Der tote Zwilling. Bernd Udo Schwenzfeier
und zwar psychologischen, Grund geben müsse.
Er hielt die These des Arztes für ziemlich gewagt, der behauptet hatte, der Täter würde sie auch deshalb anziehen, um sich nicht selbst zu beschmutzen. Das sei aber nur im übertragenen Sinne gemeint, wie er ihm später anlässlich eines Gesprächs erklärte. Der Täter sorge damit für Distanz zum Opfer, weil er sich durch die Tat im eigentlichen Sinne an jemand anderes rächen wolle. Auch das übereinstimmende Alter der Opfer ließ den Schluss zu, dass es sich bei dem Täter um jemand handeln müsse, der durch die Taten seine Geringschätzung und Verachtung älteren Frauen gegenüber auslebe, und ihnen durch die Vergewaltigung kurzfristig zeigen wolle, dass er jemand sei, der uneingeschränkte Macht über sie besitzt und sie beliebig beherrschen könne, wobei der Orgasmus eine zweitrangige und demnach untergeordnete Rolle spiele. Dafür sprach auch die Tatsache, dass er immer wieder Schwierigkeiten hatte, zum Samenerguss zu kommen. Kurzum, Dr. Gregorius vertrat ferner die Ansicht, dass es sich um das Ausleben frühkindlich aufgestauter Aggressionen eines erwachsenen Mannes handeln könne, der in seiner Jugend von seiner Mutter lieblos und kaltherzig und vielleicht sogar mit großer körperlicher Strenge erzogen worden war und bei dem sich mit der Zeit ein so großes Hass- und Abneigungspotenzial aufgebaut hatte, das der gelegentlichen, plötzlichen Entladung bedürfe, und zwar immer dann, wenn es unmittelbar zuvor durch eine heftige verbale Auseinandersetzung mit ihr zu einer psychischen unerträglichen Stresssituation gekommen war. So missbrauche und demütige er nach der These des Polizeipsychologen die einzelnen Frauen stellvertretend für das für ihn unangreifbare, tatsächliche Opfer, aller Wahrscheinlichkeit nach seine Mutter, um all seine hilflose Wut und Widerwillen abzureagieren, die sich seit frühester Kindheit gegen sie aufgestaut hatten. Mit dieser These hatte sich der Facharzt ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt. Aber gut, nun galt es, diese Theorie zu beweisen und den Täter zu schnappen. Dann würde sich schon noch herausstellen, welche tatsächlichen Beweggründe und Motive ihn dazu getrieben hatten, diese abscheulichen Taten zu begehen.
Eine weitere Hürde tat sich auf, als nach umfangreichen Ermittlungen feststand, dass es keine Gemeinsamkeiten unter den Opfern gab. Sie kannten sich nicht, hatten unterschiedliche Berufe, keine gleich gelagerten Interessen, und vor allem hatte sie unterschiedliche Lebensentwürfe. Eines aber war auffällig. Alle Opfer wohnten in der näheren Umgebung der jeweiligen Tatorte. Da der Täter in jedem Fall ein Fahrrad benutzt hatte, war davon auszugehen, dass er nicht unmittelbar im Zentrum der Stadt wohnhaft war.
Die erste Tat hatte der Unbekannte bereits vor zwei Jahren am 14. Juni 2000 im Volkspark Friedrichshain verübt. Der mit einer Sturmhaube maskierte Täter zwang in den Abendstunden eine 45-jährige Frau unter Vorhalt eines Messers zum Oral- und Analverkehr. Er biss der sich heftig wehrenden Frau mehrmals in beide Brüste und fügte ihr stark blutende Verletzungen zu. Danach entstand eine Pause von fast drei Monaten, bis er erneut am 26. September, diesmal im Tiergarten zuschlug. Bereits am 17. Oktober, nur drei Wochen später, überfiel er eine Frau im Volkspark Prenzlauer Berg und setzte zum ersten Mal ein Klappmesser bei dem sich erbittert wehrenden Opfer ein, um seinen Widerstand zu brechen, und fügte ihm an beiden Unterarmen tiefe Schnittwunden zu. In den nächsten sechs Monaten tat sich nichts, und es keimte die leise Hoffnung auf, dass die Serie aus irgendeinem Grunde abgerissen war. Vielleicht war der Täter weggezogen, hatte eine Gefängnisstrafe zu verbüßen oder sogar eine Therapie gemacht. Aber alle Spekulationen machte der Täter mit seiner Tat am 10. April 2001 zunichte, als er in den späten Abendstunden im Monbijou-Park nahe der Spree und dem »Hackeschen Markt« eine weitere Vergewaltigung beging. Das Opfer war eine 44-jährige Touristin aus Paris, die sich nichts ahnend für ein paar Minuten auf eine Parkbank gesetzt hatte, um sich von den Strapazen ihrer Entdeckungstour durch die City Berlins zu erholen.
Am 28. September 2001 überfiel der Täter eine 42-jährige Krankenschwester im Volkspark Friedrichshain, die ihren Nachhauseweg vom Krankenhaus an der Landsberger Alle zu ihrer Wohnung in der Friedenstraße durch den Park abkürzen wollte. Er zwang die Frau äußerst brutal zum Oral- und Analverkehr, biss ihr in die Brüste und raubte ihr eine Goldkette. Sie musste wegen ihrer Verletzungen stationär in ein Krankenhaus aufgenommen werden und war mehrere Wochen lang nicht vernehmungsfähig.
