Andersfremd. Hans-Henning Paetzke
Meta Pietraszewski, die mir viel von ihren Eltern hätte erzählen können und von ihren Großeltern, meinen Ururgroßeltern, die sich nach der von Hardenberg 1812 auf den Weg gebrachten Judenemanzipation nicht hatten entschließen können, sich taufen zu lassen. Und noch mehr hätte sie mir vermutlich von ihrem Mann, dem galizischen Großvater, erzählen können.
Unsere Toten leben in uns weiter. Meta Pietraszewski hat sich vor drei Jahren aus ihrer längst eingeebneten letzten Ruhestätte auf eine zweitletzte Reise nach Budapest begeben, um in ihrer Urenkelin Rachel Meta fortzuleben. Pest-Gohlis, eine Zusammensetzung aus Budapest und Leipzig, so heißt die Stadt meiner Geburt. Ihr bin ich in meinem Sein, das von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft eine Brücke schlägt, auf der meine Fantasie hin und her wandelt, engstens verbunden, sie ist meine Heimat.
Was ist Heimat? Ist Heimat nicht auch all das an Erlebtem, was dich belastet, was du gern verdrängen würdest? Sind nicht auch all die Orte deiner Kindheit, deiner Jugend Heimat, nicht all die Menschen, an die du dich gern erinnerst, weniger gern oder eigentlich höchst ungern? Ist Heimat nicht auch das, was du abgelehnt, worunter du gelitten hast? Und die Sprache? Sie setzt sich über alle erlittene Schmach hinweg. Lässt sich nicht abschütteln, ist deine Seelenhaut. Und wenn die Risse bekommt, setzen Atemstörungen ein, die zu Krankheit und Tod führen. Oder zu Seelenlosigkeit.
Gemeinsamkeit
Hager, blond oder vielleicht doch nicht wirklich blond: Marlene. IM Paris. Ausgerechnet dieses der Chemie zu verdankende Blond war mir aufgefallen. Ich war neunzehn und kannte mich in den Raffinessen, derer das weibliche Geschlecht fähig ist, noch nicht aus. Marlene sprach deutsch mit leichtem französischem Akzent. Dabei konnte sie gar kein Französisch. Noch acht Jahre zuvor war Deutsch für sie eine Fremdsprache gewesen. Französisch war so etwas wie ihre Muttersprache, die sie aber in den letzten Jahren vergessen hatte. 1940 in Paris geboren, im Exil der Eltern, die 1933 als Zwanzigjährige Deutschland den Rücken gekehrt hatten, war sie aufgewachsen wie eine Französin. Selbst zu Hause wurde französisch gesprochen. Deutsch, die Sprache der verhassten Nazis, war verpönt. Auch ihr Charme machte einer Französin alle Ehre. Nichts an ihr schien einer Deutschen, genauer gesagt einer Ostdeutschen, zu ähneln. Mit vierzehn kehrte sie in die Heimatstadt der Eltern zurück, um Französisch zu vergessen und lediglich den Akzent beizubehalten, Deutsch allerdings nie ganz fehlerfrei zu erlernen. Mit sympathisch hilflosem Lächeln versagte ihr die Zunge den Gehorsam, wenn es niemand vermutete. Gute Voraussetzungen für eine Bühnenkarriere, könnte einer meinen.
Marlene und ich sind hier, in einer Provinzstadt, als Schauspielanfänger engagiert. Aber Marlene schafft es, ihre schauspielerische Begabung auch anderweitig unter Beweis zu stellen, nicht nur an diesem kleinen Theater der Deutschen Demokratischen Republik.
Tag für Tag stehen wir auf der Bühne, allerdings ohne die dafür nötige Spielgenehmigung zu besitzen. Die gilt es zu erwerben, denn sonst könnten wir von heute auf morgen trotz bestehenden Vertrags gefeuert werden. Vom ersten Tag an sind wir durch dieses Damoklesschwert, das über uns schwebt, eng miteinander verbunden.
Mich Marlene, von der ich mich, wie von so vielen anderen weiblichen Wesen auch, unwiderstehlich angezogen fühle, als Mann zu nähern, wage ich nicht. Sie hat einen Freund, der zwar selten auftaucht, da er sich mit seinem Volkswagen wochenlang im Westen aufhält, wo er beruflich als Bergbauingenieur zu tun hat. Aber die Beziehung scheint trotzdem stabil zu sein. Ich wundere mich, dass ein so junger Mann (er ist siebenundzwanzig) frei reisen darf, was den meisten seiner Mitbürger, so natürlich auch Marlene und mir, verwehrt ist. Sich wundern ist nicht weit weg von Bewundern.
Marlene gibt keineswegs zu erkennen, dass sie an mehr als Freundschaft mit mir interessiert wäre. Was uns an Gemeinsamkeit bleibt, das sind wunderbare Spaziergänge über die Friedhöfe der Umgebung. Hier philosophieren wir über Gott und den Tod, über Sinn und Unsinn des Lebens. Wirklich Privates fließt kaum in unsere Unterhaltungen ein, es sei denn, dass die beruflichen Träume privat zu nennen wären. Ich fühle mich glücklich, in Marlene eine wahre Freundin gefunden zu haben, mit der mich eine rein menschliche Zuneigung verbindet. Sonst nichts. Nichts von dem, was die Begegnung mit dem anderen Geschlecht so schnell in eine Bahn lenkt, von der sich zu befreien manchmal einfach nicht gelingen will.
