützliches Mitglied der sozialistischen Gesellschaft geworden und sogar zum Studium delegiert worden war, als diplomierter Psychologe ganz in seinem Beruf und in seiner Familie auf. Beim MfS, dem Ministerium für Staatssicherheit, bildete er Stasinachwuchs in der Kunst aus, Informanten anzuwerben. Nach der Wende verstand es sich von selbst, dass er nach eigenen Angaben seinen hehren Dienst im Interesse der Menschheit einzig zwecks Verhinderung von Schlimmerem geleistet hatte.

      Jetzt nun hält der Respekt einflößende Lagerälteste im Namen der Lagerleitung eine kurze Ansprache, in der er die Neuzugänge auffordert, durch gute Arbeit im Tagebau unter Beweis zu stellen, dass sie wieder nützliche Glieder der Gesellschaft werden und auf diese Weise dem Umerziehungsprozess zu vollem Erfolg verhelfen wollen. Wer sich einer Umerziehung in den Weg stelle,


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