Der tote Zwilling. Bernd Udo Schwenzfeier

Der tote Zwilling - Bernd Udo Schwenzfeier


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in der 19. Schwangerschaftswoche erfuhr, dass sie Zwillinge erwartete, war der Schock gewaltig. Wie sollte sie das alles nur schaffen, als alleinerziehende Mutter fünf Kinder zu versorgen, ohne Mann und ohne Beruf? Und das Geld vom Sozialamt reichte vorn und hinten nicht. Eine Abtreibung kam nicht mehr infrage, dazu war es längst zu spät. Sie erinnerte sich, dass sie damals mit Dr. Emmerich lange über das Thema gesprochen hatte. Was sollte nur aus ihr werden? Sie kam schon jetzt mit ihren drei Kindern kaum noch dazu, abends auszugehen, sich mal zu amüsieren und ihre Jugend zu genießen. Damit war es ein für alle Mal vorbei. Das konnte sie sich endgültig abschminken. Stattdessen musste sie tagsüber ihre Kinder versorgen und abends den Babysitter spielen, während ihre Freundinnen ausgingen und das Leben genossen. Dabei war sie doch erst sechsundzwanzig Jahre alt. Sie sah gut aus, und an Männern hatte es ihr nie gemangelt. Aber sie war immer wieder an die Falschen geraten. Schicke Kerle waren darunter gewesen, besonders der Letzte, der sie geschwängert hatte. Ein junger NVA-Soldat mit Namen Mike, den sie letzten Silvester auf einer Party bei Freunden kennengelernt hatte. Bei der Erinnerung an seine Küsse und neugierigen Hände überzog ein Lächeln ihr Gesicht. Er war ein verdammt guter Liebhaber gewesen, und die Nummer mit ihm sensationell. Dummerweise hatte sie die Pille vergessen, und weder er noch sie hatten ein Kondom zur Hand. Aber das war für kein Hindernis, jetzt und sofort ihr Verlangen aufeinander zu stillen. Wie Ertrinkende hatten sie sich aneinandergeklammert und sich gegenseitig die Kleider vom Leib gerissen. Die Schuld für ihre Hemmungslosigkeit gab sie später dem vielen Alkohol, den sie während der Feier über alle Maßen getrunken hatte. Ohne jeden Skrupel hatte sie mit ihm geschlafen. Nicht einmal an seinen Nachnamen konnte sie sich später erinnern. Seit diesem Tag hatte sie ihn nicht mehr wiedergesehen, und auch er hatte sich nicht gemeldet. Sie seufzte tief auf. Sie war doch noch so jung. Sollte das Leben nur noch aus Windeln waschen, Essen kochen und Kinder hüten bestehen? Ihre Schwangerschaft hatte sich verheerend auf ihre einst so schlanke und attraktive Figur ausgewirkt. Sie war ungewöhnlich dick geworden, ihre Beine stark geschwollen, und von ihrer Schönheit war nicht viel übrig geblieben. Auch verlief diese Schwangerschaft anders als die anderen drei. Sie hatte immer wieder gesundheitliche Probleme und saß ständig bei Dr. Emmerich im Wartezimmer. Abends lag sie in ihrem Bett und durchwanderte das Tal der Tränen. Und so gab sie den Zwillingen die Schuld an ihrem schlechten gesundheitlichen und psychischen Zustand und ihrer künftigen finanziellen Notlage. Aber mit Jammern und Erinnerungen an bessere Zeiten war es nicht getan. Sie versuchte, die düsteren Gedanken in die hinterste Ecke ihres Gehirns zu verbannen. Die Babys konnten schließlich nichts dafür, und sie war eine Rabenmutter, diesen unschuldigen Wesen irgendeine Schuld zuzuschreiben.

      Ihre Hoffnung auf Rückgang der Schmerzen blieb nur ein frommer Wunsch, denn die Realität war unerbittlich und ließ sich nicht verdrängen. Die nächste Schmerzwelle kündigte sich an. Wenige Minuten später brach die nächste Wehe unvermittelt über sie herein. Die Schmerzen waren jetzt noch heftiger. Sie schrie laut auf, umklammerte mit beiden Händen hilflos ihren geschwollenen Leib und begriff augenblicklich, dass sie unbedingt ärztliche Hilfe benötigte. Allein würde sie es nicht mehr schaffen, denn der Weg zu Dr. Emmerich war in ihrem jetzigen Zustand unerreichbar weit. Wenn sie schon nicht zu ihm in die Praxis gehen konnte, musste sie wenigstens anrufen und sich Rat holen, was jetzt zu tun war.

      Sie ließ sich zurückfallen, verharrte bewegungslos in dieser Lage und schloss erschöpft die Augen. Aber die Ruhe war nur trügerisch. Wie von der Tarantel gestochen fuhr sie zusammen, als sie bemerkte, dass es zwischen ihren Beinen unvermittelt nass wurde. Der Schreck, der ihr durch ihre Glieder fuhr und unbarmherzig in ihr Bewusstsein drang, war ungeheuer groß. Sie hatte nicht etwa unter sich gemacht. Das war kein Urin, der an ihren Oberschenkeln herunterlief, das war Fruchtwasser. Aber sie war doch erst in der 26. Woche? Was war in ihrem Bauch nur geschehen? Sofort meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Ihr fielen die Worte ihres Arztes ein, der sie immer wieder ermahnt hatte, solider zu leben und nicht so viel zu trinken. Die Angst vor möglichen Komplikationen wurde immer größer, und sie musste alle Kraft aufbringen, um nicht völlig durchzudrehen und den Kopf zu verlieren. Sie würde eine Frühgeburt erleiden, das war so sicher wie das Amen in der Kirche und wahrscheinlich ein oder sogar beide Babys verlieren. Und ihr wurde in diesem Moment bewusst, dass auch ihr Leben in großer Gefahr war. Sie griff sich verzweifelt an den Kopf, schrie ihre Angst heraus. Weinkrämpfe erfassten sie. Nach einer Phase der Hilflosigkeit riss sie sich zusammen und griff nach dem auf dem Couchtisch stehenden Telefon.

