Acevado - Wann bleibst du?. Jule Heer

Acevado - Wann bleibst du? - Jule Heer


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das hätte ich wirklich nicht geglaubt. Aber nun zu Ihnen ... ach, wir wollten uns ja duzen. Wie heißt ihr denn überhaupt?“

      Mum, die ein bisschen überfordert von Oscars Redeschwall zu sein schien, musste das Gesprochene erst mal verarbeiten. Doch Dad streckte sofort eine Hand aus und stellte sich vor: „Mein Name ist Owen, das“, er deutete mit einer Handbewegung auf Mum, „ist meine liebreizende Frau Evelyn und die süße Kleine dort“, jetzt zeigte er auf mich, „ist meine Lieblingstochter Amber.“

      Ich warf Dad einen vernichtenden Blick zu, den er aber nicht weiter beachtete. Er sah immer noch zu Oscar, die Hand weiterhin ausgestreckt, doch dieser schien durch ihn hindurchzustarren. „Amber ...“, hauchte der alte Vermieter bloß mit kaum hörbarer Stimme und ein Schauer lief mir über den Rücken. Was wollte der denn jetzt? Er schüttelte plötzlich heftig den Kopf und sein Blick wurde wieder klar. „Oh, entschuldige mich, Owen, Sie ... äh, du darfst mich gar nicht beachten, ich bin nur ein einsamer, alter Mann. Weißt du, meine Frau hieß auch Amber.“ Endlich packte er Dads Hand und schüttelte sie, dann grinste er verschwörerisch und zog ein blaues Band aus seiner Hosentasche, an dem ein Schlüssel baumelte. „Dann wollen wir mal schauen, wie sich Betty so gehalten hat, was?“

      Ich ging mal davon aus, dass Betty das Haus war, und konnte mir nun doch ein Grinsen nicht verkneifen.

      Mum war natürlich begeistert und ich musste zugeben: Schlecht sah Betty von innen wahrlich nicht aus. Während Mum anfing, mit Mr Lord alias Oscar über dieses und jenes zu plaudern, sah ich mich in Ruhe um.

      Direkt hinter der Haustür befand sich eine größere Eingangshalle mit dicken, verstaubten Vorhängen vor den Fenstern und gigantischen Wandgemälden. Auf der gegenüberliegenden Seite führte eine breite hölzerne Wendeltreppe nach oben, die über und über mit Schnörkeln und anderen Verzierungen versehen war. Nachdem ich einen kurzen Blick in die herrschaftlich wirkende Küche, die zwei lichtdurchfluteten Arbeitszimmer und das Badezimmer geworfen hatte, ging ich die wunderschöne Treppe nach oben und fühlte mich dabei erhaben wie eine Königin.

      In London hatten wir eine winzige Wohnung im 7. Stock gehabt, nicht, dass sie nicht schön und gemütlich gewesen wäre, aber das hier haute mich einfach um. Oben war gleich links das erste Zimmer, daneben ein weiteres Badezimmer, diesmal größer und sogar mit Badewanne. Ich konnte ein entzücktes Aufseufzen nicht vermeiden. Dann ging ich zurück in den langen Flur, der von Wandteppichen, die ebenfalls ziemlich staubig waren, geschmückt wurde. Eigentlich wollte ich mir erst noch die anderen Zimmer ansehen, doch es war, als spürte ich, dass das am anderen Ende des Flurs meines war.

      Ich lief wie ferngesteuert darauf zu, öffnete die schwere Holztür ... und atmete geräuschvoll aus. Das war es, ich würde mit allen Mitteln dafür kämpfen, dass dies mein Zimmer wurde. Das mag vielleicht ein bisschen übertrieben klingen, aber ich hätte einiges für einen solch wunderschönen, nur mir allein gehörigen Raum gegeben.

      Ich sah schon vor mir, wie ich in der Mitte zwischen den beiden monströsen Holzsäulen, die wohl das Dach stützten, mein Bett aufstellen würde, auf drei Seiten von Fenstern umgeben. Mein Schreibtisch würde unter einem von ihnen Platz finden, dem in der Dachschräge, sodass ich beim Lernen perfektes Licht von oben bekäme.

      Diese Vorstellung überwältigte mich unversehens, sodass ich völlig vergaß, dass ich eigentlich sauer auf meine Eltern war, weil sie mich gezwungen hatten, mein Leben aufzugeben. Es war klar, dass ich mich damit würde abfinden müssen, hier ein neues zu beginnen.

      *

      2

      Diese letzte Woche der Herbstferien war wie im Flug vergangen, viel zu schnell für mich, denn ich fürchtete mich vor dem ersten Tag an meiner neuen Schule in Rain Village.

      Zu Hause lief eigentlich alles bestens, auch wenn ich nur schweren Herzens bereit war, das hier schon mein Zuhause zu nennen. Ich hatte das Zimmer bekommen, es zu meinem persönlichen Raum gemacht mit all dem, was mir etwas bedeutete, und hatte mich nun doch einigermaßen gut eingelebt.

