Andersfremd. Hans-Henning Paetzke
Schmierenkomödie
Weihnachten steht vor der Tür. Die Tage werden kälter, Kohle in der DDR ist knapp, im Kohlerevier Schwarze Pumpe werden Sonderschichten gefahren, um dem Mangel abzuhelfen. Am Sonntag soll auch meine Brigade zu einer Sonderschicht herangezogen werden. Zusammen mit zwei Mithäftlingen rücke ich nicht aus, weigere mich, am Tag des Herrn zu arbeiten.
Die Bewacher wirken nervös, wir, die drei Häftlinge, werden zum Lagertor beordert, wo wir von einem Leutnant, der, wie später zu hören ist, als ruhig und besonnen gilt, aufgefordert werden, uns der Arbeitskolonne anzuschließen. Für den Fall, dass wir unsere Weigerung nicht umgehend aufgeben sollten, droht er uns Arrest und andere haftverschärfende Maßnahmen an. Die Mitgefangenen, ein Zeuge Jehovas und ein junger sympathischer Kellner aus Potsdam, der wegen RF, das heißt versuchter Republikflucht, einsitzt und, ebenso wie ich, wenig Lust verspürt, eine Sonderschicht zu fahren, weichen dem Druck. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, aber ich bleibe bei meinem Nein. Warum? Sicher nicht, weil ich so schrecklich mutig wäre. Im Gegenteil: Die Angst schnürt mir die Kehle zu. Die Energie meines Handelns erinnert an das Gesetz von der Trägheit der Masse. Einmal in Schwung geraten, lässt die sich einfach nicht bremsen.
Der besonnene Erzieher und Leutnant ist fassungslos vor Wut. Schaum tritt ihm vor den Mund. Seinen herbeieilenden Genossen schreit er zu, sie sollten die Hunde loslassen und auf mich hetzen. Der bewaffnete Leutnant packt mich, den wehrlosen Häftling, am Schlafittchen und drückt mich gegen das Lagertor, wie um den pädagogischen Ausführungen Nachdruck zu verleihen. Ich kann nicht mehr denken. Ein Rausch des Widerstands hat sich meiner bemächtigt. Klein beigeben, das kommt mir nicht in den Sinn. Es ist, als wäre eine solche Möglichkeit des Denkens und rationalen Handelns aus meinem Gedächtnis gelöscht worden. Dabei steht mir der Angstschweiß auf der Stirn. Ich muss an irgendeinem Defekt leiden: Wenn ich der Meinung bin, im Recht zu sein, kann ich keine Kehrtwende vollziehen, klammere mich an die einmal eingenommene Position. Ein böswilliger Außenstehender könnte versucht sein, von einer behandlungsbedürftigen Zwangsneurose zu sprechen und nach dem Psychiater zu rufen.
Den unangenehmen, heißen Atem des schwer keuchenden Leutnants spürend, seine Hand an meiner Gurgel, das Tor im Rücken nutze ich die Situation, nicht zuletzt aus Angst vor den Hunden, schamlos aus: knalle mit dem Kopf gegen das Tor, erwecke den Eindruck, als sei es durch Fremdeinwirkung dazu gekommen, und sinke zu Boden. Die Mitgefangenen werden später im Lager verbreiten, dass ich brutal zusammengeschlagen worden sei.
Ich spürte die einmalige Chance, mich wirkungsvoll in Szene zu setzen und mich aus der drohenden Gefahr davonzustehlen. Am Boden liegend überlege ich, was zu tun sei. Mir fällt nichts Besseres ein, als mich in Weinkrämpfen zu schütteln. Da hilft noch so gutes Zureden des inzwischen von einer in die nächste Panik geratenen Leutnants nichts, der gegenüber den herbeigeeilten Lagergewaltigen vergebens beteuert, dem am Boden liegenden Strafgefangenen 724 aus 3 nichts angetan zu haben. Auf einer Trage befördern sie mich in die Krankenbaracke, wo meine Weinkrämpfe einfach nicht aufhören wollen. Es ist mir, als würde sich all die Spannung, der ich in den letzten Jahren ausgesetzt gewesen bin, nun in einem Meer von Tränen lösen wollen. Nichts um mich her nehme ich wahr, die Augen sind geschlossen, nur der Mund, aus dem gellendes Schreien quillt, ist weit geöffnet. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Schmierenkomödie verwischen sich. Schon weiß ich selbst nicht mehr, ob ich all den Schmerz, der sich lautstark artikuliert, nicht tatsächlich spüre, ob ich nicht tatsächlich zu Boden geschlagen worden bin. Auch denke ich immer wieder, jetzt in meiner sichtbar und hörbar gemachten Schmerzintensität auf gar keinen Fall nachlassen zu dürfen, sonst könnten mir die Vopos am Ende noch Widerstand gegen die Staatsgewalt anhängen.
