Andersfremd. Hans-Henning Paetzke

Andersfremd - Hans-Henning Paetzke


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Innerlichkeit zurückgezogen, in ein Glück im Winkel. Diese Nestwärme könnte es sein, die mich daran gehindert hat, ein Abenteurer zu werden und wegzugehen, als es noch möglich gewesen wäre.

      Eines Tages aber wirst du flügge und willst das Nest verlassen, verzichtest auf die Nestwärme, möchtest den Rahmen deines Schicksals nicht mehr fremdbestimmen lassen. Der eine bahnt sich mit Waffengewalt den Weg in die vermeintliche Freiheit, scheut selbst vor einem Mord nicht zurück, oder geht mit bloßen Händen gegen brutale Waffengewalt vor, der andere versucht, auf verschlungenen Pfaden ans Ziel zu gelangen oder meint, es müssten auch ein paar Anständige im Land bleiben, und wieder ein anderer glaubt gar, er und der Arbeiter- und Bauernstaat seien eins, die Demokratien des Westens seien des Teufels, oder aber ihm fehlt die Kraft, Veränderungen anzustreben, weshalb er sich zum Mitläufer hat machen lassen, der leicht Täter oder Opfer werden kann.

      Ich will weder Mitläufer noch Wegläufer sein, weder Opfer noch Täter, ich kann mich von der Erinnerung an meinen Großvater und meine arische Großmutter mit dem polnisch-jüdisch klingenden Namen nicht befreien. Selbst als das Leben des einen Sohnes an der Front durch einen Kopfschuss endet, loben sie den Herrn, der für sie Hitler heißt. Diesen Tod verklären sie und nehmen ihn als Opfer auf dem Altar des Deutschtums an. Er macht sie nicht bitter. Fast könnten sie in den Verdacht geraten, ähnlich gottesfürchtig wie Abraham zu sein, der bereit ist, Gott seinen Sohn Isaak zu opfern, oder Hiob, der die über ihn gekommenen Plagen klaglos erträgt, wäre da nicht das ihrer Meinung nach unwerte Leben Andersrassischer, wären da nicht die Täterrolle des Großvaters und das Hurragebrüll der Großmutter.

      Die Erinnerung an die Scheußlichkeiten, deren sich meine Großeltern begeistert schuldig gemacht haben, kann ich nur ertragen, indem ich keinem einzigen Ismus eine Chance gebe, mich zu besetzen.

      Weder für den Sozialismus noch für den Kapitalismus, weder für den Katholizismus noch für den Judaismus, für nichts und niemanden bin ich bereit, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Will ich ein höheres Lebewesen sein als ein Tier, dann kann ich die Anforderungen an mich selbst nicht niedriger ansetzen.

       Knastologenaristokratie

      Der Kapellmeister mag den Fabrikantensohn nicht so recht. Warum, weiß er selbst nicht. Vielleicht mag er Grenzgänger nicht, die mal auf der einen und mal auf der anderen Seite der Grenze ihren idealen Lebensmittelpunkt gefunden zu haben glauben.

      Er kennt Leute aus den fünfziger Jahren, die ihr Mobiliar kurz und klein geschlagen haben, um dann darauf ihre Notdurft zu verrichten, bevor sie sich in den Westen abgesetzt haben. Nachdem sie im Goldenen Westen überrascht feststellen mussten, dass sie weitestgehend auf sich selbst gestellt waren, dass Eigeninitiative gefragt war, um sich im Überlebenskampf zu behaupten, kamen sie nach wenigen Monaten reumütig in ihre Heimatstadt zurück, um sich eine Wohnung zuweisen und in der Zeitung als vom Kapitalismus enttäuschte Helden feiern zu lassen.

      Der Kapellmeister hat es versucht, er wollte in dem Land bleiben, in dessen Städten der Geist Goethes und Schillers, Bachs und Händels wehte. Aber die Zeiten hatten sich gewandelt, der Geist schien wie Schnee weggeschmolzen zu sein. Die Kunst in der DDR wurde gegängelt, an einer Hundeleine gehalten, die sich mal auf zwanzig Meter abspulen ließ, mal die kalte Hand des Hundehalters im Genick zu spüren bekam. Obwohl die Freiheit in der Musik, im Musiktheater unverhältnismäßig größer zu nennen war als im Sprechtheater oder in der Literatur, wollte er kein Teil eines geknebelten Kulturbetriebs sein. Dass eine steile Karriere auch für ihn ohne Parteibuch nur schwer vorstellbar war, spielte bei seinem Entschluss, die DDR zu verlassen, fast schon eine untergeordnete Rolle. Es war einfach das Unbehagen, das er bei der ihn umgebenden eigenartigen Mischung von Begabung und Nicht-Begabung empfand, wenn die Begabten in ihrer Entwicklung behindert wurden, weil die Minderbegabten, denen die Partei den Rücken stärkte, den Wettbewerb zu ihren Gunsten zu entscheiden vermochten. Das Unbehagen war eines, das sich vordergründig zwar aus der ihm unsympathischen Politik herleitete, allein schon beim Anblick der Funktionsträger die Nackenhaare sträuben ließ, in Wirklichkeit aber ging es tiefer, rief einen Schmerz in ihm wach, den er auch beim Hören eines verstimmten Klaviers empfand. Die ständig falschen Töne waren es, die sein Gehör beleidigten, ihn nach dem Klavierstimmer, dem Menschenstimmer riefen ließen. Doch die waren der Taubstummheit verfallen, in Gefängnissen verschwunden oder rechtzeitig außer Landes gegangen.

