Der tote Zwilling. Bernd Udo Schwenzfeier

Der tote Zwilling - Bernd Udo Schwenzfeier


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verschieben wir auf nachher. Wir haben noch genug Zeit, sonst brennt uns noch das Fleisch an. In Ordnung?«

      Er zuckte enttäuscht die Schultern und nickte. Sie setzte sich wieder, und ihr Blick hing an seinen Lippen, als er ihr von dem schicksalhaften Gespräch mit dem Stasimann Jacobi berichtete.

      »Ich bin so glücklich, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Endlich bekommen wir ein Kind, und endlich sind wir eine richtige Familie.« Sie strahlte. »Schade nur, dass wir dann die Wohnung wechseln müssen.«

      »Das stimmt, ich wäre gern hier wohnen geblieben«, erwiderte er, stand auf, öffnete die Balkontür und trat hinaus. Er ließ seinen Blick über die träge dahinfließende Spree mit ihrem gepflegten, parkähnlichen Uferstreifen schweifen. »Dieser eindrucksvolle Ausblick wird mir bestimmt fehlen, aber vor allem diese schöne Vierzimmerwohnung. Aber die tausche ich gern gegen ein Kind ein.« Er lächelte versonnen. Plötzlich wurde er ernst. »Hanna, über eines müssen wir uns im Klaren sein. Egal, was passiert, der Junge darf niemals erfahren, woher er tatsächlich stammt und wer seine leiblichen Eltern sind. Er soll für immer denken, dass wir es sind. Kannst du mir das hoch und heilig versprechen, und vor allem, kannst du mit diesem Geheimnis leben?«

      Sie überlegte einen Moment. »Ja, Manfred, ich verspreche es dir«, antwortete sie mit fester Stimme. »Von mir wird er nie ein Sterbenswörtchen erfahren.«

      Er sah sie innig an, ergriff ihre Hände und streichelte sie zart. »Ich danke dir, Hanna. Mir fällt ein Stein vom Herzen, das kannst du mir glauben.«

      »Das ist ganz in meinem Sinne«, erwiderte sie. »Aber jetzt sollten wir essen. Mein Magen knurrt gewaltig, und der Salat muss noch schnell fertig werden. Mach schon mal den Herd aus, sonst brennen die Koteletts noch an.«

      Wenig später saßen sie im Esszimmer. Er öffnete eine Flasche Rotwein, die er vor Kurzem bei einem Pistolenwettbewerb mit anderen Offizieren seiner Dienststelle gewonnen hatte, und goss die beiden kristallenen Gläser voll, die noch von seiner Großmutter aus Schlesien stammten. Hell und zart war der Klang, als sie die Gläser gegeneinanderstießen und sie sich dabei tief in die Augen sahen. Der Wein schmeckte köstlich.

      »Johanna Opitz, ich liebe dich!«, sagte er, als er das Glas wieder abgestellt hatte.

      »Ich dich auch«, hauchte sie und spitzte die Lippen zu einem Kuss.

      »Wie soll denn unser Sohn heißen?«, fragte er sie unvermittelt. Hast du dir schon einen Namen ausgesucht?

      »Natürlich!«

      »Dann lass mal hören, du beste aller Ehefrauen.«

      »Was hältst du von Markus?« Sie sah ihn erwartungsvoll an.

      »Prima, der gefällt mir ausgezeichnet«, entgegnete er spontan. »An den Namen könnte ich mich gewöhnen. Ja …«, er überlegte kurz, »den können wir nehmen. Ich bin einverstanden.«

      Sie strahlte ihn an. »Das ist heute ein wundervoller Tag für uns. Endlich werden wir eine richtige Familie sein. Ich bin sehr glücklich.«

      »Und ich erst«, ergänzte er lächelnd.

      Sie tranken ein weiteres Glas. Die Stimmung war gelockert, und er genoss sie in vollen Zügen. Hanna hingegen wurde immer stiller und nachdenklicher, wandte sich schließlich ab und schaute wortlos aus dem Fenster.

      »Du bist so still. Was ist denn los?«, fragte er sie besorgt.

      »Ja, Manfred, das stimmt leider. Mir ist da plötzlich ein Gedanke gekommen. Ich muss immer wieder an die Mutter der Zwillinge denken, von der wir unser Kind bekommen werden. Irgendwie ist das doch grausam. Wird sie die Wegnahme ihres Kindes so einfach verkraften können? Was gaukeln ihr die Ärzte da nur vor? Und hinter allem steht die allmächtige Staatssicherheit. Das bereitet mir erhebliches Kopfzerbrechen. Kannst du das nicht verstehen? Wir bauen unser Glück auf dem Unglück eines anderen Menschen auf. Ich spüre jetzt schon deutlich mein schlechtes Gewissen.«