Vertreibung aus dem Paradies
Dass ich dem Samen meines Vaters entsprießen durfte, ist nach freundlicher Auskunft eines meiner Brüder einzig dem egoistischen Wunsch unserer rassisch verdächtigen Mutter zuzuschreiben, sich für die Zeit ihres höheren Alters eine weitere, eine dritte, Option für spätere Besuchsreisen zu sichern. Ich, der heranwachsende Fötus, verdanke mein Dasein demnach nicht nur der weihnachtlichen Heilsbotschaft, der Sehnsucht nach Frieden, Liebe und dem schier unstillbaren Verlangen nach einem flüchtigen Gefühl körperlichen und seelischen Glücks, sondern auch dem mir zugedachten Auftrag, als Mittel gegen drohende Vereinsamung zu wirken. Meine Mutter war von der fixen Idee beherrscht, ihr Ehemann könnte aus dem Krieg nicht zurückkehren, in den er hatte ziehen müssen, weil er, der anfangs selbst ein kleiner Führer in der Reichsfilmkammer gewesen war, den anderen hohen Bonzen in ihrem selbst an nationalsozialistischen Maßstäben gemessen nicht immer ehrenhaften Tun Einhalt zu gebieten versucht hatte.
Sieben Jahre alt war ich, als es meine Eltern, vermutlich um deutschen Patriotismus gegen russische Fremdherrschaft zu demonstrieren, für gut und richtig befanden, ihre drei Söhne, Jahrgang 1938, 1940 und 1943, in der Weißen Kirche zu Leipzig taufen zu lassen. Außer der Taufe, die fast nicht vollzogen worden wäre, weil uns Kinder die Wasserspritzer zum Lachen reizten, den Repräsentanten Gottes auf Erden aber angesichts solch unangebrachter Albernheit unwillig werden ließen, verbinden sich mit der Weißen Kirche auch andere Erinnerungen. Nicht zuletzt an Weihnachten 1949 oder 1950, als wir drei Jungen wegen des lauen Winterabends in Kniestrümpfen den Weg zur Krippe des Jesuskindes antraten. Und an Einbrüche meines mittleren Bruders, der heute in Vorpommern als praktizierender Arzt und Christ seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat. Im Keller der Weißen Kirche übte sich mein Bruder als Einbrecher. Von dort ließ er gemeinsam mit einem später bei seiner katholischen Jugend beliebten Priester, den das schreckliche Ende einer rasenden Fahrt in seiner Trabi-Pappkartätsche, um einem Siebenundneunzigjährigen die Letzte Ölung zu spenden, schon längst vor seinen Herrn hat treten lassen, Kirchengerät mitgehen, während ich, ein Sechsjähriger, draußen Schmiere stehen musste.
Das plötzliche Ende von meines Vaters Reichskarriere hatte diesen vor einer schmutzigen Weste und unsere Familie vor der Scham bewahrt. Nach der Einnahme Sachsens durch die Amerikaner im April 1945 logierten einige amerikanische Offiziere in unserer Villa in der Hannoverschen Straße, einem aus drei Villen bestehenden Teilstück, dem Paradies einer Kindheit. Als die Amerikaner dann, wie von den Alliierten zuvor vertraglich geregelt, aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen abgezogen waren, um diese Provinzen den Russen zu überlassen und in Berlin einzumarschieren, quartierten sich bei uns sowjetische Offiziere ein, ein Journalist und ein Arzt aus Moskau, die sich sehr menschlich verhielten, ganz im Gegensatz zu den Gräuelgeschichten, die damals zu hören waren. Gelegentlich versorgten sie unsere Familie mit Butter, Mehl, Fleisch und Brot, meine beiden Brüder mit Fasanenfleisch und mich, den Fünfjährigen, der gerade erst sprechen gelernt hatte, mit Milch und meiner ersten Papirossa, einer schrecklich stinkenden Zigarette, die sich am besten aus einem Papierfetzen der Prawda oder Iswestija drehen ließ, die linke Hand während der Autofahrt am Steuer, die rechte in der Uniformjackentasche, um die Tabakkrümel in die Zeitung zu befördern.
Meine Großmutter mütterlicherseits, eine Nichtschwimmerin, hatte die Ungewissheit über das Schicksal der Familie ihrer Tochter nicht mehr ertragen und sich in der Kleinen Luppe hinter der Klingerschen Villa ertränkt. Mich hatten Eindrücke, an die ich mich zwar nicht, zumindest nicht bewusst, erinnern kann, trotz erster Sprecherfolge für einige Jahre verstummen lassen.
Großmutters Schmuck und andere Wertsachen aus der verwaisten Wohnung befinden sich vielleicht auch heute noch in Leipzig im Besitz der Nachkommen guter Nachbarn, die der vom Familienerbe ausgehenden Versuchung nicht hatten widerstehen können. Einzig den guten alten Volksempfänger hatten die Nachbarn auf Drängen meiner Mutter zurückgegeben. Bis Ende der fünfziger Jahre leistete er mit seinen krachenden und krächzenden Sendungen aus London und dem amerikanischen Sektor von Berlin gute Dienste, bis Mitsche, mein mittlerer Bruder, das Radio an sich nahm; dank einem unbeherrschbaren Forschertrieb, der es in seine nicht wieder auffindbaren Einzelteile zerlegte, verschwand es für immer.
Das Leipzig meiner Kindheit, das Leipzig meiner Erinnerung, das sind Ruinen in der Landsberger Straße, im Viertelsweg, in denen sich angeblich Mörder verschanzt hatten, vielleicht auch nur wahnsinnig gewordene Heimkehrer, die unter