      Seine Flucht in den Westen war längst schon gescheitert, noch bevor er sie überhaupt angetreten hatte. Der Fluchthelfer hatte zweimal kassiert, einmal von den Verwandten des Kapellmeisters im Westen und ein zweites Mal von der Stasi in Ostberlin. Ein halbes Jahr lang hatte die mit ihm Katz und Maus gespielt. Wohl im Glauben daran, dass das Fleisch mit zunehmender Todesangst schmackhafter sei. Falsche Kuriere bestellten ihn nach Ostberlin, um die Einzelheiten zu besprechen. Als es dann so weit war, musste er zweimal die Autos wechseln, die sich über holprige Landstraßen und Feldwege der Autobahn näherten. Der Rhythmus des Holperns kam ihm vor wie Erlkönigs hastender Reiter mit dem sich in Fieberfantasien schüttelnden Kind in seinem Arm. Er versuchte, die Angst zu verdrängen, stattdessen den dahinjagenden Klängen des Liedes nachzulauschen. Im dritten Wagen dann, einem umgebauten alten Buick, verkroch er sich hinter den Rücksitz, fühlte sich wie der fieberkranke Knabe, der in den Armen des Vaters schließlich gestorben war. Würde es am Ende auch ihm so ergehen? Würden ihn gar die Abgase töten wie einen Juden, dessen Leben die Nazis für überflüssig erklärt hatten? Nein, nein, schoss es ihm in seiner pränatalen Körperstellung durch den Kopf, die zweite Hälfte der besprochenen Summe würden die Schleuser ja nur für den lebenden Flüchtling bekommen.

      An der Grenze in Marienborn wurde das Automobil gründlich unter die Lupe genommen. Aber entdeckt wurde sein Versteck vorerst nicht.

      Doch da er erwartet worden war, wurde der Fahrer in aller sozialistischen Form und Höflichkeit gebeten, einem Fahrzeug der Staatssicherheit hinterherzufahren. In der nahegelegenen Kaserne dann wurde der Kapellmeister von Kfz-Spezialisten aus seinem Verlies befreit.

      Eine Befreiung freilich hatte er sich einige Kilometer weiter erhofft, nicht hier und nicht so, auch wenn ihm die endlich wieder möglich gewordene Bewegung der steifen Glieder wie eine Wohltat vorkam, die ihn fast die Angst vor dem, was nun unweigerlich kommen würde, vergessen ließ. Er konnte kaum vernünftige Gedanken fassen, dirigierte in Gedanken Beethovens Fünfte. Das Schicksal hatte sich Eintritt in sein Leben verschafft.

      Während er fröstelnd und zitternd darauf wartete, abgeführt zu werden, wurde er auf einen 300er Mercedes aufmerksam, dessen Nummernschilder sich nach dem Rolltreppenprinzip veränderten. Verwundert registrierte er verschiedenste westliche Kennzeichen, die er sich sogar hatte merken können, besaß er doch als Dirigent ein fotografisches Gedächtnis.

      Der Ansporn, Partituren auswendig zu lernen und die Technik, sie quasi zu fotografieren und als jederzeit aktivierbare Negative zu speichern, kam von seinem großen Vorbild, dem rumänischen Wunderdirigenten Sergiu Celibidache, den er noch zwischen 1945 und 1952 an der Spitze der Berliner Philharmoniker erlebt hatte.

      In der Schwarzen Pumpe gibt es ein verstimmtes Klavier, auf dem der Kapellmeister in den Abendstunden, wenn die Kulturgruppe zusammenkommt, um einen Tucholsky-Abend einzustudieren, klassische Musik erklingen lässt.

      Chopin macht mich sentimental. Ich versinke in der Welt berauschender Klänge, ein hauchdünner Tränenschleier versperrt mir die Sicht. Von unserem Klavierspieler höre ich zum ersten Mal im Leben den Namen Béla Bartók. Auch er sei aus seiner Heimat weggeekelt worden und noch schlimmer, er sei im amerikanischen Exil gestorben, ohne die geliebte Heimat je wiedergesehen zu haben.

      Bartóks Mikrokosmos ist ein ungewohntes und frappierendes Hörerlebnis. Wie elektrisiert lausche ich dem melodisch hämmernden Rhythmus, einer Musik, die mir eine geniale Verschmelzung von Klassik und Moderne zu sein scheint, ohne dass ich freilich in der Lage wäre, meinen Eindruck durch musiktheoretische Kenntnisse zu belegen, denn auf dem Gebiet der Musik bin ich ein blutiger Laie, zumal ich es bei meinen Klavierstudien nicht allzu weit gebracht habe. Hänschenklein und Ähnliches sind die Höhepunkte meines Repertoires. Noch schlimmer, die Struktur der Musik verschließt sich meinem Blick, höchstens nehme ich die metaphysische Ebene wahr. Die


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