Der tote Zwilling. Bernd Udo Schwenzfeier
geredet, stand auf, ging zu einer Glasvitrine, öffnete deren untere Tür, nahm die angepriesene Flasche Whisky heraus, entkorkte sie und schenkte sich ein Glas voll. Er trank es in einem Zug aus, wischte sich mit der Hand über den Mund, setzte sich wieder hin und sah Manfred einen Moment lang schweigend an.
»Das verstehe ich schon, Herr Oberstleutnant, und das ist auch gut so. Aber Sie haben mir noch immer nicht meine Frage beantwortet«, sagte Manfred unbeirrt.
»Sie geben wohl nie auf, Herr Oberst? Aber gut … Alles, was ich Ihnen jetzt sage, ist geheim und darf diesen Raum nicht verlassen, und niemand, auch nicht Ihre Frau, darf jemals etwas davon erfahren. Wenn doch, wird es strafrechtliche und disziplinarische Konsequenzen nach sich ziehen. Herr Oberst, wir verstehen uns doch, oder …?«, forderte er mit Nachdruck eine Bestätigung.
Manfred hörte sehr wohl den drohenden Unterton heraus. »Kein Problem«, lenkte er sofort ein. »Also, dann erzählen Sie mal!«
»Das Gesundheitsministerium hat im Auftrage der Partei ein umfangreiches Forschungsprogramm aufgelegt mit dem Ziel, die ungewöhnlich hohe Zahl von Säuglingssterblichkeit, insbesondere bei Frühgeburten, in der DDR zu untersuchen. Die Frau wird durch den Arzt informiert, dass einer ihrer Zwillinge nicht lebensfähig war und der Fötus unbedingt wissenschaftlich untersucht werden muss, um künftige Abwehrmechanismen zu entwickeln, die das leidige Problem ein für alle Mal beseitigen können. Dazu brauchen wir natürlich entsprechende Babyleichen«, klärte Jacobi ihn ungerührt auf.
»Ich verstehe. Aber was ist, wenn die Mutter der Untersuchung nicht zustimmt?« Manfred sah Jacobi an und wartete gespannt auf dessen Antwort.«
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Unmittelbar nach der Geburt gibt es schon Mittel und Wege, die schriftliche Freigabe zu bekommen. Mehr möchte ich dazu nicht sagen«, beendete Jacobi abrupt seine Ausführungen.
Manfred spürte, dass es besser war, nicht weiter nachzufragen, um nicht noch im letzten Moment die erteilte Zustimmung zu gefährden. »Dann kann ich im Namen meiner Frau nur hoffen, dass es keine Schwierigkeiten gibt und wir bald unser Kind in den Armen halten können.«
»Das werden Sie. Darauf können Sie sich verlassen, es sei denn, es passiert bei dem Geburtsvorgang etwas Unvorhergesehenes. Damit muss man immer rechnen«, gab Jacobi zu bedenken und blickte auf seine Armbanduhr. »Ich glaube, wir haben alles Nötige besprochen, oder haben Sie noch eine Frage?«
Manfred spürte, dass Jacobi das Gespräch beenden wollte, und schüttelte den Kopf. Er konnte es kaum erwarten, Johanna von dem erfolgreichen Gespräch zu berichten, und so lächelte er still in sich hinein und stellte sich ihr glückliches Gesicht in Gedanken vor. Endlich standen sie beide ganz dicht vor der Erfüllung ihres größten Wunsches. Würde er am Ende tatsächlich wahr werden? »Herr Oberstleutnant, meine Frau und ich müssen uns bei Ihrer Dienststelle und bei Ihnen sehr bedanken, dass wir auf diesem ungewöhnlichen Wege ein Kind erhalten. Wir wissen um die Problematik dieser Aktion, und wenn ich ehrlich bin, habe ich auch einige Bauchschmerzen dabei. Meiner Frau wird es nicht anders ergehen.«
»Wir haben es uns auch nicht leicht gemacht. Aber die Lebensprognose des Säuglings wäre katastrophal, wenn er bei seiner Mutter bliebe. So hat er wenigstens die Chance, später eine konstruktive Rolle in unserer sozialistischen Gesellschaft zu spielen. Das ist doch auch etwas, oder? Das sollten Sie bei all Ihren Skrupeln nicht vergessen«, tröstete ihn Jacobi.
Manfred nickte. »Sie haben recht, das Wohl des Kindes steht im Vordergrund. Also, nochmals vielen Dank.« Mit einem festen Händedruck verabschiedeten sie sich. Manfred musste sich eingestehen, dass der Abschied wesentlich kühler ausfiel als die vorherige Begrüßung. Da hatte er dem Gefolgsmann Erich Mielkes wohl etwas zu sehr zugesetzt.
Auf der Straße winkte Manfred seinem Fahrer zu, der in seinem Dienstwagen auf einem nahe gelegenen Einstellplatz auf ihn wartete.
