Warrior & Peace. Stella A. Tack

Warrior & Peace - Stella A. Tack


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ich sie aufwecken, könnten psychische Nebenwirkungen entstehen. Sie ist labil. Sie kann im Augenblick gar nichts machen. Dein Krieg muss warten.«

      Peace schwieg. Er verschwand und kam nicht wieder. Daraufhin zog ich mich tiefer in mich selbst zurück. Dachte an mein Leben vor dem Tartaros. Bevor ich zu einer Göttin geworden war. Bevor ich Peace kennengelernt hatte.

      Ich ließ jedes noch so banale Erlebnis an mir vorbeiziehen. Die meisten davon kamen aus solch tiefen Winkeln meines Verstandes hervor, dass ich mich nicht einmal erinnern konnte, sie selbst erlebt zu haben. Doch egal, in welches Szenario ich hineinschaute, in beinahe jedem spielte mein Bruder eine zentrale Rolle.

      Madox, wie er mich in die Arme nahm oder mir einen feuchten Fuzzi verpasste. Wie er neben mir schlief, eine Flügelspitze im Mund. Wie er vergaß, sein Hemd anzuziehen, oder sich sein erstes Tattoo stechen ließ und dabei heulte wie ein Baby. Ich glaube, ich heulte bei dieser Erinnerung ebenfalls.

      Er fehlte mir so sehr. Ich hatte mir vorher schon Sorgen gemacht, als er nicht bei mir gewesen war. Immerhin hatte ich gewusst, dass er, trotz des schweren Sturzes aus dem Olymp, noch lebte. Dass es ihm gutging. Zwar ohne mich und mit einigen gebrochenen Knochen, aber zumindest in Sicherheit bei Hades, wo er mit unseren Brüdern streiten und illegale Basiliskenkämpfe veranstalten konnte. Solange ich mir dieser Sache sicher gewesen war, hatte ich beruhigt schlafen können. Doch jetzt … jetzt war ich allein. Ohne ihn.

      »Warrior!« Das eindringliche Flüstern riss mich aus dem Schlaf. Hatte ich geschnarcht? Es klang beinahe danach. Wie peinlich! Ich öffnete die Augen.

      O stand über mir. »Warrior!«, flüsterte sie und tätschelte mir grob die Wange, bis sie bemerkte, dass ich bei Bewusstsein war und ihr eingesunkenes Gesicht fixierte. Ihre dürren Finger vibrierten an meiner Haut. Irgendetwas stimmte mit ihren Augen nicht. Sie waren viel zu weit aufgerissen, blutrot von den feinen geplatzten Äderchen. Sie wirkte vollkommen ausgelaugt.

      »Warrior, ich habe etwas gesehen«, zischte sie mir ins Ohr. »Es gäbe eine Möglichkeit für dich, Madox wiederzusehen. Ihn an deiner Seite zu haben!«, raunte sie.

      Durch meine schlaffen Glieder ging der erste lebendige Ruck. Meine Augen öffneten sich weiter. Ich wollte etwas sagen, doch es kam nur heiße Luft heraus. Als wäre meine Kehle immer noch zerschnitten.

      »Scht. Nicht sprechen. Es …« O zögerte. »Ich habe nach einer Lösung gesucht und etwas gefunden. Beziehungsweise hat es mich gefunden!« Das Fleisch unter ihren trockenen, spröden Lippen glänzte entzündet, als sie sich darüber leckte. »Ich habe etwas gefunden, aber der Preis dafür ist enorm. Es müssten schreckliche Dinge passieren, damit das geschehen kann. Nichts wäre mehr wie zuvor. Überleg es dir gut. Wenn du dich entschließt, ihn in Frieden ruhen zu lassen, wird dein Schmerz vergehen. Nicht jetzt, nicht in näherer Zeit, aber irgendwann. Du würdest an Peace’ Seite herrschen. Ihr würdet den Olymp stürzen. Ich habe es gesehen. Aber wenn du Madox zurückwillst, ist der Preis die Zerstörung von … vielen Dingen. Es werden Personen in dein Leben treten, denen du sonst niemals begegnet wärst. Menschen, die dich verändern werden. Die Realitäten verschieben sich. Der Zeitpunkt muss exakt abgestimmt werden. Ich muss schnell sein, aber ich könnte alles dafür in die Wege leiten. Ein neues Leben, das dich zu ihm führt. Willst du das?«

      Sie verstummte. Die Stille drückte so laut wie ihre Worte auf mein Trommelfell. Ich konnte nicht denken! Alles drehte sich, ihre Stimme hallte als Echo in mir. Das Einzige, das ich wirklich verstand, war das Wichtigste: Ich könnte Madox zurückhaben. Vielleicht müsste er nicht sterben. Der Preis dafür? Unerheblich.

      Ich sammelte jede Kraft, die ich aufbringen konnte, und nickte. Einmal. Aber kräftig und bestimmt.