      Er stand auf und ging wortlos im Zimmer umher. Ihre plötzliche Reaktion hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt. So klar hatte sie sich bisher noch nie über das Thema ausgelassen. Und wenn er ehrlich war, hatte er sich mit dieser Problematik auch noch nicht richtig befasst, sondern die aufkommenden Gedanken immer möglichst schnell verdrängt. Zu deutlich hatte die Euphorie über die Erfüllung ihres großen Wunsches alle anderen moralischen Bedenken überdeckt. Hanna hatte es genau auf den Punkt gebracht. Es war im eigentlichen Sinne eine ungeheuerliche, menschenverachtende, von der Stasi gelenkte Aktion, und es war größtes Unrecht, dass sie von nun an ihr ganzes Leben lang begleiten würde. Hoffentlich würden sie daran nicht zerbrechen. Schließlich blieb er vor ihr stehen, umarmte sie und zog sie zu sich hoch. »Hanna …«, sagte er und sah ihr ernst ins Gesicht. »Ich habe mir bisher nicht viele Gedanken darüber gemacht, und wenn welche kamen, habe ich sie verdrängt. Das war ein großer Fehler.« Er stöhnte tief auf und senkte den Kopf. »Die Freude über die Zusage hat alles andere überdeckt. Aber du hast recht. Wir müssen uns alle Mühe geben und unseren Jungen zu einem liebenswerten, toleranten Menschen erziehen. Damit können wir unsere Mitschuld zwar nicht tilgen, aber durch unsere Liebe zu ihm ein wenig mindern.«

      Sie sah ihn mit Tränen in den Augen an. »Ja, das müssen wir tun. Markus soll es gut bei uns haben. Schon allein deshalb darf er nie etwas über seine tatsächliche Herkunft erfahren. Komm, lass uns das Geschirr in die Küche tragen«, bat sie ihn. »Ich bin müde und lege mich für eine halbe Stunde auf die Couch.«

      »Gut, mach das. Und ich werde mich mal um den Defekt an der Waschmaschine kümmern«, erwiderte er in einem Anflug von Resignation. Er gab ihr noch einen Kuss und folgte ihr in die Küche. Das Schlafzimmer spielte bei dieser gedrückten Stimmung keine Rolle mehr.

      2.

      Montag, 14. Juli 1980

      Ost-Berlin/DDR, Friedrichshain, Kinzigstr. 20 a, Gartenhaus, 3. Stock links, Wohnung von Christa Schubert

      Christa spürte erneut einen heftigen Krampf im Unterleib. Bereits seit den Morgenstunden waren sie in immer kürzer werdenden Abständen aufgetreten und hatten an Intensität zugenommen. Beunruhigend war, dass der letzte erst vor rund zehn Minuten abgeklungen war. Was sollte sie nur tun? Dr. Emmerich anrufen und ihn um Rat fragen? Der würde sie sicher wieder nur mit Vorwürfen überhäufen und sagen: »Frau Schubert, trinken Sie nicht so viel Alkohol, und vor allem rauchen Sie nicht in der Schwangerschaft. Schonen Sie sich! Eine Zwillingsschwangerschaft ist schließlich kein Pappenstiel. Das müssten Sie doch als dreifache Mutter mittlerweile längst wissen. Legen Sie sich hin und entspannen Sie sich.«

      Sie mochte diesen Quacksalber nicht sonderlich, aber was sollte sie jetzt tun? Schmerztabletten nehmen? In ihrem Zustand? Nein, das war nicht die Lösung. Sie musste mit Medikamenten äußerst vorsichtig sein, weil sie schon bei ihrer letzten Schwangerschaft 1977 mit ihrem Sohn Michael einige Komplikationen zu überstehen hatte. Aber gab es eine Alternative? Sie brauchte nicht lange zu überlegen. Sie musste unbedingt noch heute in die Praxis, um sich untersuchen zu lassen. Nur er konnte die Ursache der Schmerzen herausfinden. Dr. Emmerich war der einzige Frauenarzt weit und breit, und seine Praxis war bequem zu Fuß in etwa zehn Minuten zu erreichen. Sie seufzte tief auf und legte sich auf ihre Couch, schob sich zur Entlastung noch ein Kissen unter die Beine, schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen.

      Aber die innere Unruhe ließ nicht nach, weil sie ganz tief in ihrem Innern längst ahnte, dass das keine x-beliebigen Magen- oder Darmkrämpfe, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach Wehen waren, die ihr jetzt bereits im sechsten Monat so schwer zu schaffen machten. Durch ihre drei vorherigen Schwangerschaften war sie erfahren genug, um die Situation richtig einschätzen zu können. Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr lösten sich ihre Zweifel in Luft auf, dass sie sich irren könnte. Immer wieder diese Zwillinge. Verdammt, sie machten also schon wieder Ärger. Dabei hatte sie die Schwangerschaft von Anfang an nicht gewollt und sich bald entschlossen, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Aber dann wurde sie von ihrer Familie, allen voran ihre Mutter, überredet, es nicht zu tun. Alle versprachen ihr vollmundig Unterstützung in allen Lebenslagen, und ihre Mutter hatte sie in den Arm genommen und ihr mit dem Spruch Mut gemacht:


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