Andersfremd. Hans-Henning Paetzke
stehe ihnen hilflos gegenüber wie jener Junge, den Kurt Tucholsky am Ende seines Familiendramas Wo kommen die Löcher im Käse her? mit gen Himmel ausgestreckten Armen ausrufen lässt: Aber ich möchte doch wissen, wo kommen die Löcher im Käse her?
In der Kulturbaracke zwischen Kommandozentrale und Speisesaal kommen wir an zwei Abenden in der Woche zusammen, wir, die Kulturträger des Lagers, wir, die wir gelegentlich ein Buch gelesen haben, ich sogar viele, wenn auch kunterbunt durcheinander, ohne inneren Bildungszusammenhang, fast wie Pawel aus Gorkis Mutter, der ohne Sinn und Verstand versucht, ein Lexikon auswendig zu lernen. In der Straßenbahn zwischen Dresden und Radebeul hatte ich damals tagtäglich ein bis zwei Dramen gelesen.
Eine wirklich fundierte Bildung besitzen aus dem Kreis nur drei: der Kapellmeister, Kurt und unser gemeinsamer Freund, der Bücherdieb, ein Libro-Kleptomane, der seinen Unterhalt aus dem Verkauf von gestohlenen Büchern bestritt, nachdem sich seine Eltern kurz nach dem Mauerbau, die Mutter im Rollstuhl, auf der Schwedenfähre von Saßnitz aus über den Umweg Schweden nach Westberlin abgesetzt hatten. Seit zwölf Jahren war die Mutter, die an Multipler Sklerose litt, nicht aus der Wohnung gekommen. Nun unternahm sie eine Reise übers Meer, um aus der Ostberliner Schonenschen Straße ein paar Straßen weiter nach Westberlin zu ziehen. Unseren Freund hatten sie zurücklassen müssen, hatten ihn aber später nachholen wollen. Doch dieses Vorhaben war fehlgeschlagen, so dass er sich auf intellektuell-kriminelle Abwege begeben musste, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Da er nichts gelernt, auch die Oberschule nicht beendet hatte und von körperlicher Arbeit nicht viel hielt, war ihm nichts anderes eingefallen, als seine Leidenschaft, unauffällig und unentgeltlich Bücher zu sammeln, in existenzsichernde Bahnen zu lenken. Von nun an stahl er von jedem Titel wenigstens zwei Exemplare, eines für seine ständig wachsende Privatbibliothek und eines, um es zu verhökern.
Wenige Augenblicke genügen ihm, um den Standort der lohnendsten Objekte festzustellen, denen er dann, um nicht aufzufallen, den Rücken zukehrt. Er, schwarz gelocktes Haar, bräunlicher Teint, Grübchen in den Wangen, immer ein Lächeln auf den Lippen, schlank, schlaksige Bewegungen, mit einem Wort, ein netter Junge von nebenan, mit dem über Bücher sich zu unterhalten ein Genuss ist, denn er ist belesen wie selten jemand in seinem Alter, er, der zwei oder drei Jahre älter ist als ich, verwickelt die freundlichen Buchhändlerinnen in ein Gespräch, um schließlich in einem günstigen Moment die ausgespähten Trophäen an sich zu nehmen und freundlich grüßend das Geschäft zu verlassen.
Kurt, der tapsige Bär, der schlesische Schwejk, der traurige Clown, er ist meine Universität, füttert mich mit Büchern und Namen bekannter Autoren, von denen ich aus seinem Mund zum ersten Mal höre. Kurt ist mein Lehrer, mein Freund, mein Vater und mein Beichtvater. Mit ihm philosophiere ich über Gott und die Welt, über Politik, Literatur, die menschliche Existenz, das Sein in Gott, über das eigene klägliche Versagen in der Beherrschung meines triebhaften Wesens. In Kurts Gegenwart komme ich mir recht klein vor. Dennoch brauche ich jemanden, dem ich mich anvertrauen kann, die Last der Verantwortung gegenüber zwei kleinen Kindern ist zu schwer, als dass ich sie allein tragen könnte.
Einen Tag nach John F. Kennedys Ermordung, von der wir aus den Nachrichten des Lagerfunks erfahren, vertraue ich mich im Vorraum der Baracke 3 Kurt an. Das Rätselraten über die Hintergründe des Mordes an Kennedy lässt eine Stimmung aufkommen, in der ich das Bedürfnis verspüre, mein Gewissen zu erleichtern. Wir tappen im Dunkeln. Wer steckt hinter dem Attentat? Sicher werden die Geheimdienste der Welt jetzt ein Lügengebäude errichten, um so die unabhängigen Medien in die Irre zu führen. Ich bin verwirrt. Wild schwirren die Spekulationen durch meinen Kopf. Ich sinne über die Verantwortung für Leben und Tod der anderen nach, über die eigene Verantwortung für gerade entstandenes Leben.
Kurt versichert mir, mich sehr gut zu verstehen. Ich aber glaube, dass Kurt in Wahrheit entsetzt darüber ist, dass sich hinter meiner vorgegebenen Frömmigkeit abgrundtiefer Leichtsinn verbirgt. Kurt behauptet, gleichfalls schon so manches Abenteuer bestanden zu haben. Seine Geschichte mit einer Pfarrerstochter, die er auf dem Schreibtisch des Superintendenten vernascht habe, der inzwischen Bischof geworden sei und sich für die Kassation des Urteils eingesetzt habe, scheint mir unglaubwürdig zu sein. Manchmal denke ich, Kurt habe die Geschichte nur erfunden, um aufzuschneiden oder dem Gespräch eine komische Wende zu geben, um meine quälenden Schuldgefühle zu lindern. Und natürlich entbehrt die Vorstellung vom korpulenten und nicht gerade sportlich zu nennenden Kurt mit der Pfarrerstochter auf dem Schreibtisch liegend nicht der Komik.