      Os Schultern bebten. Ihre Lippen verloren an Farbe. »Das dachte ich mir!«, hauchte sie. »Es tut mir leid. Jetzt noch mehr als zuvor. Du wirst Fürchterliches durchmachen. Aber du bist stark, also wirst du es schaffen. Du musst.«

      Ich nickte erneut. Meine Energie verbrauchte sich. Ohne mein Zutun fielen mir die Augen zu und ich schlief ein. Eingehüllt in die Magie des Doktors, während mir Os Stimme von einem Schicksal erzählte, dass ich gerade mit einem einzigen Kopfnicken verändert hatte. Für uns alle.

      Drei

      Große Göttinnen weinen nicht

      Ich saß mit einem fetten, glücklichen Grinsen auf einem Regenbogeneinhorn und jauchzte vor Freude. Eine geringelte Stange, an der das Karusselleinhorn befestigt war, ging dabei rhythmisch auf und ab. Warmer Fahrtwind blies mir das goldene Haar aus dem Gesicht. Ein glitzerndes rosarotes Krönchen funkelte auf meinem Kopf. In einer Hand hielt ich einen Lillifee-Zauberstab umklammert, mit der anderen hielt ich mich an der bunten Plastikmähne des Einhornponys fest. Der Kunststoff fühlte sich fettig und ein bisschen klebrig an. Eigentlich eklig, aber mit stolzen vier Jahren zählte nur, dass ich auf einem Einhorn ritt! Mit einem echten pinken Horn! Begeistert hoppelte ich auf dem steifen Rücken herum und winkte mit meinem Zauberstab Diamond zu, die mir von einer Parkbank aus zusah. Das Lachen der anderen Kinder hallte in meinen Ohren wider. Zwei Einhörner weiter erkannte ich Ruby, die mir altersmäßig am nächsten war. Mit ihren acht Jahren hatte Diamond sie praktisch zwingen müssen, mit mir auf dieses Karussell zu steigen. Ohne sie hatte ich nicht fahren dürfen. Ihre wütenden Blicke und die trotzig vor der Brust verschränkten Arme zeigten nicht nur eine strickte Weigerung, bei so etwas Kindischem Spaß zu haben, sondern auch ein stummes Versprechen, dass ich diesen Tag bitter bereuen würde. Aber im Augenblick konnten mich nicht einmal Rubys Blicke der finsteren Rache einschüchtern. Mein eigenes helles Lachen hallte mit dem der anderen Kinder durch den Hyde Park und fast konnte ich mir vorstellen, dass sie meine Freunde waren. Freunde, die mit mir hierhergekommen waren, um meinen Geburtstag zu feiern. Die Musik spielte fröhlich. Diamonds Gesicht tauchte auf und verschwand. Runde um Runde strahlte ihre kühle Schönheit zu mir herüber, während die Musik lauter und schriller wurde.

      Das Lachen verstummte abrupt. Selbst mein eigenes Kichern blieb mir in der Kehle stecken, als die Spielorgelmusik einen leiernden, beinahe trägen Klang annahm, der mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Verunsichert krallte ich mich fester in die Mähne des Tieres. Der Zauberstab rutschte mir dabei aus den Fingern und verlor sich klappernd im Nirgendwo. Der zuvor helle Park verdüsterte sich und die grünen Bäume traten in den Hintergrund. Ruby verschwand. Genau wie die restlichen Kinder. Ich fuhr allein mit meinem Einhorn im Kreis. Nur Diamond saß auf der Bank und beobachtete mich. Runde um Runde.

      »Diamond!«, rief ich ängstlich.

      Sie antwortete nicht. Das Lächeln klebte immer noch auf ihrem Gesicht.

      »Aufhören!«, bat ich und riss an den Plastikzügeln. Einmal. Zweimal. Dreimal.

      Die schiefe Spielmusik verstummte. Die darauffolgende Stille erdrückte mich. »Diamond! Runter!«, rief ich panisch, hob eines meiner Händchen und griff nach ihr. Meine Schwester rührte sich nicht. Legte nur den Kopf schief und musterte mich, als wäre ich eine Kuriosität.

      »Du kannst nicht immer alles haben, was du willst, Warrior«, gab sie mit ruhiger Stimme zurück. »Du wolltest unbedingt Karussell fahren. Jetzt bleibst du dort oben, bis die Fahrt zu Ende ist.«

      Meine Unterlippe bebte, während das Einhorn weiter an der Stange auf und ab fuhr. »Ich will jetzt runter«, schrie ich. Tränen rannen mir die Wangen hinab.

      Diamond seufzte, stand auf und kam auf mich zu. Sobald das Einhorn sie passierte, hob sie mich aus dem Sattel und setzte mich behutsam auf dem schwarzen Boden ab. Elegant ging sie vor mir in die Hocke, sodass wir uns auf Augenhöhe befanden, und wischte mir die salzigen Spuren aus dem Gesicht. »Nicht weinen, Warrior«, rügte sie sanft. »Große Göttinnen weinen nicht, wenn sie Angst haben. Und du willst doch eine Göttin werden. Oder nicht?«

      Ich schniefte. Das Einhorn verschwand lautlos in der Schwärze und ich sah ihm mit schreckgeweiteten Augen hinterher. Trotzdem nickte ich. Ja! Ich wollte


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