Feldwebel Steinke nickte, startete den dunkelgrünen Militärjeep, fuhr das kurze Stück bis zum Eingang, sprang aus dem Armeewagen und öffnete beflissen die Beifahrertür und salutierte.
»Feldwebel Steinke, halten Sie an der nächsten Telefonzelle an! Ich muss telefonieren.«
»Herr Oberst, das können Sie doch über die Freisprechanlage im Wagen tun«, erwiderte Steinke zeigte auf den Hörer unter dem Armaturenbrett.«
»Das ist privat, Feldwebel«, gab Manfred ungehalten zurück. »Und nun fahren Sie endlich los und stellen Sie nicht so viele Fragen!«
Steinke biss sich auf die Lippen und schwieg. Ein paar Nebenstraßen weiter hielt er vor einer leeren Zelle an.
»Machen Sie inzwischen den Motor aus! Es wird ein Weilchen dauern«, ordnete Manfred an und stieg aus.
Kurz entschlossen wählte er die Telefonnummer der Dienststelle seiner Ehefrau Johanna an, die als Sekretärin im Wirtschaftsministerium arbeitete. Beim ersten Mal verwählte er sich vor Aufregung und musste einen zweiten Versuch unternehmen, ehe er sie endlich an der Strippe hatte. Sie meldete sich mit ihrer warmen Stimme.
Er unterbrach sie sofort. »Hallo, Hanna, ich bin es.«
»Das ist lieb von dir, Manfred, dass du schon anrufst. Was kannst du mir denn berichten?«
»Wir haben es geschafft, wir bekommen endlich ein Kind.« Er sprudelte fast über. »Und dann auch noch einen Jungen.« Er lachte in den Hörer hinein. »Mensch, Hanna … mehr Glück kann man ja nicht haben. Jacobi hat es mir gerade bestätigt. Ich habe zwar noch nichts Schriftliches in den Händen, habe aber den Vorgang auf seinem Tisch liegen gesehen. Ein bisschen müssen wir uns aber noch gedulden. Erst im Juli wird es aller Wahrscheinlichkeit nach so weit sein. Aber das können wir ja alles später zu Hause besprechen.«
»Manfred, ist es wirklich wahr? Bekommen wir tatsächlich ein Kind? Ich kann es gar nicht glauben, ich … ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …«, stammelte sie, und er spürte, wie ihr Tränen der Freude über die Wangen liefen.
»Ich muss Schluss machen. Ich werde heute eher Feierabend machen, und dann öffnen wir eine gute Flasche Wein und feiern ein bisschen. Grund genug haben wir ja dafür.«
»Ja, Manfred, ich freue mich auch. Ich werde gleich meinen Chef fragen, ob ich eher gehen kann. Er wird wohl nichts dagegen haben. Genug Überstunden stehen ja bei mir zu Buche.
»Das mach mal. Grüß ihn von mir und lass dir irgendeinen nachvollziehbaren Grund einfallen. Aber Hanna, bitte, noch kein einziges Wort über das Kind. Zu niemandem! Wir sollten im Augenblick den Ball noch flach halten, wenn du verstehst, was ich meine?«
»Aber ja, Manfred, ich bin doch nicht von gestern«, entgegnete sie pikiert, »… du immer mit deinem Geheimhaltungsfimmel. Sollen doch alle Menschen an unserem Glück teilhaben.«
»Können Sie ja, aber nicht schon jetzt. Das mit dem Kind muss erst in ‚trockenen Tüchern‘ sein«, mahnte er sie. »Sei bitte so gut und halt dich daran. Du weißt, was auf dem Spiel steht. Das geht niemand etwas an. Zumindest jetzt noch nicht.«
»Ist ja gut, du hast ja recht«, gab sie ergeben zurück.
»Also dann tschüss, bis nachher.« Zufrieden stieg er in seinen Dienstwagen ein und ließ sich auf direktem Wege zu seiner am Treptower Park liegenden Dienststelle zurückfahren.
Als er um 15:00 Uhr die Tür seiner Wohnung in Köpenick öffnete, war Johanna bereits da. Sie hatte den Tisch im Esszimmer gedeckt, und aus der Küche zog der Duft frisch gebratenen Fleisches in seine Nase.
Sie hatte sein Kommen bemerkt und kam freudestrahlend mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. »Ich bin so glücklich, Manfred. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Sie schluchzte ergriffen und küsste ihn heftig. »Komm, erzähl mir alles«, bat sie atemlos und schob ihn in die Küche. »Ich muss noch schnell den Salat anrichten, dann können wir essen. Du hast doch Hunger, oder?«
»Hunger schon, aber nicht auf das Essen, sondern auf dich.« Er grinste, drückte sie fest an sich, hob ihren Kopf und küsste sie lang und innig. »Lass uns Schlafzimmer gehen«, flüsterte er an ihrem Ohr und schob sie sacht in die Richtung.
Ihre