Polnische Novellen. Wladislaw Reymont

Polnische Novellen - Wladislaw Reymont


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Vorstehers darauf zu lenken, dass auch uns die Politik des Vatikans nicht passt, dieses Schöntun der römischen Kurie mit diesem Frankreich von heute ...«

      »Immerhin ein prachtvolles Land, mein Lieber, ganz prachtvoll,« murmelte der Streckenvorsteher und steckte sich mit einer nachlässigen Bewegung das Einglas ins Auge.

      »Dieses Land der Revolutionäre, Freimaurer und Gottesleugner; es ist doch wahrlich das Land der ewigen Anarchie ...«

      »Gewisslich, aber auch das Land des zweiten Kaiserreichs.«

      »Der Herr Vorsteher neigen zu dem, was man so Bonapartismus nennt?«

      »Vor allem neige ich zum ›Parismus‹, das heisst zur Herrschaft von Paris über die Welt,« er lächelte beseligt den eigenen Erinnerungen an diese einzigartige grosse kosmopolitische Luststätte zu und zupfte dabei an seinem leicht ergrauten, wahrhaft senatorenhaften Bart.

      »Ich möchte den wohlgeborenen Herrn Streckenvorsteher um die Gnade gebeten haben ...« liess sich abermals Tomek vernehmen, jedoch schon etwas lauter, denn er wurde allmählich ungeduldig und die Sorge um seinen Jusek bedrängte ihn immer mehr.

      »Der Herr Vorsteher haben lange in Paris gelebt?«

      »Fünfzehn Jahre. Kurz wie ein Augenblick, sag' ich Euch, wie ein einziger Augenblick der Lust! ...«

      Er schwieg; der Aufseher zwirbelte seinen üppigen Schnauzbart, während sich der andere seine Nägel beschaute und mit dem Monokel spielte.

      »Ich möchte den wohl geborenen Herrn Streckenvorsteher um die Gnade gebeten haben!« schrie ihn plötzlich Tomek schon fast an, denn der Gedanke, dass dort zu Hause vielleicht sein Jusek inzwischen im Sterben liegen könnte, erfüllte ihn mit einer solchen Angst, dass er nicht mehr wusste, was er tat.

      Der Vorsteher, der ihn jetzt bemerkt hatte, blieb stehen, warf sich mit Präzision sein Monokel ins Auge und sagte:

      »Ha! Was hast du denn zu sagen, mein Freund?«

      Tomek fiel ihm zu Füssen und redete schnell und wirr durcheinander:

      »Ich habe den Abschied bekommen, wohlgeborener Herr Vorsteher, sie haben mich fortgejagt. Fünfzehn Jahre habe ich gedient und bin jetzt ohne Beschäftigung ... zur Arbeit wollen sie mich nicht mehr nehmen ... fünf arme Waisen sind bei mir zu Hause und haben kein Brot ... Hergekommen bin ich, um die Gnade des wohlgeborenen Herrn Vorstehers anzuflehen ... die Not hat mich schon so drangekriegt, dass ich nicht mehr zu Atem kommen kann ... An dem Eisenbahndamm kenne ich alle Arbeiten ... ehrlich habe ich gedient ...«

      »Das ist dieser Tomek Baran, Herr Vorsteher, ein Bahnwärter, der aus dem Dienst entlassen worden ist wegen Diebstahl. Er hat der Eisenbahn gehörendes Eisen entwendet.«

      »Ich habe nicht gestohlen ... Wohlgeboren ... Herr Vorsteher ... und sie haben mich davongejagt. Ich hab' nichts genommen, wie auf der heiligen Beichte sag' ich das ... Man hat mich arme Waise fortgejagt ... die ›Lemeritur‹ haben sie mir weggenommen, den Abzug von dem Gehalt auch, wohlgeborener Herr Vorsteher ... die Kaution auch ... Ich bin ganz ohne was geblieben, wie dieser blosse Finger hier.«

      »Man hätte ihn zur gerichtlichen Verantwortung ziehen können,« murmelte der Streckenaufseher, gleichgültig zum Fenster hinaussehend.

      »Siehst du, Freund, der Gefängnisstrafe hast du dich schuldig gemacht, ha!« sagte der Vorsteher würdevoll.

      »Wofür sollte ich ins Gefängnis gehen? habe ich vielleicht einen erschlagen? habe ich was gestohlen?« schrie Tomek heftig und erbebte vor plötzlicher Wut.

      »Aus Mitleid hat man die Sache beigelegt, weil er so viele Kinder hat.«

      »Man hat dich nicht eingesteckt, weil man Mitleid mit deinen Kindern gehabt hat, verstehst du, ha? Dankbar solltest du sein, ha!« wiederholte der Vorsteher langsam und feierlich.

