Der tote Zwilling. Bernd Udo Schwenzfeier

Der tote Zwilling - Bernd Udo Schwenzfeier


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etwas sagen, doch er brachte sie mit einer herrischen Armbewegung zum Schweigen.

      »Such dir endlich jemand, mit dem du reden kannst. Wenn du nur zu Hause rumhockst und dir die Kante mit dem billigen Fusel gibst, wird es nicht besser.«

      »Ach, mein Junge, mir geht es miserabel, und ich bin so allein« flüsterte sie kaum hörbar. »Ich habe Schmerzen und fühle mich einsam. Siegfried, Michael und Manuela sind fort. Sie haben mich einfach im Stich gelassen. Keiner von ihnen kommt mich mal besuchen. Ich habe doch nur dich. Andy … wenn du jetzt auch noch gehst, bist du genauso herzlos wie deine Geschwister.« Sie erhob sich ächzend aus ihrem Bett, warf sich ihren Morgenmantel über und schlurfte in die Küche.

      Er folgte ihr wie ein Hund dem Herrchen und betrachtete sie voller Mitleid, aber auch mit einer gewissen Portion Abneigung. Sie sah sich durch seine Augen: dürr, krumm, vertrocknete, faltige Haut. Ihre strähnigen, fast gänzlich grauen Haare hingen ihr wirr ins bleiche Gesicht, das von einem leichten Schweißfilm überzogen war. Die aggressive Lebererkrankung hatte in kurzer Zeit ganze Arbeit geleistet, ihre Gesundheit ruiniert und ihren Lebenswillen beinahe aufgefressen. Sie hatte in ihrem Leben viel zu viel Alkohol getrunken, der im Laufe der Jahre ihre Gesundheit zerstört und tiefe Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Trotzdem hatte sie nie damit aufgehört und die Warnungen ihrer Familie und vor allem die der Ärzte leichtfertig in den Wind geschlagen. Nun war es zu spät, und er musste hilflos mit ansehen, wie sie langsam, Tag für Tag, immer mehr verfiel. Irgendwann würde sie ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, das sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr lebend verlassen würde.

      Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, beugte sich vor, öffnete den Kühlschrank, nahm eine halb volle Flasche vom billigsten Rotwein aus dem nahen Supermarkt heraus und goss sich ein Glas ein. Gierig nahm sie einen tiefen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Andy, mein lieber Junge, ich fühle mich so schlecht, und die Rückenschmerzen machen mir wieder zu schaffen. Kannst du mir den Rücken einreiben?« Sie sah ihn bittend an.

      *

      »Auch das noch! Lass mich doch endlich in Ruhe, du alte Hexe«, murmelte er so leise, dass seine Mutter es nicht hören konnte. Verdammt, sie machte nur noch Stress. Was sollte er nur tun? Andererseits hatte sie doch nur ihn. Er war der Einzige, der ihr von ihren vier Kindern geblieben war und der zu ihr hielt, obwohl er sich längst nicht mehr sicher war, ob sie ihn um seiner selbst willen liebte oder nur kaltschnäuzig seine Hilfsbereitschaft ausnutzte, weil kein anderer zur Stelle war. »Ist ja gut, Mutti. Ich mach es«, gab er mürrisch zur Antwort und ging ins Schlafzimmer, um die Salbe zu holen.

       Sie hatte sich inzwischen ihr Nachthemd hochgezogen und sich nach vorn gebeugt. Er sah ihren knochigen Rücken vor sich und fing an, ihn widerwillig einzureiben. Die Salbe war scharf und trieb ihm die Tränen in die Augen.

      »Weißt du noch, wie du das früher als kleiner Junge getan hast und auch dein Vater, bis er uns verlassen hat?« Sie brach ab und fing zu weinen an.

      Angewidert wandte er sich ab. Verflixt, immer diese Tour. Er spürte, wie sein Zorn zunahm. Verdammte Scheiße, es war einfach nicht zum Aushalten. Seine Nerven lagen blank. Er sprang auf. »Ich kann es nicht mehr hören, Mutti«, brach es mit Urgewalt aus ihm heraus. »Das geht nun schon so viele Jahre lang. Mein Vater hat dich damals verlassen, weil du so viel gesoffen und so viel mit anderen Männern rumgehurt hast. Nur deshalb! Du allein hast Schuld an der ganzen Scheiße, vor allem daran, dass unsere Familie zerbrochen ist, niemand sonst! Und nun jammerst du ständig herum und klagst Gott und die ganze Welt an. Kapier das doch endlich und lass mich mit deinem Gesülze in Ruhe!« Er starrte in ihr wachsbleiches Gesicht. »Mein Vater kommt nicht zu dir zurück. Niemals mehr! Raff dich lieber mal auf und tu endlich etwas, anstatt nur rumzuhängen und zu saufen. Davon wird jedenfalls nichts besser! Durch dein ständiges Gejammer nimmst du mir die Luft zum Atmen! Ich halte das nicht mehr aus!« Er rang nach Atem.