      Am Sonntag, dem letzten Tag des Im-Bett-Rumgammelns und Fernsehguckens, hatte ich mit meiner Freundin Holly, die viel zu weit von mir entfernt in London war, telefoniert. Sie hatte mich ausgequetscht, wie es nun mal ihre Art war, und danach vermisste ich sie fürchterlich.

      Heute war Montag und ich stand, die Unruhe in Person, vorm Spiegel und versuchte, etwas aus meinem Aussehen zu machen. Ich bürstete mir mehrmals nervös die schulterlangen schwarzen Haare, steckte meinen Pony weg, löste ihn wieder und flocht ihn dann doch zurück. Ich kramte meine winzigen Vorräte an Schminke heraus und entschied mich schließlich doch dagegen. Zu riskant. Wenigstens musste ich mir um die Kleidung keine Sorgen machen, denn die Schuluniform hatten wir bereits vor einigen Tagen besorgt und darin drehte ich mich nun vor dem Spiegel hin und her.

      Das sah doch einfach nicht aus!

      Stöhnend vergrub ich das Gesicht in den Händen und gab es auf, daraus würde ja doch nichts mehr werden, ich war ein hoffnungsloser Fall.

      Ich trottete schlecht gelaunt die Treppe hinunter und platzte in die Küche, wo meine Eltern in bester Stimmung am Tisch saßen und schäkerten. Mum wurde zuerst auf mich aufmerksam, sah dezent über meine miese Laune hinweg und strahlte: „Süß siehst du aus, Mäuschen. Na, komm, setz dich zu uns, damit du nicht vom Fleisch fällst in der Schule oder dich vor Hunger nicht richtig konzentrieren kannst.“

      Mein Gesichtsausdruck sprach vermutlich Bände und Dad kicherte sogleich los: „Uhhhh, wenn Blicke töten könnten ...“

      Ich holte tief Luft, um etwas zu erwidern, überlegte es mir dann aber doch anders und wandte mich von den beiden ab, um mir ein Brot zu schmieren. Egal, wie aufgeregt ich war, es war nach zwei Wochen Ferien zu dieser Uhrzeit einfach noch zu früh für mich.

      Nachdem ich mein Brot gegessen und einen ordentlichen Kaffee getrunken hatte, ging es mir in dieser Hinsicht schon etwas besser und ich verabschiedete mich mit leicht zittriger Stimme von meinen Eltern.

      „Hey, Schatz, ich kann dich auch fahren, wenn du magst.“

      „Nein, Mum, ich muss das alleine schaffen, aber danke für das Angebot!“ Damit drehte ich mich um und machte mich auf zur Bushaltestelle, die glücklicherweise gleich um die Ecke war.

      Dort standen nur ein großer, schlaksiger Typ mit einem bodenlangen Nietenmantel und einem grün gefärbten Irokesenschnitt und ein braun gebranntes Mädchen mit einer dicken Make-up-Schicht im Gesicht und langen Goldlocken. Über dem Arm der etwa Gleichaltrigen hing eine Lederhandtasche und sie kaute mit schmatzenden Geräuschen Kaugummi. Sie war mir auf Anhieb unsympathisch, und was das Schlimmste war, sie trug die gleiche Schuluniform wie ich.

      Der Bus kam und mit einem abfälligen Blick auf mich stieg die Goldlockentussi vor mir ein. Ich trottete hinterher und ließ mich auf den ersten freien Platz am Fenster fallen, bevor mich die Blicke der etwa zehn bereits anwesenden Schüler verschlingen konnten.

      Es war eine ziemliche Herumkurverei bis in die nächstgrößere Stadt, wir durchfuhren einige ähnlich große beziehungsweise kleine Dörfer wie Rain Village, die an vielen Stellen genauso aussahen. Ich dachte an Mr Lord alias Oscar, der Mum erzählt hatte, dass er seit dem Tod seiner Frau Amber in ebendieser Stadt lebte, und konnte nachvollziehen, dass es ihm schwergefallen war, nach zehn Jahren wieder in den kleinen Ort zurückzufinden. „Alles aussteigen!“, riss mich plötzlich die Stimme des Busfahrers aus meinen Gedanken.

      Ich atmete tief durch und erhob mich von meinem Sitz. Jetzt war es also so weit. Mit zittrigen Schritten verließ ich den Bus und merkte, wie mich einige der anderen Schüler argwöhnisch oder einfach nur neugierig musterten. Mein Herz klopfte wie wild und ich schaffte es einfach nicht, mich zu beruhigen. Es war doch nur eine Highschool wie jede andere auch, mit ganz normalen Leuten, also, sofern man diese Leute normal nennen konnte. Was regte ich mich denn nur so auf? Ich hatte einfach Angst, dass ich keinen Anschluss finden würde oder Ähnliches.

      Aber die Schule sah schon mal in Ordnung aus, sie war ein nicht allzu großes, altertümlich wirkendes Backsteingebäude mit


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