Der tote Zwilling. Bernd Udo Schwenzfeier
denn mit mir besprechen?«
»Gedulden Sie sich bitte noch einen Augenblick, bis der Doktor kommt.«
Nach schier endloser Zeit öffnete sich die Tür, und der Arzt trat in den Aufwachraum. Er zeigte ein besorgtes Gesicht, zog einen Stuhl zu ihrem Bett heran, setzte sich, ergriff ihre Hände und sah ihr ins Gesicht.
Schlagartig erfasste sie eine innere Unruhe. Sie spürte, dass irgendetwas mit ihren Zwillingen nicht in Ordnung war. Die Spannung in ihr nahm merklich zu und verwandelte sich langsam in Angst.
»Frau Schubert …« Dr. Westhoven machte eine kleine Pause. »Ich muss Ihnen eine traurige Nachricht überbringen. Sie müssen jetzt sehr stark sein. Einer Ihrer Zwillinge hat es leider nicht geschafft. Es war ein Junge, und seine Atmung hat versagt. Die Lunge war einfach noch zu schwach. Der Kleine ist kurz nach der Geburt gestorben. Mit einem Gewicht von knapp 1100 Gramm war er nicht lebensfähig. Es tut mir und allen an der Geburt beteiligten Ärzten und Schwestern sehr leid«, sagte er bedauernd und tätschelte tröstend ihre Hände.
Sie sah ihn ungläubig an. Hatte sie richtig gehört? Einer ihrer Zwillinge hatte die Geburt nicht überlebt? Sie durchlitt ein Wechselbad der Gefühle. Tiefe Trauer, aber auch eine winzige Spur der Erleichterung wechselten sich ab. Trotz aller Zwiespältigkeit, die in ihr war, traf sie der Verlust dennoch unvermittelt heftig, mehr, als sie es je vermutet hätte. Für einen Augenblick vergaß sie die ungewollte Schwangerschaft, die ganzen Strapazen während der vergangenen sechs Monate und die für sie vor der Operation düstere Lebensprognose, künftig mit fünf Kindern und ohne einen Ehemann klarzukommen. Sie war nur noch eine verzweifelte Mutter, die von dem Schmerz über den Verlust eines ihrer Babys übermannt wurde. Ein heftiger Weinkrampf erfasste sie, und sie drehte tränenüberströmt ihr Gesicht zur Seite.
»Und wie geht es meinem anderen Baby?«, fragte Christa mit banger Stimme, nachdem sich einigermaßen beruhigt hatte. Sie wagte nicht, dem Arzt ins Gesicht zu schauen.
»Es ist ebenfalls ein Junge, und es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Er befindet sich im Brutkasten. Soweit wir feststellen konnten, arbeiten alle Organe normal. Aber er ist noch sehr schwach. Bei einem Gewicht von knapp 1300 Gramm auch nicht weiter verwunderlich. Sie können nachher zu ihm.«
Sie nickte dankbar. »Wenigstens einer hat es geschafft. Herr Doktor, ich möchte noch einmal mein totes Baby sehen und mich wenigstens von ihm verabschieden.«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Das wird leider nicht mehr gehen, Frau Schubert.«
»Warum denn nicht?«
»Weil es nicht mehr hier ist?«
»Wieso? Ich … ich verstehe nicht.«
»Ich kann Ihnen das erklären.«
»Wo ist es denn jetzt? Ich habe ein Recht, es zu sehen, Herr Doktor«, sagte sie mit Nachdruck. Dabei konnte sie nicht verhindern, dass ihr Tränen die Wangen hinunterliefen.
»Im Prinzip schon, aber nicht in diesem Fall.«
»Wieso?«
»Weil Sie bereits schriftlich zugestimmt haben, dass das Neugeborene zu wissenschaftlichen Zwecken untersucht werden kann, um die in der DDR leider noch immer herrschende hohe Säuglingssterblichkeit zu verringern. Sein kleiner Leichnam ist bereits auf dem Weg zur Charité.«
»Das muss ein Irrtum sein«, stieß sie erregt hervor. »Ich habe nichts unterschrieben.«
Doktor Westhoven hob abwehrend die Hände. »Doch, doch, liebe Frau Schubert, Sie haben es getan. Bitte beruhigen Sie sich. Wenn Sie es nicht glauben, zeigen wir es Ihnen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich Schwester Bärbel zu. »Schwester, holen Sie bitte das Formular und legen Sie es Frau Schubert vor.«
»Sofort, Herr Doktor.« Sie eilte hinaus und kehrte wenig später mit einem Formular in der Hand zurück. »Hier, sehen Sie. Sie haben einer zur Verfügungsstellung ihres toten Säuglings zu wissenschaftlichen Zwecken zugestimmt.«
Ungläubig blickte Christa auf das Formular und auf ihre Unterschrift. Es war zweifellos ihre. Da gab es nicht zu deuteln. Aber Teufel noch mal, wie kam sie auf das Formular? Sie konnte sich nicht im Entferntesten daran erinnern, irgendetwas unterschrieben zu haben. »Wann soll ich das denn unterschrieben haben?«, fragte sie voller Argwohn.