Als ich mein Gewissen bereits erleichtert habe und versuche, mich aus den Verstrickungen selbstanklagender Beichte durch Themenwechsel zu lösen, entdecke ich vor dem Fenster die neugierigen Blicke unseres Spezialfreundes, des Oberwachtmeisters Fensterschreck, wie wir ihn nennen, weil er die Gabe besitzt, immer dann am Fenster aufzutauchen, wenn sich in der Baracke Dinge abspielen, die gegen die Lagerordnung verstoßen. Angst haben wir keine vor ihm, obwohl der Aufenthalt in einer anderen Wohnbaracke als der eigenen strengstens verboten ist.
Wir können uns des Verdachts nicht erwehren, dass er um die Freundschaft der ihm anvertrauten Strafgefangenen buhlt oder aber, dass ihm zumindest daran liegt, von der Knastologenaristokratie, zu der die Politischen seines Erachtens gehören, Anerkennung zu ernten. Nachdem er sich in langen Tiraden über meine laxe Haltung gegenüber der Lagerordnung ergeht, gipfeln die Vorhaltungen des Erziehers darin, dass er betont, mich, den Strafgefangenen 724 aus 3, um nichts sonst als um meine Redegabe zu beneiden. Und im Übrigen studiere nicht nur er, der Genosse Erzieher, Pädagogik, sondern auch seine Frau habe sich dem Studium der Pädagogik gewidmet. Besonders einprägsam ist seine ungewöhnliche Betonung des Wortes Pädagogik auf der letzten Silbe. Es will scheinen, als wolle er den Eindruck erwecken, dass er des Griechischen mächtig sei und dies durch die Betonung auf der letzten, der deutschen, Silbe unterstreichen wolle.
Die gute und angenehme Gesellschaft, in der ich mich hier befinde, kann dennoch nicht vergessen machen, dass ich eingesperrt bin, kann nicht die scharfen Hunde im Laufgang zwischen den beiden Zäunen vergessen machen, wovon einer unter Strom stehen soll, kann nicht die Wachtürme vergessen machen, die Tag und Nacht von Posten mit Maschinenpistolen besetzt sind, kann nicht die Wachen mit Maschinenpistolen über der Schulter und Hunden an der Leine vergessen machen, die beim Appell hinter den Strafgefangenen stehen, um die militärische Einhaltung der Ordnung zu sichern, kann nicht die vielen kleinen und größeren Unannehmlichkeiten vergessen machen, denen ich durch die Feindseligkeiten der Kriminellen ausgesetzt bin, mit denen ich Tisch und Etagenbett teile, kann nicht vergessen machen, dass, wenn auch mit geringem Erfolg, versucht wird, uns einer Gehirnwäsche zu unterziehen.
Als sich ein schlecht vorbereiteter und stotternder Redner im Speisesaal erkühnt, die Strafgefangenen in Marxismus-Leninismus zu unterweisen, verlasse ich empört und angewidert den Saal. Als Einziger. Der Redner hört auf zu stottern, starrt entsetzt in den Saal, hat Angst, dass sich weitere Strafgefangene von ihren Plätzen erheben und das Ungeheuerliche wagen, meinem Beispiel folgen könnten. Die Mitgefangenen triumphieren innerlich, dass einer von ihnen sozusagen symbolisch für alle das tut, was auch sie gern tun würden.
Draußen werde ich von einem Erzieher, der in kluger Voraussicht vor dem Saal Posten bezogen hat, nach meinen Beweggründen für das vorzeitige Verlassen der Religionsstunde befragt und ob ich nicht bereit sei zurückzugehen. Bin ich nicht. Mein aufmüpfiges Verhalten, das schon meine Mutter zu Beanstandungen veranlasst hat, verschafft mir im Lager den Ruf von Unerschrockenheit. Auch meine ungewöhnliche Eingabe, in der ich beantrage, mir das Lateinlehrbuch und die Bibel aus meinen Effekten auszuhändigen und dafür Sorge zu tragen, dass ich im Zuge der verfassungsmäßig garantierten Freiheit der Religionsausübung die Möglichkeit erhalte, einem sonntäglichen Gottesdienst beizuwohnen, nötigt den Mitgefangenen Respekt ab, auch wenn sich dem gelegentlich ein Anflug von Lächeln beimengt.
Die Lagerleitung hüllt sich in Schweigen.
Bei einer Gelegenheit, als meine Brigade am Wochenende unter scharfer Bewachung zu einem Ernteeinsatz auf ein Feld in der Umgebung gefahren wird, habe ich einen Brief bei mir, in dem ich meinem väterlichen Freund, einem Pfarrer aus Löcknitz, ausführlich über das Lagerleben Bericht erstatte. In einem Moment, da ich mich unbeobachtet fühle, drücke ich den Brief einem gutmütig wirkenden Traktoristen in die Hand. Dessen ehrlich dreinblickende Augen scheinen mir zuzuraunen, dass das