      »Ich bin hergekommen, mir Gerechtigkeit zu erbitten. Der Herr Aufseher wissen doch, was sie mir getan haben. Der Herr Aufseher haben selbst ...«

      »Eine Denunziation! Gleich werden der Herr Vorsteher unser liebes Volk kennen lernen.«

      »Denunzianten sind wir seit Grossvater und Urahn nicht gewesen und werden auch keine sein. Ich trete dem Herrn hier vor die Augen und werde es sagen, wie es gewesen ist ... und die fünfzehn Jahre Abzug, wenn es auch ohne Prozente sein sollte, die werde ich Euch nicht schenken, und Kaution auch nicht ...«

      »Er bekommt keine Pensionsbeiträge zurückerstattet, das Recht ist ganz klar.«

      »Das Recht ist das, was Gerechtigkeit ist, und das soll eine gerechte Sache sein, einen fortjagen, der keine Schuld hat! ... und eine gerechte Sache, das Geld nicht wieder herausgeben, das einem für so viele Jahre blutigen Schweisses abgezogen worden ist! das soll Gerechtigkeit sein! ... An die Gerichte gehe ich, um mein Recht, weil mir Unrecht geschehen ist!« schrie Tomek, immer mehr ausser sich geratend.

      »Rede mal einer mit einem Bauernlümmel! Kennst du nicht die Instruktion?«

      »Die kenn' ich schon, und dass die Herren die Instruktion für sich geschrieben haben und dem Volk die Wahrheit teuer auf Borg geben, weiss ich jetzt auch. Betrügen kann auch ein Krätzjud oder sonst welcher Hund ...«

      »Maul halten, Bauernlümmel! Was fällt dir, Hundesohn, ein! Wirst du hier das Maul aufreissen und schnauzen?« schrie ihn der Aufseher herrisch an.

      »Benachteiligt bin ich, dann werd' ich schon das Maul aufreissen müssen.«

      »Ein Dieb bist du, du dummes Vieh.«

      »Ich Dieb! – du pestiger Stadtlump, ich Dieb! – du englisches Fieber! ... ich! ...« schrie Tomek seine Fäuste ballend und trat, ohne es selbst zu wissen, vor.

      »Portier! Schmeiss diesen Bauernlümmel raus und wenn er sich beruhigt hat, nach der Polizei mit ihm! Gehen wir, Herr Vorsteher. So ein Pack! Was man bei denen nicht mit dem Stock herauskriegt, das kriegt man überhaupt nicht.«

      Die beiden Beamten traten auf den Bahnsteig.

      »Ich werd' dir schon die Rippen abzählen, du Stadtlump ... ich werd' dich schon zurichten, du verdammter Hund, dass du krumm und schief wirst wie vom englischen Fieber,« murmelte Tomek, und ein solcher Erguss von Zorn und Hass überflutete sein Herz und sein Gehirn, dass dicke Schweissperlen auf seine Stirn traten und er wie in einem Krampf am ganzen Körper bebte. Eine wilde Lust packte ihn, dem Aufseher nachzulaufen, ihm an die Gurgel zu springen und ... schlagen ... schlagen ... immerzu nur schlagen ... Bald schüttelte er jedoch dieses Gefühl ab, verliess das Bahnhofsgebäude und rannte, was er rennen konnte, seiner Hütte zu.

      Er fand dort viele Menschen und den Jusek schon im Sterben.

      Der Junge lag mit der Totenkerze in der Hand auf dem Rücken, steif wie ein Stück Holz, und röchelte, mühsam ab und zu nur noch mit dem fieberheissen Mund nach Luft schnappend.

      Es waren allerhand Menschen aus dem Dorf zusammengekommen, sie knieten um das Bett herum und beteten dem alten Kirchendiener Andreas die Worte der Litanei nach. Ihre Gesichter hatten einen strengen Ausdruck und aus ihren Augen blickte eine wie zu Stein gewordene Ergebenheit. Die kleinen Schwestern des Sterbenden schluchzten kläglich, eine schicksalsschwere düstere Stimmung lag über der vom Widerschein des gelben Totenkerzenlichts durchzuckten Stube.

      »Jesus, Maria! Jesus, Maria!« heulte Tomek auf und bohrte die wie geistesabwesenden Augen in das Gesichtchen seines einzigen Sohnes. In seiner hilflosen Verzweiflung begann er sich zuletzt das Haar zu raufen.

      »Still, Tomek, still! Dem Herrn Jesus hat es gefallen, dieses Seelchen zu seiner Herrlichkeit aufzunehmen, was kannst du, armes Wurm, dagegen tun?« beruhigte


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