Außer ihrem Freund tauchen noch zwei weitere Männer auf, zu denen sie Kontakte unterhält, ohne dass ich mir Klarheit darüber zu verschaffen wüsste, welcher Natur diese Beziehungen sind. Der eine ist ein sechzigjähriger evangelischer Pfarrer, der seit vierzig Jahren mit einer zehn Jahre älteren Frau verheiratet ist. Hat Marlene mit ihm ein Verhältnis? Die Frau des Pfarrers befindet sich gerade mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus. Sollten der Pfarrer und Marlene etwa miteinander schlafen? Das kann ich mir kaum vorstellen, obwohl ich ein Jahr zuvor schon mit einer ähnlich eigenartigen Geschichte Bekanntschaft gemacht habe. Marlene ist jedenfalls stets sehr nett zu ihm, und schließlich ist sie es, die unbedingt will, dass ich den Pfarrer kennenlerne. Einen Grund zur Eifersucht gibt es nicht.
Der andere Mann, den sie ständig aufsucht, ist ein ehemaliger NVA-Offizier, der aus dem aktiven Dienst ausgestiegen ist und sich nun als Schauspieler versucht. Versuch und Irrtum. In den zurückliegenden drei Jahren meiner Schauspielerei habe ich verschiedenste Künstler erlebt, von denen mir nur einer vielleicht noch schwächer vorgekommen ist als ausgerechnet Marlenes zweiter Verehrer. Laut Marlene kennt er Leute, die ihr helfen könnten, eine staatliche Spielerlaubnis zu erlangen.
Marlene meint es gut mit mir, dessen bin ich mir sicher. Denn warum sonst sollte sie versuchen, den ehemaligen Offizier für mich einzunehmen? Einmal nimmt sie mich sogar zu ihm mit. Obwohl wir eigentlich fast Nachbarn sind, wäre es mir nie eingefallen, ihn aufzusuchen. Das verbot allein schon der Altersunterschied. Und etwas Unerklärliches, Fremdes.
Wir treten durch das große Tor in der Puschkinstraße: Auf dem Hof liegt, nur mit einer Badehose bekleidet, braungebrannt, der Kollege. Es will scheinen, als hätte der für mich nur ein mitleidsvoll ironisches Lächeln übrig. Die Unterhaltung gestaltet sich schleppend. Zwischen uns steht eine unsichtbare Mauer. Sollte er in mir einen Rivalen wittern? Oder weshalb sonst kann ich die unsichtbare Mauer trotz Marlenes liebevollen Bemühens nicht überwinden? Vielleicht ist ja auch dem Offizier bereits zu Ohren gekommen, dass ich im Falle einer Musterung vorhabe, den Wehrdienst zu verweigern?
Gewiss ist meine Offenheit bodenlos naiv, aber in wichtigen Dingen spiele ich immer mit offenen Karten. Sollte mir, Jahrgang 1943, der Hass auf alles Militaristische mit dem Dröhnen der Flugzeuge über und den explodierenden Bomben vor und hinter mir eingebrannt worden sein?
Vieles liegt im Dunkel
Mein Vater, den Fußstapfen seines Vaters folgend, gleichfalls ein Nazi der ersten Stunde, hatte unter Hitler eine führende Funktion in der Kulturpolitik inne. 1936 zur Olympiade in Berlin hielt er sich in unmittelbarer Nähe von Leni Riefenstahl auf. Was ihn mit ihr verband, womit er ihr zu Diensten sein konnte, darüber hat er ebenso wenig gesprochen wie über seine guten Kontakte zu fast allen damaligen Filmgrößen der Ufa. Dank seiner Zuverlässigkeit und Unbescholtenheit, dank seines in Königsberg, Berlin und Jena absolvierten Studiums der Geschichte, abgeschlossen mit einer nationalistisch orientierten bravourösen Dissertation, wie es hieß, zum Thema des Deutschen Ritterordens, winkte ihm eine Reichskarriere, das um so mehr, als der Existenz meines Großvaters der Rang eines erstklassigen Leumundszeugnisses zukam.
Vordamm, wo mein Vater geboren worden ist, war der äußerste, nach Osten vorgeschobene Posten der Provinz Brandenburg. In diesem Grenzbewusstsein ist mein Vater aufgewachsen. Der Weg zum Deutschen Ritterorden mag so zu erklären sein. Sein Doktorvater, Erich Caspar, den sparsamen väterlichen Informationen zufolge Halbjude, hat sich 1935 das Leben genommen. Als mein Vater 1949 in Halle ein Diplom als Gymnasiallehrer erwarb, reichte er, was einer gewissen Dreistigkeit nicht entbehrte, die Dissertation, die von seinem Professor, der sich später gleichfalls das Leben nahm, hoch bewertet wurde, als Examensarbeit ein.
Die zehner, dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts sind gepflastert mit zig Millionen von Kriegstoten, Vergasten und Selbstmördern. Fast hätte sich