»Aber Frau Schubert … Im Aufwachraum natürlich. Sie waren hellwach, und der Doktor war sogar Zeuge«, wiegelte Schwester Bärbel ab.
»Das stimmt nicht. Ich habe nichts unterschrieben«, protestierte Christa.
»Und wie kommt dann Ihre Unterschrift auf das Formular?«, fragte Doktor Westhoven mit vorwurfsvollem Unterton in der Stimme, »oder bestreiten Sie etwa, dass es Ihre ist?«
»Nein, nein, das nicht. Aber ich kann mich nicht daran erinnern. Ich hätte einer Untersuchung meines toten Babys niemals zugestimmt. Ich will nicht, dass es in alle Einzelteile zerschnitten wird.«
»Das tut mir sehr leid, aber dazu ist es jetzt zu spät. Sie hätten einer Untersuchung im Übrigen nicht zuzustimmen brauchen. Ihnen wäre durch eine Weigerung kein Nachteil entstanden. Es ist alles freiwillig geschehen. Aber mit Ihrer großherzigen Tat ersparen Sie vielleicht einer ganzen Reihe von Müttern gleiches Leid. So müssen Sie es auch einmal sehen. Das alles geschieht zum Wohle unserer sozialistischen Volksgemeinschaft«, dozierte Dr. Westhoven und vermied es, ihr in die Augen zu schauen.
Christa sah ein, dass die Fakten gegen sie sprachen. Enttäuscht ließ sie den Kopf sinken. Ihr Widerstand erlahmte, doch dann kehrten Erinnerungsfetzen zurück. Wie durch dichten Nebel sah sie plötzlich eine Schwester neben sich, die ihr einen Stift in die Hand drückte und sie zu einer Schreibunterlage führte. Sie atmete tief durch. Nun war sie sich sicher, dass ihr Protest berechtigt war. Sie hatten ihre Benommenheit skrupellos ausgenutzt, um an eine Babyleiche heranzukommen. Das war ein abgekartetes Spiel, dem sie nichts entgegensetzen konnte. Resignierend gab sie auf. »Wahrscheinlich habe ich das in der Aufregung vergessen.«
»Liebe Frau Schubert, so wird es sein. Aber jetzt kümmern Sie sich lieber mit vollem Einsatz um ihren anderen kleinen Sohn. Der braucht Ihre ganze Liebe und Fürsorge. Ich muss mich jetzt leider von Ihnen verabschieden. Andere Frauen im Kreißsaal brauchen dringend meine Hilfe«, sagte der Doktor und gab ihr die Hand. »Ich wünsche Ihnen und Ihrem Sohn alles Gute. Haben Sie sich schon einen Namen für ihn ausgedacht?«
Christa nickte erstickt. »Ja, er soll Andreas heißen.«
»Hübscher Name …« Doktor Westhoven nickte ihr noch einmal aufmunternd zu, tätschelte ihre Schulter und verließ eilig das Zimmer.
Schwester Bärbel trat an ihr Bett und tätschelte ihr die Hand. »Mein Beileid«, sagte sie. »Ich weiß, dass es sehr schwer für Sie ist, aber ich habe hier etwas, das Ihnen vielleicht neuen Mut geben könnte.«
Unter Tränen sah Christa zu ihr auf. Was wollte diese falsche Schlange noch von ihr?
Die Schwester reichte ihr einen Zettel. »Ich habe Kontakt mit dem Jugendamt aufgenommen. Ihnen ist es gelungen, den Vater Ihrer Babys zu ermitteln. Nehmen Sie Kontakt zu ihm auf, vielleicht haben Sie zwar einen Sohn verloren, gewinnen dafür aber einen Vater.«
Das war zu viel für Christa. Sie brach in haltloses Schluchzen aus. Wie sollte ein blöder Kerl ihr das Kind ersetzen? Was dachte sich diese dumme Kuh? Sie grub ihr Gesicht in die Kissen, damit sie nicht mehr hören musste, was die Schwester ihr noch über alleinstehende Frauen mit vier Kindern und deren Chancen im Leben predigte …
3.
Donnerstag, 18. Juli 2002
Gubener Str. 28, 10243 Berlin, 2. Stock, Wohnung von Christa Schubert und ihrem Sohn Andreas
»Geh nicht schon wieder aus dem Haus und lass deine arme, alte, kranke Mutter allein.« Christa sah Andreas bettelnd an.
»Mutti, immer dieses Gejammer, wenn ich mir mal erlaube, das Haus zu verlassen. Ich bin jung, ich will Spaß haben. Deshalb treffe ich mich heute endlich wieder mal mit meinen