Robert erinnerte sich gut an die Anfänge dieser bisher einmaligen, an Brutalität nicht zu überbietenden, üblen Straftatenserie. Schon nach der zweiten Tat hatte er beschlossen, eine kleine Soko von drei Beamten zu bilden, um dem offensichtlich psychisch gestörten Triebtäter Einhalt zu gebieten. Die Leitung legte er in die Hände der erfahrenen 39-jährigen Oberkommissarin Barbara Büttner, die bereits seit über zehn Jahre in seinem Kommissariat erfolgreich arbeitete. Ihr zur Seite standen die beiden jungen Kommissare Rainer Langner und Thomas Herzberg, die fortan mit Hochdruck an der Aufklärung dieser aufsehenerregenden Serie arbeiteten. Aber es war wie verhext. Trotz einiger Fahndungsaufrufe in den Medien und im Fernsehen gab es keine konkrete Spur. Obwohl die Beschreibung des Täters in wesentlichen Punkten mit den Aussagen aller Opfer übereinstimmte, war sie zu allgemein und eignete sich nicht zu seiner Identifizierung in den entsprechenden Täterdateien der bundesweiten Fachdienststellen der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamtes. Die Ermittlungen nach der Quelle der von ihm zur Tat benutzten Fahrräder waren überwiegend erfolgreich verlaufen. Er hatte die Räder, die zu Dutzenden vor S- oder U-Bahnhöfen der Innenstadt abgestellt waren, ein oder mehrere Tage vor seinen sexuellen Überfällen entwendet.
Offensichtlich hatte er damit Vorsorge getroffen, um bei einem erneuten Wutanfall sofort auf ein Fahrrad zurückgreifen zu können, eine wesentliche Voraussetzung für die Begehung einer weiteren Tat.
Die Diebstahlanzeigen der Eigentümer befanden sich bei den Akten. Ihre vorsorglichen Überprüfungen ergaben, dass sie alle für die jeweiligen Tatzeiten ein Alibi vorweisen konnten. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte der unbekannte Täter mit einem kleineren Bolzenschneider die Fahrradschlösser ohne großes Aufsehen in Sekundenschnelle geknackt und war anschließend mit dem Rad in aller Ruhe davongefahren. Das waren auch die ersten Ansatzpunkte, die seine drei Beamten verfolgten. Die örtlichen Fahndungsgruppen der Schutzpolizei kontrollierten verstärkt die einschlägigen Bahnhöfe und deren Umgebung, an denen erfahrungsgemäß tagsüber die Fahrräder der Fahrgäste in großer Zahl angeschlossen waren. Aber wegen der weit auseinanderliegenden Tatzeiten war eine durchgängige Observation der infrage kommenden Orte für längere Zeiträume nicht möglich.
Ermittlungen bei der BVG, der S-Bahn und der Taxiinnung blieben erfolglos. Niemand vom befragten Personal konnte sich zur fraglichen Tatzeit an einen Fahrgast erinnern, auf den die zugegebenermaßen nicht sehr detaillierte Beschreibung zutraf. Es war frustrierend. Noch gab es nichts außer 1467 Seiten akribisch geführter Akten, schön sauber in sieben Aktenordnern abgeheftet. Dreizehnmal hatte dieser Unhold zugeschlagen und Frauen auf das Brutalste vergewaltigt, sie zum Teil erheblich durch Schläge und Bisse verletzt. Er wagte überhaupt nicht daran zu denken, dass der Unbekannte irgendwann, heute, morgen oder in vier Wochen wieder zuschlagen könnte. Während er hier saß und sich den Kopf zerbrach, schlich dieses menschliche Monster möglicherweise durch die Gegend, um sich erneut ein Opfer auszusuchen. Vielleicht hatte er es auch schon im Visier, eine kaum ertragbare Vorstellung. Wie sollte er dem Opfer gegenübertreten und ihm seine bisherige Erfolglosigkeit erklären? Er schüttelte wütend seinen Kopf und starrte aus dem Fenster auf den Hof hinunter, auf dem, schön in Reihe und Glied, die Dienstwagen abgestellt waren. Es war ein milder Sommertag, und er hörte die Geräusche der Stadt, die durch das offene Fenster drangen. Sein Blick schweifte für einen Moment gedankenverloren durch den Raum und blieb an seiner Wanduhr hängen, einem Geschenk seiner Gewerkschaft zum 25-jährigen Dienstjubiläum. Es war 22:15 Uhr. Seine Spätschicht war bald vorüber, und er sehnte sich nach einer Flasche Bier, die er auf seinem Balkon gegenüber einer Parkanlage am Rande der Stadt in aller Ruhe trinken würde. Katharina, seine Frau, war nicht zu Hause. Sie war Stationsärztin in der Charité auf der Säuglingsstation und schob wieder einmal Nachtdienst.
Aber alles Klagen und Jammern half nichts. Er musste mit seinen Leuten endlich den lang ersehnten Durchbruch schaffen. Nur das zählte. Sie mussten diesem Sexmonster endlich das Handwerk legen, doch dazu benötigte er eine einzige brauchbare Spur. Woher nehmen und nicht stehlen? Die Realität war grausam, und doch hoffte er mit heißem Herzen, dass ihm Kommissar Zufall zu Hilfe kam und ihm endlich einen konkreten Hinweis lieferte.
Er war aber auch ehrlich genug,