Andersfremd. Hans-Henning Paetzke
werden. Für seinesgleichen sind die Erzieher im Grunde genommen gar nicht zuständig. Im Gegenteil, die vorübergehend in Ungnade Gefallenen sind Bestandteil des pädagogischen Gebäudes, sie sind die Klammer zwischen Strafgefangenen und Strafvollzug, sie verfassen Berichte und Einschätzungen über die Entwicklung, die einer im Umerziehungslager nimmt. Beliebt sind sie nur bei der Obrigkeit, denn die Sträflinge haben von ihnen nichts Gutes zu erwarten. Trotzdem sind sie keine Spitzel im eigentlichen Wortsinn, denn ihre Horchposten haben sie nicht im Verborgenen errichtet. Die echten Spitzel sind gut getarnt. Erst eine Akte, die mir durch die Irrungen und Wirrungen der Geschichte Jahrzehnte später in die Hand fällt, klärt mich darüber auf, dass gute Spitzel zum Freundeskreis gehören müssen.
Vor Schikanen brauche ich in der anderen Brigade, der ich bald darauf zugeteilt werde, keine Angst zu haben, auch wenn die Zwänge hier, denen man sich um einer guten Atmosphäre und Kameradschaft willen zu unterwerfen hat, keineswegs angenehm sind. Der Brigadier pflegt beste deutsche Tugenden und versucht, die ohnehin schon hohe Arbeitsnorm um wenigstens fünfzig Prozent überzuerfüllen.
Die Leistung wirkt sich auf die Höhe des Eigengeldes aus und verspricht höhere Zuteilungen an Zigaretten.
Der Brigadier ist ein schweigsamer, beharrlicher Bauernjunge aus Sachsen. Als er sich nach dem Tod seiner Eltern und dem erzwungenen Eintritt in die LPG entschlossen hatte, dem Land seiner Väter den Rücken zu kehren, kaufte er sich ein Fernglas der Marke Zeiss und eine Bahnkarte nach Magdeburg. Von da aus begab er sich über einsame Wege in Richtung Grenze. Im Reisegepäck Proviant und Wasser für eine Woche, Toilettenpapier, fein säuberlich aus dem Neuen Deutschland auf ein handliches Format zurechtgeschnitten, und eine alte Militärkarte von der Gegend zwischen den beiden deutschen Staaten.
Nachdem er die gefährlichen und kaum sichtbaren Hindernisse auf dem Weg zur Grenze überwunden hatte, befand er sich mitten im Sperrgebiet, wo es von Grenzern, Stasi, freiwilligen Grenzhelfern und Spitzeln aus Überzeugung, auch halbwüchsigen, nur so wimmelte.
Die Gefahr, die von ihnen ausging, war ihm bewusst. Deshalb robbte er nur nachts voran, tagsüber versteckte er sich unter einem Busch, in einem Graben oder hinter einem Baum. Meter um Meter näherte er sich den Grenzsicherungsanlagen. Als er diese am fünften Tag fast schon überwunden hatte, wurde er von einer Patrouille entdeckt, gerade als er sich ein letztes Mal in der alten Heimat zu entleeren gedachte.
Alles andere, was dann kam, kommen musste, Verhaftung, Verhöre, Prozess, Verurteilung, darin unterscheidet sich hier kaum einer vom anderen. Abgesehen von kleinen Abweichungen, die für den einzelnen manchmal von großer Bedeutung sein können, ähneln sich die Fälle erschreckend. Einmal in die Mühlen der sozialistischen Umerziehungsjustiz geraten, spielt es nur noch eine untergeordnete Rolle, ob du ein Krimineller oder ein Politischer bist.
Nach der Verurteilung bist du nur noch eine Nummer, und nach der Entlassung, die möglichst vor der Verbüßung der Gesamtstrafe erfolgen sollte, damit du wegen der Bewährung, zu der die Reststrafe ausgesetzt wird, besser erpressbar und kontrollierbar sein wirst, erhältst du deinen Namen zwar zurück, aber deine Sträflingsnummer wird dich von nun an ein Leben lang begleiten, wird ein fester Bestandteil deiner Kaderakte sein, die den Behörden bei einem eventuellen Wohnortwechsel hinterhergeschickt wird.
Zur neuen Brigade gehört auch Kurt, an den ich mich fortan klammere. Kurt, Jahrgang 1933, stammt aus einer schlesischen Kleinstadt. Die Schuld der Väter, die Schuld der Mütter, die dem Wahnsinn nicht Einhalt geboten haben, stattdessen stolz waren auf die Heldentaten ihrer Söhne, die auf den Schlachtfeldern Europas die Menschlichkeit niedermähten, die Verbrechen eines einzelnen, eines schnauzbärtigen Gefreiten aus der k.u.k. Monarchie, der sich diabolisch für die ihm widerfahrenen Verfehlungen eines vermeintlich jüdischen Großvaters an einem ganzen Volk, ja, an der ganzen Welt rächte und sich dabei auf die Mordlust mehrerer Millionen Helfershelfer verlassen konnte, haben ihn als Zwölfjährigen dazu gezwungen, seine Heimat mit einem kleinen Bündel in der Hand für immer zu verlassen.
Die Verhaftung hat Kurt Ende 1961 in Greifswald ereilt, wo er als Student der Germanistik kurz vor dem Staatsexamen stand.