      Was war nur aus der einstmals attraktiven Frau geworden, die er in seiner Jugend so bewundert hatte? Wegen ihrer maßlosen Trunksucht hatte sein Vater schon vor Jahren das Weite gesucht. Der war wenigstens konsequent gewesen und nicht so ein Jammerlappen wie er, der bei jeder ihrer Shows Gewissenbisse bekam. Er hatte es so verdammt satt, ihr jeden Tag Gesellschaft zu leisten, während draußen das Leben tobte und am ihm vorüberzog. Immer wieder hatte er seinen Kumpels Fred und Kevin absagen müssen, die dann ohne ihn die Disco in der nahe gelegenen Kulturbrauerei besuchten und sich prächtig amüsierten. Aber heute hatte er die Schnauze gestrichen voll.

      Lass sie jammern, lass sie heulen, hatte er sich voller Wut gesagt, hör nicht auf ihr Gezeter. Er musste raus aus dieser engen Wohnung, irgendwo hin, nur weg auf die Straße und in andere Gesichter sehen.

      Seine Mutter stand dem heftigen Gefühlsausbruch fassungslos gegenüber. So wütend hatte sie ihn selten erlebt. Abwehrend hob sie die Hände vor ihren Körper. »Aber Andy, was ist denn nur in dich gefahren? Ich … ich … ich verstehe dich nicht.«, stammelte sie und sah ihn aus tränennassen Augen an.

      Er warf ihr einen letzten Blick zu, winkte resignierend ab, drehte sich um und verließ fluchtartig die Wohnung. Kaum hatte er den Hinterhof betreten, um sein Fahrrad aus dem Keller zu holen, tauchten bereits die ersten Gewissensbisse auf. War es richtig, sie so mir nichts, dir nichts, allein zu lassen? Sie hatte in den vergangenen Jahren so viel Schweres durchmachen müssen. Noch immer hatte sie es nicht verkraftet, dass ihr letzter Liebhaber sie vor ein paar Monaten Knall auf Fall verlassen hatte, ihr ihre Arbeitsstelle bei einem großen Supermarkt gekündigt worden war und sie zu allem Überfluss auch noch mit knapp sechsundvierzig Jahren an einer schweren Leberentzündung erkrankte. Mit aller Kraft, die noch in ihrem ausgemergelten Körper steckte, klammerte sie sich an ihn. Er war, wie sie ihm immer wieder gebetsmühlenartig erklärte, ihr letzter Halt und nahm ihm dadurch immer wieder die Chance, sich endlich von ihr zu lösen und ein eigenständiges Leben zu beginnen.

      Trotz seiner zweiundzwanzig Jahre blieb er in wahrer Vasallentreue bei ihr, dabei fühlte er sich viel zu jung, um als abendlicher Gesellschafter ständig seine Freizeit mit ihr zu vertrödeln. Trotz aller Mühen schaffte er es aber einfach nicht, sich von ihr zu trennen. Irgendein unsichtbares Band zwischen ihnen verhinderte das. Mehrmals hatte er sich fest entschlossen, sich endlich eine eigene Bude zu suchen. Angebote gab es genug, und er verdiente nicht zu schlecht, um sich eine bescheidene Eineinhalbzimmerwohnung leisten zu können. Er hatte zwar keinen Beruf erlernt, aber dafür war er geschickt und tüchtig und hatte durch die Vermittlungen seines Freundes Kevin Baumann auf einem Autoschrottplatz in Oberschöneweide Arbeit gefunden. Zusammen mit Kevin schlachtete er die aufgekauften Unfallfahrzeuge aus.

      Doch jedes Mal brach seine Mutter theatralisch zusammen, wenn er ihr von einem günstigen Wohnungsangebot berichtete. Besonders wütend hatte es ihn gemacht, dass sie sich seiner ersten festen Freundin Marlen so ablehnend gegenüber gezeigt und immer wieder keifend behauptet hatte, sie wäre nicht der richtige Umgang für ihn. Das war auch einer der Gründe dafür gewesen, dass seine Beziehung zu ihr letztendlich zerbrochen war. Es gab einen heftigen Krach mit seiner Mutter, und ihre Krokodilsträhnen hätten einen ausgetrockneten Waldsee füllen können.

      Seine Erregung hatte immer mehr zugenommen, sein Kopf schien zu platzen, und in seinem Bewusstsein hatte sich inzwischen ein einziger Gedanke eingenistet, der ihm den Befehl gab: »Du musst es wieder tun, jetzt sofort! Warte nicht länger!«

      Verzweifelt schüttelte er den Kopf, aber es hatte keinen Zweck, sich gegen dieses Gefühl zur Wehr zu setzen, das ihn wieder einmal wie eine Sturmflut zu überrollen schien. Es war ein innerer Zwang, der sein ganzes Fühlen und Denken dominierte. Machtlos spürte er, wie die nächste Welle, die ihn überflutete, seine letzten Skrupel fortspülte. Er musste sich abreagieren, und er wusste auch schon, wie. Ohne lange zu überlegen, fuhr er in Richtung Volkspark Friedrichhain davon.

      *

      Franziska verließ gegen 20:45 Uhr nach einem hektisch verlaufenen Elternabend frustriert die Grundschule in der Mollstraße nahe dem Volkspark Friedrichshain. Die einsetzende Dämmerung hatte bereits den Tag verdrängt. Der Himmel hatte sich mit dunklen Wolken bezogen, es sah nach Regen aus. Um vor dem ersten Guss ihre in der Nähe liegende Wohnung in der Hans-Otto-Straße zu erreichen, entschloss sie sich entgegen ihrer sonstigen


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