      Hastig wählte sie die Nummer der Praxis.

      Die Schwester stellte gleich zu Dr. Emmerich durch. Ohne sie zu unterbrechen, hörte er sich ihre Beschwerden an und antwortete ruhig und professionell. »Frau Schubert, behalten Sie bitte die Ruhe. Sie kommen jetzt nicht in meine Praxis, sondern rufen sofort die Feuerwehr. Als Grund geben Sie Komplikationen in der 26. Schwangerschaftswoche an und berufen sich auf mich. Legen Sie sich eine Windel zwischen ihre Schenkel und bleiben Sie bis zum Eintreffen des Notarztes liegen. Unmittelbare Gefahr für Ihre Babys droht meines Erachtens nicht. Bleiben Sie liegen und warten Sie auf den Notarzt! Haben wir uns verstanden?«

      »Ja, Herr Doktor«, erwiderte sie ergeben.

      »Gut, dann werde ich in der Zwischenzeit mit dem St. Franziskus-Krankenhaus in Friedrichshain Verbindung aufnehmen und Ihr Erscheinen ankündigen. Ich kenne den leitenden Oberarzt, Dr. Westhoven. Er wird sich um Sie kümmern. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«

      Damit war das Notwendige gesagt und sie legte etwas beruhigter den Hörer auf die Gabel.

      Aber was geschah in der Zwischenzeit mit ihren Kindern, die ahnungslos im Kinderzimmer spielten? Ihre acht, sechs und dreijährigen Sprösslinge konnte sie doch nicht allein lassen. Wer sollte für sie sorgen? Hastig griff sie zum Telefon. Sie musste unbedingt ihre Mutter anrufen, die nicht allzu weit in der Boxhagener Straße wohnte, und sie um Hilfe bitten. Was sollte sie tun, wenn ihre Mutter nicht zu Hause war? Ein Panikgefühl erfasste sie, aber ihre Sorge war unbegründet, denn schon nach dem zweiten Klingelton meldete sie sich, als wenn sie auf ihren Anruf gewartet hätte. Sie sprudelte förmlich über und berichtete ihrer Mutter atemlos von ihrer Malaise.

      »Ja, Christa, natürlich komme ich zu dir, aber es wird ein Weilchen dauern. Ich muss erst das Fahrrad aus dem Keller holen. Geh doch in der Zwischenzeit zu Frau Kluge und bitte sie, solange auf die Kinder aufzupassen, bis ich da bin.«

      »Danke, Mutti, danke …«, erwiderte sie atemlos. »Ja, ich werde gleich zu Frau Kluge gehen.«

      Ihre Nachbarin stellte sich sofort als Babysitterin zur Verfügung. Sie mochte Christa trotz ihres fragwürdigen Lebenswandels. Die Kinder wuchsen ohne ihre Väter auf, und nun war sie schon wieder schwanger. Wo sollte das nur hinführen? Diese Gedanken hatte Christa ihr häufiger vom Gesicht abgelesen, dennoch hatten sie einen guten Kontakt, und wann immer es nötig wurde, griff Frau Kluge ihr hilfreich unter die Arme. Dankbar fiel Christa ihr um den Hals. »Ich mache es wieder gut, Frau Kluge, das verspreche ich Ihnen. Ich werde einen schönen Topfkuchen backen, und dann trinken wir auf meinem Balkon Kaffee. Versprochen!«

      Sie hatte sich gerade wieder auf die Couch gelegt, als sie die Sirene der Feuerwehr hörte. Wenig später hörte sie schwere Schritte auf der Treppe, dann klingelte es. Mühsam erhob sie sich und schleppte sich zur Tür. Der Notarzt und zwei Sanitäter mit einer Trage in den Händen standen vor ihr.

      Während der Fahrt im Krankenwagen zum nahe gelegenen St. Franziskus-Krankenhaus in der Landsberger Allee ebbten die Schmerzen ab. Vor der Geburtsklinik erwarteten Christa zwei Pfleger mit einem Krankenstuhl und schoben sie in ein Untersuchungszimmer. Für einen Augenblick war sie allein. Was würde in den nächsten Stunden mit ihr geschehen?«, fragte sie sich mit bangem Herzen.

      Obwohl sie bereits im Krankenhaus war, kroch langsam wieder die Angst in ihr hoch, nicht nur ihren Babys könnte etwas passieren. Zu weiteren Überlegungen kam sie nicht, denn unvermittelt wurde die Tür geöffnet.

      »Frau Schubert, ich bin Schwester Bärbel. Der Doktor kommt sofort. Bis zu seinem Eintreffen werde ich schon mal Ihre Personalien aufnehmen. Nennen Sie mir bitte Ihren vollständigen Namen, Ihren Familienstand, Anzahl Ihrer Kinder, Beruf und Arbeitsstelle. Ihre Anschrift Kinzigstr. 20 a stimmt noch?«

      »Ja, Schwester. Ich bin am 18. April 1954 in Berlin geboren, habe drei Kinder, Siegfried ist acht Jahre alt, Manuela sechs


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