Ein Verbrechen im herkömmlichen Sinne, etwas als Straftat zu Würdigendes, begangen hatte er nicht, es sei denn sein loses Mundwerk, seine überschäumende Fantasie, die in Worten hervorsprudelte und sich witzig der Umwelt mitteilte, und seine Graphomanie, die in einer reichen Korrespondenz mit Schriftstellern, Philosophen und Theologen aus aller Herren Länder sowie Politikern der schlesischen Landsmannschaft ihren Niederschlag fand, wären etwas gewesen, was die Kriminalpolizei hätte beschäftigen müssen.
Als kriminell eingestuft wurde vor allem der Tatbestand des grenzüberschreitenden Briefverkehrs, nicht etwa in Richtung Bruderländer, nein, vorwiegend in Richtung kapitalistisches Ausland. Auch war es der Wachsamkeit der Behörden keineswegs entgangen, dass Kurt, bevor die Errichtung des sozialistischen Schutzwalls in Berlin verschiedensten feindlichen Umtrieben ein Ende gesetzt hatte, mit Vorliebe zu Veranstaltungen der Vertriebenenverbände ins westliche Ausland gereist war und dort anrüchige Kontakte mit dem Klassen- und Friedensfeind, mit den ewig Gestrigen, den ewigen Kriegstreibern und Revanchisten geknüpft hatte. Aber auch Briefkontakte zu den bei der Mutter Partei in Ungnade gefallenen marxistischen Philosophen Georg Lukács und Ernst Fischer, zu dem suspekten Existenzphilosophen Jean-Paul Sartre, zu, gemessen an weltliterarisch bedeutenden und humanistisch integren DDR-Autoren, belanglosen Schriftstellern wie Heinrich Böll, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Friedrich Thorberg, zum katholischen Theologen Hans Küng, und die Aufzählung berühmter Namen ließe sich noch lange fortsetzen, wurden dem Studenten der Germanistik verübelt.
Das Verleihen von im Ausland erschienenen Büchern an Professoren, Freunde und Kommilitonen war den Genossen der Staatssicherheit ein Dorn im Auge. Aber am meisten schmerzten die Scherze, Witze, Anekdoten und kabarettistischen Einlagen, in denen der vom Klassenfeind gesteuerte Student die real existierende DDR verächtlich machte. Das ging an die Substanz. Der schwarzhaarige Brillenträger, der das Selbstverständnis der DDR nach dem 13. August 1961, dem Tag, an dem dank den weisen Beschlüssen in den Politbüros von Moskau und Ostberlin der Weltfrieden gerettet, die Gefahr eines dritten Weltkrieges gebannt worden war, in seinen Grundfesten erschüttert hatte, musste dringend gemaßregelt werden.
Kurts Straftaten wurden vom Gericht in Greifswald mit sieben Jahren Zuchthaus geahndet. In Bautzen, wo er den ersten Teil seiner gerechten Strafe verbüßte, machte er Bekanntschaft mit Mördern und schloss Freundschaft mit Georg Dertinger, dem ersten Außenminister der DDR, der schon lange aus dem Verkehr gezogen worden war. In der Festung Torgau freundete er sich mit einer Gruppe aus Ilmenau an, deren Mitglieder sich um einen ehemaligen Staatsanwalt geschart hatten. Der Staatsanwalt, wegen seiner roten Nase Schnupprich genannt, ein Fabrikant, der bis zur Verhaftung in seinem Betrieb fünfhundert Arbeiter beschäftigt hatte, und ein Diplomingenieur hatten sich das abenteuerliche Ziel gesetzt, die Pankower Regierung zu stürzen und die Macht zu übernehmen, um der Demokratie zum Sieg zu verhelfen.
Nach ihren Vorstellungen wäre es schon in den fünfziger Jahren zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten gekommen, und vielleicht würden die Deutschen auch heute noch Johannes R. Bechers Nationalhymne singen, in der schon damals von einem „Deutschland einig Vaterland“ die Rede gewesen ist. Die Dreierbande aus Ilmenau hatte Glück gehabt. Denn wären sie ob der ins Reich der Märchenwelt zu verbannenden Fantasien von der Staatsmacht nicht insgeheim belächelt worden, hätten sie den Mauerbau sicher nicht mehr erleben dürfen.
Nachdem sich mehrere evangelische Bischöfe für Kurt eingesetzt hatten, wurde das auch für das Rechtsempfinden der DDR weit überzogene Urteil kassiert und in eine dreieinhalbjährige Gefängnisstrafe umgewandelt. Entsprechend einer Umrechnungsformel von Zuchthaus in Gefängnis muss Kurt für seine Unbotmäßigkeit nur mit insgesamt zweieinhalb Jahren Haft bezahlen. Als ich ihm begegne, hat er noch etwa acht Monate vor sich, meine Gesamtstrafe.
Die bisherige Umerziehung ist für den Dreißigjährigen nicht ohne Folgen geblieben. Depressionen quälen ihn, Zukunftsängste. Was wird er tun, wenn er aus dem Lager entlassen wird? Ein Studienabschluss gelangt in unerreichbare Ferne.
Ich glaube, eine leise Ahnung davon zu haben, was die DDR-Oberen an meinem Freund so sehr gestört haben könnte, dass sie meinten, sich an ihm rächen